Vor Weihnachten

[189] Gott, fast jeder Mensch ist ein Dichter,

Spieler und Sammler von irgend Etwas ganz natürlich ausgenommen,

denn Das sind überhaupt noch keine »menschlichen Gebilde«,

aber sonst ist fast ein Jeder,[189]

eine Jede, stumm ängstlich-verlegener Dichter, behalten es bei sich, in sich,

überlassen das laute Kundgeben

den leider unberechtigt, frech protokollierten Dichter- Firmen!

Du siehst z.B. bei einer Blumen-Frau am »Hofe« hellgrüne Leimmisteln.

Sogleich erinnerst Du Dich an Deine

Kinderzeit und die Spaziergänge im leeren Prater mit Leimmisteln an

alten, dicken, morschen Baumästen!

Aber darfst Du denn darüber ein

endgültiges, deine Seele erleichterndes Gedicht fabrizieren?! Keineswegs.

Leimmisteln an alten, dicken, morschen Baumästen,

haben für Dich, Tätigen des Lebens, keine besondere Wirkung auszulösen!

Der Dichter wird es Dir schon mitteilen,

wie Du Leimmisteln an dicken, morschen, alten Baumästen im leeren Prater

zu beurteilen hast, auf daß es Ihm

zugute komme und nicht Dir!

Erdenwurm, kümmere Dich um Verdienen und Eroberung von Frauen, die man erobern kann,

überlasse daher gefälligst der Leimmisteln

unscheinbare Vor-Weihnachts-Pracht

Jenen, deren Geschäft es ist,

sie besonders zärtlich zu besingen!

Nicht Jeder hat das Recht, sich mit hellgrüner

Leimmistelpracht vor Weihnachten

intensiv zu beschäftigen!

Man hat sie zum »Weihnachts-Strauch« erhoben,

Das genüge Dir, folge der Parole!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 189-190.
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