Sie bittet ihn um seine Liebe

[160] 1

Spiegel aller Tugend,

Führer meiner Jugend,

Meister meiner Sinnen,

Jesu, der vor allen

Mir vorlängst gefallen,

Laß dich liebgewinnen.


2

Laß mich in den Armen

Deiner Huld erwarmen,

Laß mich dich genießen[160]

Und in deinem Lichte,

Schönstes Angesichte,

Deine Lippen küssen.


3

Trage deine Flammen

In mein Herz zusammen,

Daß es sich entzünde

Und in heißer Liebe

Durch deins Geistes Triebe

Sich mit dir verbinde.


4

Zähle meine Tränen

Und mein kläglich Sehnen.

Wäge meine Schmerzen,

Die ich um dich leide,

Jesu, meine Freude,

Innerlich im Herzen.


5

Komm, erzeig dich milde

Deinem Ebenbilde;

Denn ich kann nicht leben

In des Leibes Höhle,

Wo du meiner Seele

Dich nicht willst ergeben.


6

Drum, so laß mich werden

Deine Braut auf Erden,

Daß ich kann mit Freuden

Meine Zeit vollenden

Und in deinen Händen

Aus der Welt verscheiden.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 160-161.
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