Das Ende

[214] Wenn man ein Sterbender ist, hilft einem die Natur, indem man alles als lächerlich, kindisch und unnütz empfindet, woran man bisher in seiner pathologischen Gesundheit zähe und leidenschaftlich sich anklammerte. Man nimmt daher Abschied von allem und jedem, was man bis dahin als die äußerste Erfüllung seines Lebens empfunden hatte!

Der Abschied wird leicht, denn der Abstand von den erträumten Idealen wird so riesengroß, daß man es gar nicht mehr begreifen kann, wie man es auch nur einen Tag lang auf Erden hatte aushalten können unter solchen Umständen. Das Getriebe der Leidenschaften und Wünsche wird zu einem pathologischen Gemengsel von wertlosen fixen Ideen, die man keinem vierjährigen Kinde zumuten möchte! Und keinem Paralytiker!

Besonders der Dichter, der alles aus eigenen Kräften, nach Gottes eigentlichen Plänen rekonstruiert, erlebt in den Zuständen seiner Erniedrigung, zum kranken, weidwund geschossenen Tiere, die schrecklichsten Enttäuschungen seines Wolkenkuckucksheims Gottes!

Wofür hat er geweint, gebetet, gezittert, gelitten, um Gottes willen?!?

Um sein eigenes Herz, das ihm die andern stündlich, täglich gefoltert, zermartert haben! Im Kloster, in der Einsamkeit des Daseins hätte er Zuflucht, Schutz gefunden! Aber der idiotische Träumer erhoffte es sich, das Leben der Hölle nach Gottes

[214] Himmelsplänen aufzuerbauen! Und eine Milliarde seelenloser Entwicklungsgehemmter stellte sich ihm im Kampfe entgegen. Die kleinsten Kleinigkeiten machten seine Seele erbeben, aber dieselben kleinsten Kleinigkeiten bewiesen ihm jedesmal, daß das Erbeben seiner Seele eine lächerliche Funktion gewesen sei, auf die nichts im Leben reagierte. Vor allem trocknen die Begeisterungsfähigkeiten ein, und man wird wie die Milliarde von anderen lebendigen Trockenmumien des Lebens!

Man erkennt es erst, daß man ein Dichter war, in dem Augenblick, wo die organischen gestörten Kräfte einen daran verhindern, es weiterhin noch zu bleiben! Eine mordende, Stoffwechsel hemmende, verlangsamende Nüchternheit entsteht in uns, und mit entseeltem Auge sehen wir die Dinge so an wie alle, alle andern. Das Gezwitscher der ersten Vögel des Morgens kündigt den verzweifelten, entsetzlichen Tag an. Die Bäume, die zarten Sträucher haben nichts mehr mitzuteilen von Gottes Gnade. Man erschaut alles ernst und traurig, geht an den Nebensächlichkeiten vorüber, und der ewige Hymnus im ewig bewegten Herzen ist verklungen. Die Welt liegt hinter dir, denn sie war dein Träumen, und was von ihr übrigblieb, ist nur wert, daß du es in Qualen verlässest – – –.

Dichter, du weißt es erst, wie sehr du begnadet warst vom Schicksale, wenn du infolge körperlicher Devastationen geworden bist wie jene andern alle!

Begeisterungsfähigkeit für alles und jedes, wenn du aus irgendeinem Grunde abstirbst im Menschenhirne,[215] dann verliert das Leben sogleich seinen Lebenswert – – –. Was wir dem Leben spenden, gibt es uns reichlichst wieder; doch tote Herzen säen und ernten nichts![216]

Quelle:
Peter Altenberg: Märchen des Lebens. Berlin 7–81924, S. 214-217.
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