Verlegenheit

[256] Eine schreckliche Nerven-zerstörende Verlegenheit herrscht bei sogenannten Besuchen Seinesgleichen. Niemand will zurückstehen in seiner sogenannten »Kultur« und »Bildung«, und die ewigen diesbezüglichen Konzessionen zerrütten den ohnedies verlegenen Organismus. Eine Frau, die Einem gefällt, ist verhältnismäßig bequemer, obzwar man da auch ununterbrochen ihr zuliebe sein wahres Wesen vernichtet, ja ermordet. Sie begreift nur ihre eigenen Bedürfnisse, nie eine Sekunde lang die Deinen, und schon eine ganz kleine Konzession an Dein doch immerhin kompliziertes Nervensystem macht sie Dir unwillkürlich zu Deinem unerbittlichen Feinde. Sie kann keinerlei Konzessionen machen. Es entsteht eine erbitterte ewig wirkende Todfeindschaft. Sie ist dazu eben nicht geschaffen. Ihr Gehirn erträgt es nicht, sie wirft sich aufs Sofa und weint, jedenfalls ist sie unglücklich und lebensüberdrüssig. Du könntest sie mit idealen Purgiermitteln retten (Natrium sulfuricum, Magnesia usta), dreimal täglich einen Kaffeelöffel voll in Wasser. Oder noch besser: Kurella-Pulver![256]

Aber nimmt sie es Dir denn?! Erbricht sie es nicht? Hat sie denn genug Geist, ihren Körper wiederherzustellen, sich, Dir zuliebe?!? Also ihr Geistig-Seelisches in ihr?!?

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 256-257.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]