Kleine Tragödien

[157] Es gibt soviel Menschen, die gar nicht zueinander gehören, selbst wenn sie ganz zueinander gehören. Der Tonfall ihrer Stimme schon irritiert fortwährend, obzwar man sich es gerechterweise selber stets zuflüstert: »Bedenke, er oder sie können ja doch nichts dafür!« Aber irritiert es deshalb weniger?! Eine Türe fällt zu, während Du friedlich schläfst. Kann sie etwas dafür, Dich Unglückseligen erweckt zu haben?! Dennoch möchtest Du wie in der Kindheit die Türe prügeln: »Du schlimme Türe!« Die Art, freundlich zu grüßen, zu freundlich, kann Dich gegen Jenen aufbringen, den Du eigentlich »(eigentlich« ist ein Selbstbetrug) ganz gern oder sogar sehr gern hast! Besonders »Bewegungen« können Einen an einem scheinbar hochgeschätzten Menschen riesig irritieren, obzwar man es ihm zugleich ununterbrochen verzeiht, ja sich selbst heftig und nachsichtslos darob anklagt! Wie Einer, Eine, durch einen Saal, einen[157] Gasthofsaal, ein Kaffeehaus hindurchschreitet, kann uns mit Sympathie oder mit Haß erfüllen! »Über solche Kleinigkeiten geht ein Gebildeter hinweg,« ist ein feiger elender Selbstbetrug! Nein, gerade über solche Kleinigkeiten geht er nicht hinweg! Ich sage nicht, daß man Jeden schätzen soll, weil er sich anmutig dahinbewegt, aber daß man einen Unanmutigen allmählich hassen kann, gegen seine bessere Erkenntnis vom hohen Werte seelisch-geistiger Eigenschaften, das behaupte ich ganz entschieden gegen die ganze Heerschar der Hypokriten! Wer gut tanzt, ist noch kein guter Mensch, aber wer schlecht tanzt, und dennoch tanzt, und sogar gern tanzt, der ist ein Esel! Niemand ahnt, durch wieviele unscheinbarste Eigenheiten er seinen Mitmenschen, der ihn eigentlich schätzt und lieb hat, ununterbrochen irritiert, kränkt, stört, beleidigt, zur Verzweiflung bringt. Dieser »Posten« wird in dem Beziehungs-Konto von Liebesleuten und auch weniger Leidenschaftlichen leider nie berechnet. Infolgedessen stimmt die Rechnung auch nie, und der »innere Konkurs« ist unausbleiblich.

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 157-158.
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