Im Stadtgarten

[60] Es war sieben Uhr Abend.

Ein warmer, warmer Abend. Neunzehnter Juni. In den Strassen lag der schläfrige stinkende Stadtsommer.

In dem Stückchen Garten hinter den goldenen Gittern war es wie am Land.

Die weissen Mandelblüthen, die weissen Akazien, die gelben Goldregensträucher dufteten.

Auf den kleinen runden Wiesen lagen dunkelgrüne dicke Guirlanden von glänzenden Lederblättern.

Das war die Gartenkunst, die Cultur.

Aber überall schimmerten verstreut gelbe Butterblümchen.

Das war gar keine Kunst. Das war die Natur.

Sie sassen auf eisernen federnden Sesseln.

Die junge Dame hatte ein Seidenkleid an von Heliotrope-Farbe. Die weiten seidenen Ärmel umsäumten weissgelbe Spitzen. Dann kam die Hand,[60] eine feine weisse Hand. Der junge Mann an ihrer rechten Seite betrachtete diese Hand wie ein lebendig gewordenes Kunstwerk; sie war so fein, so weiss und so beweglich. Jeder Finger war wie eine schlanke Ballerine und im Handgelenke ging das ganze kleine Kunstwerk auf und ab wie in einem Scharnier aus Stahl und Kautschuk.

Einmal sagte diese junge Dame zu einem Herren (sie trug damals ein hellgrünes Seidenkleid mit weissen seidenen Rüschen): »Was ist das, eine ›anständige‹ Frau?! Ist das ein Verdienst?! Ich fühle nur, dass das Leben, so wie es ist, gar keine Melankolie übrig lässt, keine Langweile und keine Sehnsucht – – –.«

Ich werde immer so sein. Es macht mir Freude, wenn man meine Toilette bewundert, meinen Geschmack. Ich küsse meinen Mann nicht, blicke ihn nicht zärtlich an; aber ich bin zufrieden, wie ein Kind an der Mutterbrust. Es saugt und saugt, hält still, schaut zur Mutter auf und saugt weiter und ist ausserordentlich befriedigt vom Dasein. Es ist wirklich wie in der Zeit, als man ein ganz kleines Thierchen war.

So lebe ich! Ich glaube, alle glücklichen Frauen leben so. Wie sollen sie denn leben?! Vielleicht in einem Sturme von Gefühlen?! Das ist ja nicht das Glück. Das Glück ist die Bewegung, die Ruhe geworden ist. Das ist das Glück!«

Jetzt sass sie, in einem Seidenkleide von Heliotropefarbe, im Stadtgarten, zwischen ihrem Gatten und Herrn Albert und athmete den feuchten kühlen[61] Duft der Wiesen, den süssen Hauch der Mandelblüthen, der Akazien ein.

Sie sagte: »Dichten Wir – – –!«

»Bitte sehr!«, sagte Albert.

»Sie sassen auf drei eisernen federnden Sesseln –«, dichtete die junge Frau.

Albert: »Es roch nach Mandelblüthen – –«.

»Nein«, sagte der Gatte, »es roch nach den Battistkleidern der kleinen Mädchen, nach Staub und nach Gummibällen.«

Sie: »Maria starrte auf die Fahne des Rathhausthurmes – – –.«

Er: »Albertus starrte auf die Fahne des Rathhausthurmes – – –.«

Sie (erröthend): »Sie dürfen mir nicht Alles nachsprechen; Sie müssen selbstständig dichten – – –.«

Er: »Auf der Fahne des Rathhausthurmes begegneten sich ihre Blicke – – –.«

»Guten Abend, Franzi«, sagte der Gatte und unterbrach die Poëten.

Das kleine Mädchen hatte ein rosenrothes Kleid an, wie ein Hemd. Die rundlichen Arme waren nackt und der Hals und die rosigen Beine auch.

Sie stand kerzengerade da und sagte: »Guten Abend.«

Dann setzte sie sich auf den Schooss des jungen Mannes, der die »Begegnung auf der Thurmfahne« gedichtet hatte.

Er legte seinen Arm um sie und drückte sie sanft, zärtlich an sich.[62]

Er sagte ihr leise ins Ohr: »Bertini Nmr. 18 –.«

»Pst!« sagte sie und wurde ganz roth.

Er stand auf und verabschiedete sich von dem jungen Ehepaare.

»Ich muss Frau M. aufsuchen«, sagte er.

»Ja gehen Sie,« sagte die junge Frau im Heliotropekleide, »man wird Sie schon erwarten – –.«

Sie reichte Ihm lächelnd ihre wunderschöne Hand.

Er spürte diese warme weiche sanfte Innenfläche. Wenn er sie freiliess, spürte die junge Frau dabei immer seine Bitte: »Oh, lass' sie mir noch ein bischen – – ein bischen. Was schadet es Dir?!« »Ich begleite Dich«, sagte das kleine Mädchen und hängte sich in ihn ein.

Arm in Arm gingen sie durch die dunstigen blüthenduftenden Alléen.

Er blieb stehen und grüsste.

Da sass eine Dame mit geistvollen nervösen Gesichtszügen und ein junges Mädchen mit aschblonden Haaren und einem bleichen edlen Antlitz.

Sie trug einen mattbraunen Strohhut mit weissen Chrysanthemen.

»Wir warten schon eine Stunde«, sagte die Mutter. »Wo waren Sie?!«

»Fräulein Franzi«, sagte der junge Mann und stellte seine kleine Freundin im rosenrothen Hemde vor.

Wo er war, sagte er nicht.

Die Kleine starrte das bleiche junge Mädchen an.

Ah, Kinderahnung, Kinderahnung – – –.

»Ich muss zurück zu Papa«, sagte sie.[63]

»Nein, bleibe noch da,« sagte Albert.

Er setzte sich neben das junge Mädchen mit dem bleichen Antlitz und nahm die Kleine auf seinen Schooss.

»Haben Sie den Albert gern?«, sagte das junge Mädchen und wurde ganz roth.

»Zuerst kommt der Grosspapa, dann kommt Jemand Anderer (es war die verstorbene Mutter) und dann kommt ›Er‹.«

»Und der Papa?!«, sagte die ältere Dame.

»Der kommt viel später«, sagte das kleine Mädchen fest und sicher.

»Du bist ein dummer Kerl«, sagte Albert und küsste das Kind.

Dieses schmiegte sich zärtlich an ihn an. Dann sprang sie auf, sagte adieu und lief davon.

»He, Franzi«, rief er ihr nach.

»Was denn?«, sagte das rosenrothe Hemd.

»Nichts!«, sagte der Herr.

»Ihre kleine Freundin scheint Sie sehr zu lieben«, sagte das junge Mädchen.

»Sie verderben selbst Kinder von elf Jahren«, sagte die Mutter gereizt.

»Ich gebe ihr das, was ihr lebendiger Vater und ihre todte Mutter ihr nicht geben können – – Liebe!«

Die Mutter sagte: »Man sollte Frauen, von neun Jahren an, nicht mehr mit Ihnen verkehren lassen.«

Sie meinte aber: »Alle, minus zwei« – – ihre Tochter und sie.

»Warum?«, dachte er, »ich kenne ein junges Weib[64] von 23 Jahren; sie hat wunderschöne weisse Hände und unsere Blicke begegnen sich auf der Rathhausfahne – – –. Was habe ich der gethan?! Was schade ich ihr?!«

Das junge Mädchen starrte auf den Kies in der Allée.

Albert sagte leise: »Bist Du böse, dass ich Dich warten liess – –?!«

Sie starrte auf den Kies in der Allée.

Sie dachte: »Böse, böse – –?! Was sind das für goldene Zeiten, in welchen man so reich ist, dass man noch böse sein darf. Königinnen zürnen, um die Versöhnung zu geniessen; doch Bettlerinnen – –?!«

Aber sie dachte das einfacher, rührender. Eigentlich dachte sie es gar nicht, sie empfand es.

Und sie starrte auf den Kies in der Allée, auf die kleinen runden Wiesen mit den dunklen Guirlanden und den hellen Butterblümchen, auf die vergoldeten Spitzen des Gartengitters – – –.

Die weissen Mandelblüthen, die weissen Akazien, die gelben Goldregensträucher dufteten in der warmen dunstigen Juniluft – –.

Albert sagte: »Die Welt ist reich und schön – –!«

Aber es war seine »innere Welt«. Denn die Welt um ihn herum war armselig und alltäglich.

Ist denn das auch unsere »innere Welt«, die duftenden Mandelblüthen, die weissen Akazien?! Und eine weisse Hand?! Und das Lächeln eines Kindes?! Und eine gebrochene Frauenseele?!

Auch!![65]

Quelle:
Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 8–91914, S. 60-67.
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