Winter

[29] Also es ist wirklich Winter geworden.

Die hellgrünen Leimmisteln an den verdorrten Bäumen nämlich erfreuen mich tatsächlich nicht mehr,

und nicht die braunen matten spröden Buchenblätter an den Buchen.

Und nicht die kahlen dürftigen bedauernswerten[29] und dennoch rührenden hellgrauen dünnen Zweige der Birken.

Und nicht der traurige Wind, der zusammenrafft an Verdorrtem, was er noch zusammenraffen kann.

Und nicht der sonst poetische Gegensatz zum reichhaltigen Sommer.

Und nicht in Fernen irgend eines hungernden Tieres mysteriöser Schrei, oder eines erfrierenden oder eines gemordeten!

Und nicht die Überraschung, daß an einem Strauche dick Schnee-bekappte hellrote Beeren des Winters Weiße noch immer bescheiden trotzen! Hellrot bleiben sie trotzdem.

Und nicht der vorzeitige romantische Abend mit seinen noch vertieften Stillen in dieser ohnedies allzutiefen Stille der Winterlandschaft!

Also ist es tatsächlich, zum ersten Male, wirk lich Winter geworden in mir,

wo doch Alle schon längst aus irgend einem Grunde gleichgültig geworden sind, trotz Allem und Jedem.

Und weshalb bin ich es geworden, winterlich?!

Weil Marie Susanne 8 Tage lang nicht geschrieben hat!

Also bin ich ganz so wie alle Anderen?!

Nein. Kennt Ihr denn Marie Susanne?!

Nein. Ich aber kenne Eure Annas, Berthas, Gretes, Fannys, Emmas. Und alle anderen Namen.

Um Wen man seine Lebenslust verliert, um Wen, Das allein ist wichtig.[30]

Nicht Jede darf mich milde machen und hoffnungslos! Und mir sogar des Winters stille Pracht »vermießen« können!

Liebe ist eine Krankheit, aber es sei eine, wo das Kranksein wertvoller ist als das bisherige satte fade gesicherte Gesundsein!

Heil den seelisch Erkrankten an Einer, wo es dafürsteht, zu leiden! Also zu werden, zu gedeihen!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 29-31.
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