Sie bittet ihn als ihren Bruder um Erhebung zu seinem Kuß

[320] 1

Wer wird mir geben, daß ich dich,

Mein Bruder Jesu, küsse

Und deiner Liebe völliglich

Ohn alle Furcht genieße?

Wer wird mich über mich erheben

Und in dir gänzlich machen leben?


2

Du mußt mich selbst durch deinen Geist,

Mein Allerliebster, zieren,

Durch ihn mußt du mich allermeist

Zu deinem Kusse führen.

Durch ihn kann ich dir gänzlich leben

Und wie ein Bienlein an dir kleben.
[320]

3

Du hast ja meiner Mutter Brust,

Der Gottesbraut, gesogen,

Hast ihre Milch mit höchster Lust

In deinen Mund gezogen.

Du bist mein Bruder, kannst mir geben,

Daß ich nicht darf verächtlich leben.


4

Ach, sollt ich dich vor meiner Tür,

Mein Blutsfreund, Jesu, finden!

Ich wollte mich wohl so mit dir

Verknüpfen und verbinden,

Daß du dich müßtest mir ergeben

Und mich zu deinem Kuß erheben.


5

Darum beschwör ich dich, mein Freund,

Bei deiner Mutter Brüste,

Bei deiner Treu, die mich gemeint

Zu bringen aus der Wüste,

Daß du mich ganz in dir machst leben

Und wollst zu deinem Kuß erheben.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 320-321.
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