Im 60. Lebensjahre

[291] Carpe horam, pflücke die dir irgendwie ergiebige Stunde! Frank Wedekind, ein höchst unklarer, »dummer gescheiter August-Zirkus-Revolutionärer« (irgendein Rad oder Rädchen in seinem Gehirne funktionierte dennoch falsch, wie bei den meisten Menschen, den Spielern, Wettern, Trinkern, angeblich unglücklich Liebenden, den Verschwendern, den Asketen, den allzu sparsamen, vorsichtigen Rechnern, den Eitlen, den Stolzen, den blöd Größenwahnsinnigen usw., usw., usw., den Unbescheidenen). Aber ein kerzengerades, aufrechtes, spiegelklares Hirn hatte gerade dieser nicht. Das aber gerade nannte man fälschlich seine Genialität. Wie soll man dann Emil Zola, Victor Hugo, Knut Hamsun, August Strindberg benamsen?! Ich bin ein momentaner kürzester Impressionist, das ist mein anständiger wohlverdienter Ehrentitel. Auf den habe ich seit 20 Jahren ein Recht. Trotzdem starb Frank Wedekind mit 54 Jahren, Gustav Klimt[291] mit 55, und ich hatte also vor allem vier lange Jahre vor ihnen voraus, des Erlebens, des Erleidens. Wie habe ich diese mir von Schicksals Gnaden oder Ungnaden gewährte Lebensfrist aber ausgenützt?! Ich verheiratete meine heilige, blonde Freundin mit idealsten Knabenbeinen an einen meiner tiefsten Verehrer und Versteher, den tief melancholischen Regimentsarzt Dr. D., der ein Jahr lang in Sibirien in Einzelhaft verbracht hatte. Ich war, dank einem böhmischen Rittergutsbesitzer, der mir die beiden Manuskripte zu »Fechsung« und »Nachfechsung« um je 500 Kronen abkaufte, drei Monate lang im herrlichen »Gesäuse«, Juli, August, September, 1916. Ich lernte, ein Weltreisender en miniature, und tausendmal ergiebiger, bequemer, billiger, man versäumt keinen Zug, wird morgens nicht durch irgend etwas aus dem heiligen Morgenschlaf in das blöde, beschwerliche, unnötige, angeblich reizvolle Tagesleben herausgezerrt, unempfänglichst, da man den regenerierenden Tod »Schlaf« noch im gelähmten Gehirn hat, ich lernte also 1916 den Gaflenzbach genauestens kennen, die Enns, den Leopoldsteiner See und Eisenerz, wo ein Eisenberg langsam-geschickt abgetragen wird, um Millionen Menschen damit zu Krüppeln zu schießen, die Toten sind tot. Als ich nach Wien zurückkehrte, hatte ich eine meiner verhängnisvollsten Nervenkrisen, blieb acht Wochen lang in meinem Zimmerchen. Lebendig begraben, also ärger als Frank Wedekind und Gustav Klimt. Denn ich hatte noch leider die Erinnerung an das »Gesäuse«. Im Jahre 1918 glitt ich von der schlecht von Seife abgeschwabten Steinstiege vor meiner Hoteltüre mit meinen glatten Holzsandalen, nachts 1/212 Uhr, nach rückwärts aus,[292] brach die beiden Handwurzel- Knochen. Infolgedessen nahm ich aus Verzweiflung zu meinem geliebten heiligen Schlafmittel Zuflucht (absolut restaurierend und zehnstündigen tiefen Schlaf garantierend ohne jegliche Angewöhnung, wenn man nämlich, abends bereits im Bette liegend, sich für den Schlaf parat hält, rasch ein Likörglas hinunterstürzt und bereits die Augen danach schließt). Ich aber nahm zwanzig. Was kann dieses erlösende regenerierende Schlafmittel für meinen melancholischen Irrsinn?!? Ich empfehle es euch dringendst, Schlaflose, ein Likörglas! Nach fünf Monaten Zimmerkerker schrecklichster Art, im April Erlösung, vollständige, nein, mehr als vollständige Regeneration, eine neue Jugend-Elastizität, so daß ich Tanzpartner der Grete Wiesenthal werden will im Oktober bei »Ronacher«. Ich werde am 9. März 1919 60 Jahre alt. Aber wenn ich die sogenannten modernen Tanzpartner der modernen Tänzerinnen sehe, habe ich nur ein verantwortetes Hohnlachen! Vor allem keinerlei Anmut, männlich-frauenhaft eben zugleich muß man sich biegen können!

Frank Wedekind starb vorzeitig mit 54, Gustav Klimt mit 55, ich lebe noch mit 59.

Meine These deshalb von nun an: Carpe horam; pflücke die Stunde, die dir noch unbegreiflicherweise von Schicksals Gnaden gewährt ist!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 291-293.
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