Plauderei

[178] Der wirkliche Mensch lächelt nie in Gesellschaft, bei welcher Gelegenheit immer, Alles ist ihm eben tragisch ernst, merkwürdig, mysteriös und des neuen Erkennens, das bisher jedesfalles unzulänglich war, wertvoll. Er verliert bei jeder möglichen Gelegenheit seine sogenannten gut fundierten historischen Vorurteile, in jeglicher Beziehung seines Erkennens bisher, und gesteht wie ein edler talentierter Schulknabe, daß er sich darin und darin vollkommen bisher geirrt habe! Alle seine bisherigen Anschauungen über alle Dinge dieses Lebens werden über den Haufen geworfen, ja, als arteriosklerotische Bequemlichkeit verdammt, und er strebt mit neuen Frühlingskräften einer vollkommenen Regeneration seiner bisherigen geistig-seelischen Vorurteile zu, um, solange er lebt, das schauerlich-stupide Gleich-bleiben seines verfluchten Alt-werdens zu überwinden! Seine »verfluchte« Historie in ihm! Der an dem Historischen seines eigenen Lebens und der ganzen Menschheit stoffwechsel-erlahmte Mensch ist kein Mensch mehr, sondern versucht es, notwendigerweise, den Karren irgendwie im Sumpfe steckenzulassen! Nur der Organismus, dem jeder neue frische Morgen wenigstens Veränderungen in jeglicher Beziehung in Aussicht stellt, ist ein Mensch. Die Anderen sind alle stoffwechsel-erkrankte Arteriosklerotiker, denen ihre[178] falsch-bequemen Gewohnheiten Lebens-Gesetz geworden sind. Wer nicht des Morgens Alles umstürzen, verändern, verbessern kann, was die alltäglich trägen Tage in sein Gehirn bisher eingenistet haben, ist kein Mensch! Er ist ein falscher Philosoph und redet sich auf die für den modernen Geist verderbliche »Historische Entwicklung« aus, die nur der arteriosklerotischen, stoffwechsel-lähmenden Bequemlichkeit eines denk-faul gewordenen Gehirns bequem geworden ist! Der wirkliche frische Organismus läßt jeden Morgen alle seine bisherigen Irrsinne, Irrtümer, Vorurteile, historische Bedenken, rücksichtslos hinter sich, und beginnt sein neues Leben mit ganz neuen bisher ungeahnten Kräften! Seine Menschenliebe und seine Verachtung aller Beschränktheiten hienieden haben sich maßlos vertieft und verändert, und Niemand ist mehr imstande mit den verbrecherischen Mitteln der sogenannten »historischen Logik«, etwas Falsches als etwas Richtiges ihm aufzuschwatzen! Sein Gehirn hat seinen eigenen richtigen Weg über Nacht gefunden, und ein teuflisches Hohnlachen begleitet die Auseinandersetzungen, durch die seine sogenannten wohlmeinenden Freunde ihn wieder auf den rechten (also unrechten Weg) zu bringen suchen!

Er war »unser«, ist ein verbrecherisches Zeugnis eines Idioten, der sich feigerweise von der Herde irgendwie bestimmen ließ, ihr wenigstens teilweise Konzessionen zu machen! Nach den idealen Plänen Gottes, die in unserem Geiste, unserem Herzen eingewurzelt sind, von Schicksals Gnade oder Ungnade, bestimmt sich unser Leben, und die Anderen werden Gott sei Dank vergeblich mit ihren[179] angeblich vollbegründeten historischen Vorurteilen uns niederzwingen! Ein einziger Telegramm-Satz eines wohlorganisierten modernen Gehirnes kann den ganzen düsteren Wust Jahrhunderte langer Vorurteile zerstören, aus der modernen Welt schaffen! Der »philosophische Historiker« ist ein unglückseliger Stoffwechsel-Erkrankter, der seine eigenen Regenerations-Unfähigkeiten der jungen frischen ewig regenerationsfähigen Welt frech-perfid aufdrängen möchte, weil er selbst aus seiner geistig-seelisch gelähmten Natur sich nie mehr befreien kann! Er sieht Menschen beschämt-verzweifelt als Halb-Narren an, die elastischer sich bewegen als er selbst, und gönnt es einer jungen Frühlingswelt nicht, daß sie über sein »Altern« zur Tagesordnung übergehe!

Gewiß gibt es gefährliche, verderbliche, hochstaplerische, wertlose, eigenmächtige »Stürmer und Dränger« in der besonders modernsten Literatur. Aber man kann sie mit einem geschickten Griffe einer wirklich intellektuellen Pranke abwürgen, vernichten. Während die »Historiker« angeblich die dumme Legion von Jahrhunderten hinter sich haben, und sich hinter Namen verschanzen, die uns nichts mehr bedeuten als freche Stupiditität! Es gibt noch immer eine Menge von unbestraften Verbrechern, die ihre alten Teppiche, Vorhänge, Möbel, auf die Straße, also in die heiligen wertvollen Lungen der Passanten mit aller Kraft herabklopfen! Schwere Geldstrafen für die »Kriegsblinden« würde Das momentan ändern können! Aber Niemand nimmt sich Dessen an, weil die Lunge eines Menschen erst berücksichtigenswert ist, bis sie zerstört[180] und vernichtet ist! Principiis obsta! Vergebliches Wahrwort seit Jahrtausenden, schade!

Krebs und Zuckerkrankheit sind nicht heilbar. Aber um die Anfangsstadien dieser Geheimnisse des zerfallenden Organismus kümmert man sich nie. Hoffnung, stupideste Hoffnung, ist das Einzige, was man spendet. Zum Schlusse freilich alarmiert die Familie den völlig unschuldigen »Spezialisten«, erwartet von ihm für Geld unmögliche physiologische Wunder! Und seine vergebliche Pflicht wird gut honoriert. Der angeblich Gesunde interessiert die angeblich besorgten Freunde nicht, sie wollen wenigstens einen »lebenden Leichnam« vor sich sehen, der für Geld der »Kunst der modernen Ärzte« vertrauensvoll in letzter Minute ausgeliefert wird! Ein Zahn wird erst plombiert, bis er wehtut, obzwar er gerade bereits dann plombiert werden müßte, bevor er überhaupt wehtut! Das ganze Leben besteht aus solchen kleinen großen Verbrechen, und Die daran verdienen, sind nicht gerade meiner besonderen Wertschätzung würdig! Principiis obsta!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 178-181.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Lebensabend
Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]