Brief an die Tänzerin

[287] 1. Juli


Liebe Frau Grete!


Sie werden mich selbstverständlich für verrückt halten. Fünf Monate lang, seit Februar, lag ich mit doppelt gebrochener Hand, ohne zu essen, ohne mich zu waschen, in meinem Sarg-Kabinette (I. Grabenhotel). Infolge tiefsten Lebens-Ekels nahm ich in übertriebenstem Maße Schlafmittel (statt ein Liqueurglas 40!) Es zerstörte mich vollends. Professor Baron Wagner von Jauregg (ein Verehrer meiner Werke) hörte von diesem noch nie dagewesenen Falle und besuchte mich. Er erklärte, ich stünde unausweichlich vor den Toren des Delirium oder Krebs (Gewebezerfall durch Lähmung des Zentral-Nervensystemes!). Als er[287] draußen war, wußte ich sofort nicht mehr, daß dieses Schlafmittel überhaupt existiere. Ich habe mich, wie Professor Wagner in der Gesellschaft der Ärzte mitteilte, ein erster Fall, seitdem es Schlafmittel gibt, mysteriös-unerklärlich innerhalb einer Nacht errettet, wo man sonst Entziehungskuren von sechs Wochen bis sechs Monaten unbedingt nötig habe! Seit 26. Juni bin ich, in früherer Elastizität wie durch ein Mysterium, physiologisches Christentum, errettet!

Ich feiere am 9./3. 1919 meinen 60. Geburtstag. Ich habe die Absicht, infolgedessen und vor allem infolge meiner schrecklichen materiellen Verhältnisse als Ihr Tanz-Partner aufzutreten! Ich stelle es mir so vor: Kostüm: Seidene Lido-Haube, Lido-Trikot, Sandalen an nackten Füßen (so gehe ich ja in Wien bis zum Dezember), kurze Hose, nackte Unterbeine! Zwischen ihren einzelnen Nummern, die ich mit Gesten begleite, tanze ich Solo Aschantee-Tänze zu von mir angegebenen ganz primitiven, reizenden Rhythmen, von mir komponiert (jeder Kapellmeister setzt es in fünf Minuten für Orchester, Kinder-Musik). Zum Schluß aber tanze ich mit Ihnen einen künstlerischen Sechsschritt! Ich sitze von 9 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags im »Grabenkiosk«. Suchen Sie mich dort auf!

Ihr

Peter Altenberg,

I. Grabenhotel

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 287-288.
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