Leontodon

[56] Der »erste Mai« steht im Zeichen des »goldgelben Löwenzahn«, Leontodon taraxacum! Auf allen Rasenplätzen in den noch verlassen dastehenden Villengärten Löwenzahn! Auf den freien Wiesen Löwenzahn, am Waldesrande Löwenzahn. Hellgrün mit goldgelb gesprenkelt ist alles. Niemand pflückt ihn, denn er läßt einen weißen Saft in den Stengeln. Ein Unkraut, das sich beschützt, wozu?! Ein süßes Mäderl mit einer lila Seiden-Bauernhaube hielt einen ganzen Strauß davon im Händchen. Das muß eine nette Kinderfrau sein, die das erlaubt. Wahrscheinlich hat sie gesagt: »No wart', du unfolgsames Mädi, das weiße Gift wird dich schon brennen!« An der braunen endlosen Tiergartenmauer blüht Löwenzahn; Löwenzahn ist die Marke des »ersten Mai«. Sie werden sagen, wieder etwas Apartes, für alle anderen ist es der Flieder, diese lila duftende Wunderstaude. Ja, aber das merken alle, es steigt ihnen aufdringlich in die Nase, in die Augen, er ist akkreditiert und besungen und läßt keinen giftigen weißen Milchsaft, und Gärtner, Hausmeister und Polizei mischen sich drein, wenn man ihn pflückt. Wer aber mischt sich beim Löwenzahn drein?! No, wer sich immer in solche Sachen dreinmischt, der Dichter!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 56.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]