Buchbesprechung

[87] Habe soeben, 5. d., von 10 Uhr abends bis 1 Uhr morgens, unter heißen Tränen ein Buch gelesen und zu Ende gelesen: »Dr. Gräsler, Badearzt« von Arthur Schnitzler. Mag sein, daß das merkwürdige unberechenbare Schicksal des privaten Lebens in diesem Buch mir gerade jetzt besonders nahe ging, aber ich habe die Überzeugung, daß auch solchen privaten Schicksalen fernerstehende Leser dieses Buch nicht unergriffen zu Ende lesen werden. Es ist »schlicht«, und das wirkt stets von selbst; fast zauberhaft. Nun werden Sie mich fragen: »Aber welcher tiefere Sinn liegt in den schlichten Begebenheiten gerade dieses Buches, und weshalb heiratet ›Dr. Gräsler, Badearzt‹, gerade die Witwe[87] Sonlmer?!« Weil der vom Leben Getretene, Scheue, Zaghafte schließlich der »vom schwarzen Ochsen« Getretenen, Zermürbten, Hilflosen, Zaghaften mehr, viel mehr für ihr Leben zu bieten hat als den noch lebensfreudigen Frauen! Wenn sie ihn auch nicht gerade fanatisch lieb haben können, wirklich brauchen können sie ihn aufrichtig-ehrlich jedesfalls!

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Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 87-88.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]