Sie wird aus dem Herzen Jesu getränkt

[324] 1

Denkt doch, ihr Hirten, was für Gunst

Der Psyche hat erzeigt umsonst

Jesus, der Gott der Liebe!

Sie lief in einen Wald hinein

Und sucht ein frisches Brünnelein,

Daß sie beim Ursprung bliebe.


2

Als sie nun manchen Tag und Nacht

Umsonst mit Suchen zugebracht,

Auch fast verschmachten sollte,

Kam er zu ihr, der süße Gott,

Und sprang ihr bei in ihrer Not,

Ihr gebend, was sie wollte.


3

Komm her, mein Schatz, sprach er zu ihr,

Ich bin, der deines Geists Begier,

Der deinen Durst kann stillen.[324]

Ich bin der Ursprung, der zur Stund

Erquicken kann dein Herz und Mund

Und seliglich erfüllen.


4

Und bald vor Lieb und Liebesschmerz

Entblößt er und durchstach sein Herz,

Es lassend auf sie sinken.

Da floß sein rosenfarbnes Blut

Auf sie wie eine milde Flut

Und gab sich ihr zu trinken.


5

Als solchs die Psyche nur erblickt,

Schrie sie voll Trost und ganz erquickt:

Dies ist die Wasserquelle!

Dies ist das Brünnlein, die Fontain,

Der Ursprung, den ich mein allein,

Den trink ich auf der Stelle.


6

Dies sprach sie und trank, was sie kunnt,

Ersättigend ihr Herz und Mund

Mit diesem selgen Bronne.

Sie tränkt ihr durstigs Seelelein

Und senkte sich oft ganz darein

Mit höchster Freud und Wonne.


7

Drum liegt sie noch voll Trost und Lust

An ihres süßen Gottes Brust

Und ist von ihme trunken.

Ihr ganzer Sinn, Verstand und Geist

Ist außer ihr und weggereist

Und in den Quell versunken.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 324-325.
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