Mein heiliger Bruder

[233] Mein Bruder lebt seit 20 Jahren in ständiger Angst um mich. Wie viele schauerliche Sanatorien-Aufenthalte mit mißverstandenen gutmütigen Rücksichten für einen bisher noch niemals so exzentrisch abnormal fluchbeladen funktionieren den Organismus wie den meinen, hat er in brüderlichster Aufopferung und verbunden mit selbstverständlichem Ärzte-Unverständnis, weil bisher kein ähnliches Beispiel vorlag, durchgemacht (ungefähr sieben verschiedene). Das Verbrechen, nein, die Sünde der Ärzte ist, daß sie nicht, einfach anständigerweise zugeben wollen, daß sie sich trotz aller ihrer Wissenschaft und langjähriger Erfahrung zufällig in diesem einen einzigen Falle nicht auskennen, und sie es deshalb für ihre menschliche Ehrenpflicht halten, eben Das einfach-ehrlich-anständig-stolz sogar, privat und öffentlich zu bekennen! Statt dessen glauben diese Unglückseligen, vollkommen von der überall dennoch begrenzten und noch nicht endgültig ausgebauten Wissenschaft größenwahnsinnigst Irregeleiteten, sie dürften sich vor[233] dem »Laien« unbedingt keine »Blöße« geben, der vertrauensvollst zu Ihnen als letztem Rettungsanker im Schiffbruche seines blöden Lebens zur Konsultation (50 Kronen oder sogar 100) erscheint! Was ist die naturgemäße Folge dieser schauerlich-blöden Vorgänge?! Das endgültige »Débacle« (Untergang) der Rettung suchenden Patienten! Der Arzt verliert nichts dabei, denn Niemand ahnt es, daß er in diesem Falle durch Eingeständnis seines Nicht-Wissens gerade noch hätte vielleicht erretten, helfen können!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 233-234.
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