Briefe

[253] In Briefen erreicht man die Höhepunkte seines eigenen Seins, seines idealsten Denkens und Empfindens. Man wird man selbst! Deshalb wirken sie auch so wenig auf den Leser, die Leserin, die den Menschen eigentlich ganz anders kennen. Wie billig sind Worte dem brutalen Leben des Tages und der Stunde gegenüber. Und eine einzige edle Selbstlosigkeit wiegt den schönsten verehrungsvollsten Brief auf. Frauen mit Briefen düpieren, ist ein »seelisches Verbrechen«, denn, siehe, sie klammern sich daran, bauen sogar ihr Lebensschicksal darauf auf, ein tönernes Lebensgebäude! »Ich sehne mich nach Dir« ist ein schreckliches Wort, da Niemand weiß, ob es wahr ist, und man sich nicht dennoch daran anklammert in der Melancholie seiner bangen Tage. Auch Blumen sind keine Beweise, sondern nur das mysteriöse Gefühl der Seele selbst, das ausströmt, und Du merkst es vielleicht bestimmt gar nicht. Gefühle sind geheimnisvolle Mysterien der Seele, unausdrückbar in realen Taten! Deshalb werden so viele noch so intelligente wertvolle Frauen innerlichst enttäuscht, betrogen, durch sich selbst, weil sie nicht die Kraft haben, »der Wahrheit ins Gesicht zu schauen ihres eigenen Lebens!«

»Ich sehne mich nach Dir« ist ein schreckliches Wort, da Niemand die Wahrhaftigkeit desselben prüfen kann. Hoffnungen hingegen sind »seelische Verbrechen«. Es gibt tausend unscheinbare kleine Betätigungen, die uns es beweisen, daß man uns ernstlich lieb hat. Aber Briefe sind es nicht. Es gibt tausend Frauen, die besondere Briefe als Heiligtümer aufbewahren. Aber was für kindische romantische[254] Träumerinnen, ja Selbstbetrügerinnen sind es. Mein Gott, sie haben halt nichts anderes auf dieser Welt, und das Schicksal bietet ihnen gnadenvoll einige begeisterte Zeilen! Wehe Euch, billig Armseligen!

Gehe mit einer wirklich geliebten Frau für einige Tage in ein abgeschiedenes Berg-Dorf, und sie wird mehr von Dir wissen, als von allen Deinen sehnsüchtigen falschen Liebesbriefen.

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 253-255.
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