Jesus ist ihr alles

[181] 1

Nun will ich mich scheiden von allen Dingen

Und mich zu meinem Bräutgam schwingen,

Denn ihn allein hab ich erkiest.

Nichts kann im Himmel und auf Erden

Gefunden und genennet werden,

Daß er mir selbst nicht alles ist.
[181]

2

Ein anderer mag sich mit eitlen Schätzen,

So viel er immer kann, ergötzen,

Ich habe keinen Schatz als ihn.

Mein Dichten, Trachten und mein Sinnen

Und alles, was ich kann beginnen,

Geht nur nach meinem Jesu hin.


3

O Tausendgeliebter, du bist alleine,

Den ich von Grund des Herzens meine,

Du bist mir, was ich nur begehr.

Du bist mein Labsal, mein Getränke,

Mein Wunsch und was ich nur gedenke,

Mein Lebensbrunn und süßes Meer.


4

Du bist mein gnädiger Abendregen,

Mein hochgewünschter Morgensegen,

Du bist mein süßer Himmelstau.

Durch deinen Saft blüht meine Seele

In ihrer dürren Leibeshöhle

Wie eine Blum auf grüner Au.


5

Du bist mein erfreuliche Morgenröte,

Mein Abendstern, durch den ich töte

Die Traurigkeit der finstern Nacht.

Du bist mein Mond und meine Sonne,

Mein Augentrost und alle Wonne,

Die der gestirnte Himmel macht.


6

Du gibst mir alleine dieselben Schätze,

Durch die ich mich zufrieden setze,

Du bist mein Silber und mein Gold.

Ich achte höher dich alleine

Als Perlen und all Edelsteine

Und was von Fernen wird geholt.
[182]

7

Du bist mir ein blühender Rosengarten,

Ein Feld voll Blumen schönster Arten,

Ein Acker voller grüner Saat.

Du bist mein Lustwald, meine Weide,

Bist mein Gebirge, meine Heide,

Mein Land, das Milch und Honig hat.


8

O ewiglich blühender Nazarener,

Ich finde nichts dir gleich und schöner,

Du bist mein schönster Lilienzweig.

Du kannst viel besser mich erfreuen

Als tausend Tulpen in dem Maien

Und aller Gärten Schmuck und Zeug.


9

Du bist mir viel Wiesen und grüne Matten,

Mein Apfelbaum und lieber Schatten,

Den ich ganz inniglich begehr.

Auf dir, mein Bett und samtnes Kissen,

Kann ich der besten Ruh genießen,

Drum komm doch eilends zu mir her.


10

Du bist mir das lieblichste Musizieren,

Mein Jubel und mein Triumphieren,

Mein Zymbelton und Lustgesang.

Dich hör ich lieber als Trompeten,

Als Orgeln, Zinken und als Flöten,

Als Saitenspiel und Lautenklang.


11

Du speisest mein Herze mit Süßigkeiten,

Die keine Welt kann zubereiten,

An dir eß ich mich nimmer satt.

Du bist das Lusthaus meiner Sinnen,

Ein starker Turm und Schloß, darinnen

Mein Seelchen seine Wohnung hat.
[183]

12

Ich frage nun wenig mehr nach dem Himmel,

Nach Edens Lust und Weltgetümmel,

Du bist mir eine ganze Welt.

Du bist der Himmel, den ich meine,

Das Paradeis, das mir alleine

Vor allen andern wohlgefällt.


13

Es wird mir erwecken viel tausend Freuden,

Wenn ich von hinnen werde scheiden

Und kommen soll vor deinen Thron.

Dann wirst du mich in dich erheben

Und ewiglich zu schmecken geben,

Wie du bist all mein Gut und Lohn.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 181-184.
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