Impression

[304] 25./6. 1918, 11 Uhr abends. Über dem »Graben« in Wien steht der goldene Vollmond. Meine nackten Füße frieren ein wenig in Holz-Sandalen. Ich bin ganz nahe an sechzig. Tiefster Lebens-Überdruß erfüllt mein jedenfalls krankes (nicht so, wie Ihr es meint, Hunde!) Gehirn. Wozu das Alles, das Alles, diese Bürde des ewig gleichen und eigentlich unentrinnbaren Seins, dieser »Käfig Deiner freien Persönlichkeit«!? Es wird so gehn, bis die Todeskrankheit irgendwie sich einmal schüchtern-grausam meldet. Über dem »Graben« steht der goldene Vollmond. Ich friere ein wenig mit meinen nackten Füßen in Holz-Sandalen. Weshalb tragt Ihr Alle noch keine Holz-Sandalen?! Weshalb sargt Ihr den Fuß, diesen angestrengtesten Teil unseres Körpers, in Strümpfe und Schuhe ein, benehmt ihm die freie Ausdünstung, sein Atmen?! Darauf antworten Alle mit verlegenem Schweigen. Es ist halt einmal so.

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 304.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]