Erziehung

[283] Es gab einst einzelne griechische Weise, die der Menschheit helfen wollten; aber Niemand hörte auf sie, sondern man verlachte sie, weil man sie nicht verstand. Sie nährten sich von Brot und Honig. Aber Das mundete ihnen nicht. Sie wollten ihre kurzen Jahre des Lebens genießen, aber als sie am Sterben waren, sahen sie, spürten sie, daß sie dennoch einen Irrtum begangen hatten! Sokrates, Diogenes waren vornehme Lehrer der Menschheit. Aber Niemand hörte auf sie, betrachtete sie als exzentrische Narren, die manches Richtige, meistens aber angeblich Falsches[283] verkündigten. Niemand weicht gern von seinem eigenen Wege ab und kreuzigt Den, der ihn daran verhindert! Amen.


*


Jeder Mensch hat einen »Leck«, sei es einen sexuellen, einen seelischen, einen ökonomischen, einen physiologischen. Es zehrt unmerklich an ihm, er spürt es nicht, aber es untergräbt seine Lebenskräfte, und statt frisch achtzig zu werden, wird er tragisch verzweifelt nur sechzig. Niemand nimmt sich seiner an, denn Niemand versteht ihn oder bemüht sich, ihn zu verstehen. So wandelt er dahin, wie auf Lebens-Krücken, und Niemand will ihm gerecht werden! Wir müssen alle einmal sterben und auf zehn Jahre auf oder ab kommt es auch dem kultivierten Melancholiker doch wirklich nicht an. Wieviel Ungerechtigkeit, wieviel Schandtaten dadurch erspart! Und da willst Du Dein blankgeschliffenes Siegfriedschwert erheben, um die Erde zu reinigen!? Gib nach, teure, zarte Seele, versinke im Nichts, warte auf Das, was tragisch kommen wird und muß!

Lasse Eitelkeit und Ehrgeiz und gib nach den furchtbaren unüberwindlichen Kräften, die geheimnisvoll an Dir zehren und Dich aufzehren. Niemand hat Mitleid mit Dir, Niemand wird es versuchen, Dich zu erretten! Schaue dem Tode ruhig entgegen, er ist Dein einziger wirklicher Erretter!


*


Im Augenblicke, da Du ernstlich krank bist, bemühen sich Alle so ungeschickt als möglich, Dich aus Deinem offenen Abgrunde zu erretten.[284] Aber Niemand bedenkt es, vor allem die Dir exzeptionellen Geheimnisse Deiner Natur zu ergründen! Er denkt vor allem an sich selbst und was Ihm in diesem Falle heilsam wäre! Wie wenn man einem leidenschaftlichen Raucher das Rauchen plötzlich aus Gesundheits-Gründen untersagen würde!?! Den »fremden Organismus« als einen ganz fremden Anderen erkennen, ist die tiefste edle ärztliche Kunst! Ihn als Rätsel betrachten, das er unbedingt ist!


*


Ich habe nie an einer Hochwild-Jagd, selbst bei einem Fürsten, teilgenommen. Ich halte es für eine feige Gemeinheit. Man erfreue sich an den Gemsen, an den Hirschen, aber sie zu töten, pfui! Ich habe es nie verstanden, Tiere hinterrücks heimtückisch zu ermorden. Die Menschen machen es sich bequem, schießen heimtückisch hinterrücks wunderbare Gemsen, Hirsche tot, und fühlen sich sogar als Sieger. Pfui! Die Jagd-Leidenschaft ist eine ebenso-blöd-nichtssagende Leidenschaft wie die meisten anderen. Wer auch nur eine Stunde nachdenkt, verliert für immer diesen verbrecherischen Irrsinn und die »Jagd-Leidenschaft« halte ich für einen feig-blöden Ersatz wertvoller wirklicher Leidenschaften! Gemse, Hirsch, wie blöd sind schon von selbst diese Worte, während Kinder-Schutz-Gesellschaft und andere Dinge des menschlichen Lebens tausendmal mehr nützten!?

Alle Leidenschaften, die den Anderen, den Fremden, nichts nützen, sind absolute Irrsin ne. Es ist ganz gleichgültig, ob man diesen verbrecherischen-idiotischen[285] Irrsinn am Stammtisch im Kaffee absolviert!

Die Menschen halten es für eine an sich wertvolle Emotion. Ich halte es nur für eine feige Gemeinheit. Einen allermiserabelst angebrachten Größenwahn! Auch Fürst J. schoß auf Gemsen und Hirsche. Spitze doch aber Deinen Bleistift korrekt! Esel! Es fällt Dir ja doch trotzdem nichts Rechtes ein!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 283-286.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Lebensabend
Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]