Worte

[187] Eines der schrecklichsten Worte der bürgerlichen Gesellschaft ist: »Ja, sie ist eine Selbstmord-Kandidatin!« Wenn also Jemand durch alle Enttäuschungen dieses direkt »unheiligen«, barbarischen, unnötig grausamen Lebens die Lust an dieser Art von Dasein endlich verliert, gegen seinen Willen und Wunsch, dann erhält er oder sie von der bürgerlichen Gesellschaft, die sich eben dafür rächt, daß sie diesen Saustall »Leben« bequem oder selbstverständlich demütig-ergeben erträgt als eine einfach »gegebene Sache«, den Ehrentitel: »Ja, sie ist eine Selbstmordkandidatin, sie ist den Erfordernissen dieses Lebens eben nicht gewachsen!«

Gott sei Dank ist sie anders gewachsen!

Und läßt sich nicht biegen und brechen, aus »ökonomischen« oder »sozialen« Gründen, sondern begehrt innerlich auf, mit oder ohne Tränen, und verzichtet anständig-ehrlich darauf, sich irgendwie einreihen und einordnen zu lassen! Wohin sie Gott sei Dank nicht gehört!

Wehe allen Jenen, die in irgendeiner Form nachgeben! Gott und Natur und inne res Schicksal straft sie nachsichtslos, wenn auch erst nach Jahrzehnten, für ihren heimtückischen Abfall vom eigenen Lebens-Idealismus! Sie gehen zugrunde, ohne es selbst direkt zu spüren; ihre eigenen von ihnen im Stiche gelassenen Lebens-Ideale erwürgen sie langsam, unmerklich, und Niemand, außer der Dichter, ahnt es, woran sie altern, verfallen, und zugrunde gegangen sind!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 187-188.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]