November-Abend

[341] Niemand geht gern auf die Straße, wenn er nicht aus irgendeinem Grunde muß. Die Kleider leiden, die Hüte schrumpfen ein, das Schuhwerk ächzt, kurz Alles befindet sich in einer gewissen Desorganisation.[341] Die Straßen sind finster, feucht, unappetitlich. Man geht und schleicht, Lebens-müde. Hoffnung ist dahin. Man klammert sich an März, April, Mai, aber wo sind sie?! Unser ganzes Hotel-Personal hat nie solche Gedanken. Eine merkwürdige Pflicht hält sie aufrecht. Der Tag, die Stunde regiert sie. Nun gut, das Schuhwerk ist feucht, schlapp, nachgiebig, fast zerrissen, aber Niemand hindert es. Man trägt die Unbilden der Natur, die sie Einem auferlegt. Nie eine Klage, eine Melancholie, sondern adeligste Ergebenheit in des Daseins unverständliches Schicksal! Womit man sie erfreuen kann?! Mit einem Uhrenständer, einem praktischen Tintenfaß, einer besonderen Vase. Sie gehen schlafen wie schlafbedürftige Tiere, rollen sich ein und schlafen bereits. Es ist nicht Resignation, es ist »gute Erziehung« von innen heraus. Ein Loch im Strumpfe ist keine Lebens-Angelegenheit, man näht es zu – oder man läßt es offen. Um 6 Uhr steht man auf, um Mitternacht rollt man sich unter die Bettdecke. »Hoffnungen« existieren nicht in diesen gesunden Gehirnen. An freien Tagen geht man ins Kino. Weshalb?! Niemand weiß es, man zieht »Knöpfelstiefer« an.

»Wie war es denn im Kino, Marie?!«

»No, so so, junger Herr, die Musik war gar nicht so schlecht.«

Niemand hat eine Idee von dieser pathologischen Genügsamkeit. Das Einrollen in die schwere Bettdecke, wenn der Schlaf kommt, ist der Höhepunkt dieses Nicht-lebens! Still trägt Jede ihre unabwendbare Lebensbürde. Eine Wunderbare kam zu mir: »Schenken's mir Ihre Sandalen, meine Sohlen[342] sind durchgewetzt!« Ich schenke ihr meine Sandalen. »Die Leute werben mich auslachen, aber ich werde sagen, bitte, ich bin eine Schülerin vom Meister Altenberg!«

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 341-343.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]