Ideale der Lebensführung,

[300] nur von meinem 56jährigen Bruder, Hauptkassierer einer Bank, durchgeführt seit zehn Jahren.

Was also kann man doch noch an aristokratischer Lebens-Freiheit gewinnen, wenn die »Pflicht des Tages« es verhindert?!?

Punkt zehn Uhr zu Bett, unter allen Umständen, zwingend, drohend, unausweichlich durch eigene geniale Einsicht, sein besseres, beschützendes Selbst durch Jeden, Dem man nur kein Gehör schenkt. Punkt 10 Uhr zu Bett. Weit geöffnete Fenster. Um sechs Uhr erwachst Du zu Deiner heiligen Freiheit, die Dir der spätere belastende Tag verwehrt naturgemäß. Von sechs bis acht Uhr darfst Du Du selbst sein! Wie merkwürdig; täglich von sechs bis acht Uhr! Zwei lange, stille, friedevollste, ganz freie, aristokratische Stunden hast Du nun vor Dir, Sklave deines sonst gewöhnlichen Lebens! Wie nützest Du sie aus?! Vor allem durch das wunderbare Bewußtsein, daß Du zwei ganz freie Stunden vor Dir hast! Schauer eigenen Friedens, eigener Freiheit, sind in Dir. Ein zager Blick auf die Wanduhr, ja, es sind noch ganze lange, endelose, heilige zwei Stunden. Wie ist es möglich, daß Dir Das beschieden ist hienieden,[300] womit hast Du es verdient, und vor allem, weshalb genießen nicht Alle in deiner oder ähnlicher Position dasselbe überirdische Glück?!? Du rasierst Dich. Du machst eine Pause, denn Du hast endelose Zeit. Du denkst: Ich bin bereits rasiert, bon. Wer ist denn in meiner Position bereits heute rasiert?! Wenige, vielleicht Niemand, ich bin tief überzeugt, Niemand, Niemand! Du nimmst Deine dicke wollene, grau-rot karierte Bauernjoppe, die Dir den Schlafrock ersetzt, nein, ein idealisierter Schlafrock bereits selbst ist. Eine Menge ganz moderner Zeitschriften (Frieden usw., usw., Fackel) hast Du Dir spendiert. Man muß in diesen zwei Stunden »hinaufklettern«, zu Denen, die nichts zu tun haben als zu denken und dieses Denken uns liebereich mitteilen. Sie denken für uns, bon, wir haben Gott sei Dank Zeit, ihr besonderes Denken in uns aufzunehmen. Ah, was finde ich da für einen wunderbaren Essay, einen leichtverständlichen, gerechten und dennoch tief schürfenden!? Meine Lebens-Betrachtung wird um vieles bereichert, ich danke Dir, mir unbekannter Schriftsteller! Blick auf die Wanduhr. Es ist sieben. Noch eine lange, endelose, freie Stunde. Du kochst Dir Dein Frühstück, dabei kannst Du bequem weiterlesen. Manches Wertvolle für Dein Erkennen findest Du noch. Du bist aus dem Tages-Düster »hinauf-geklettert« in helle geistige Regionen. Wie können »Menschen im Joche« sich solche zwei Stunden selbst zerstören, versagen. Blick auf die Wanduhr, acht! Ein anderer Mensch, ein gereinigter, ein erhöhter, schreitet gelassen der Pflicht des Tages entgegen. Pflicht?! Deine Pflicht gegen Dich liegt bereits hinter Dir!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 300-301.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Lebensabend
Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]