Die Nacht ohne Schlafmittel

[242] Um vier Uhr morgens, 11. Juni 1918, begann es zu dämmern. Diese göttliche Stille des schlafenden Hotels, keinerlei Geräusch. Ich gedachte schauerlichster Schlafmittel-Leiden (Paraldehyd, in vierzigfacher Dosierung der vom Arzte im Jahre 1912 verschriebenen heiligen Menge, Punkt acht Uhr abends ein Likörglas, garantierter traumloser Schlaf von acht Uhr abends bis sieben Uhr morgens, wie nach Berg-Partieen!). Ich gedachte meiner Lebens-Abgründe in jeglicher Beziehung meines gefahrvollen exzentrischen unbezwingbaren unerbittlichen Konzessions-losen Daseins! Niemand hat bisher je so Konzessions-los bis zu seinem[242] 60. Lebensjahre gelebt wie ich, ohne jegliche Geld-Rückendeckung!

Ein schrecklicher Zelot seines Geistes und seiner Seele! »An Abgründen sollst Du wandern, Dein Leben lang, bereit zu zerschellen, bereit! In den Niederungen aber liegt der träge Dunst des Alltags und die sichere, Geist und Seele mordende, gleichmäßige Bequemlichkeit.« P.A. Um fünf Uhr wurde es ganz hell. Jemand ging aufs Klosett, man hörte die Türe, die Wasserspülung. Stille. Um sechs Uhr ging ich weg, meiner Einsamkeit zu entfliehen. Die Straßen waren leer und still. Wie reingebadet ist man von vielem Schmutz und Irrtum! Wie lange noch?!


*


Eine merkwürdige, eine schreckliche, eine wunderbare Nacht. Eine reinigende, richtig stellende. Offene Fenster, es regnet. Wunderbare feuchte Luft. Alle Irrsinne meines Daseins ziehen an mir, bedrückend, erlösend, vorüber. Meine »Natur-Liebe« besiegte dennoch von selbst alle schauerlichen Fehltritte meines unglückseligen Da-seins. Der »Botanische Garten« in Wien, der Rathauspark in Wien, ersetzten mir stets vollkommen die Schätze dieser unbesiegbaren Welt. Nach einem Sommer im »Botanischen Garten« in Wien kamen viele Damen einst zu meinen Eltern sich erkundigen, in welchem Kurorte ich mich denn so fabelhaft erholt hätte! Ich bin heute, mit 60 Jahren, ein Todeskandidat aus vielen Gründen, noch immer, wie eh und[243] je davon überzeugt, daß man, mit der Kraft seiner diätetisch-hygienischen Erkenntnisse, im »Wiener Rathauspark« einen gesunderen, billigeren, bequemeren Sommer-Aufenthalt sich verschaffen könne als in allen teueren Kurorten! Arzt und Gewohnheit und Vorurteile, o Mensch, sind Deine ewigen Feinde hienieden. Fliehe – – – zu Deinen eigenen besseren Erkenntnissen!

Sieben Uhr morgens, ich trinke noch immer ununterbrochen den herrlichen Ober-Österreichischen »Riesling«. Die Sperlinge zwitschern leidenschaftlich auf den alten rot-braunen Dachziegeln. Es »klärt sich« in mir. Ich beginne, das Leben objektiv zu erfassen, als eine unentrinnbare Tragödie des eigenen Ich und zugleich Komödie! Was, was, was kannst Du Dir denn da, bei allem Geiste, bei aller Seele, bei allem Besser-Wissen, bei allem besseren richtigeren Geschmacke, herausschlagen?!? Nichts, nichts, nichts! Gar nichts.

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 242-244.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Lebensabend
Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]