[36. Kapitel]

Die Lalen haben mitleiden mit einem armen Nußbaum / vnd was sie mit jme

fürgenommen haben.

[122] Nicht ferne von Laleburg flosse ein Wasser fürüber /an welches Gestade ein grosser Nußbaum haußhielt: demselbigen hienge ein grosser Ast hinab biß vber das Wasser / vnd fehlet wenig / daß ers nicht berührt. Die Lalen sahen[122] eins mals solches / vnd dieweil sie einfeltige / liebe fromme Lale waren / deßgleichen Bawren man diß tags wenig findt / hetten sie hertzliches erbarmen vber den guten Nußbaum / vnnd grosses mitleiden mit jme: giengen deßhalben darumb zu rhat / zubedencken / was doch dem guten Nußbaum möchte angelegen sein / daß er sich also zum Wasser neige?

Als nun hiervon mancherley meynungen gefielen /sagt letztlich mein Herr der Schultheiß: Ob sie nicht närrsche Leute weren? sie sehen doch wol / daß der Baum an einem dürren ort stünde / vnd sich darumb auff das Wasser neige / daß er gern trincken wolt: er gedencke auch nicht anderst / dann daß derselbig niderste Ast des Baums Schnabel were / welchen er nach dem Trunck außstrecke. Die Lalen faßten kurtzen raht / gedachten ein Werck der Barmhertzigkeit zuthun / wann sie jhme zutrincken geben: legen derowegen ein grosses Seil oben an den Baum / stellen sich jenseit deß Wassers / vnd ziehen den Baum mit gewalt herab / vermeinten jhm also zutrincken geben. Als sie jn schier gar bey dem wasser hatten / befahlen sie einem auff den Baum zu steigen / jme den Schnabel vollends inn das wasser zutuncken. In dem nun derselb hinauff steiget / vnd den Ast hinunter in das wasser tuncket / so bricht den Bawren das Seil / vnnd schnellet der Baum wider vbersich / vnd schlegt ein harter Ast dem Bawren den Kopff ab / der fiel in das Wasser / daß jn die Bawrn nicht sahen / der Cörper aber fellt vom Baum herab / vnd hat keinen Kopff mehr.

Deßn erschracken die Bawrn sehr / besassen das Gericht auff der stett also stendlingen / vnd fragten vmb: Ob er auch ein Kopff gehabt hette / da er auff den Baum gestiegen sey? Aber es konte solches jren keiner wissen. Der Schultheiß sagt / er glaubte gentzlich / er het keinen gehabt / als er mit jhnen hinauß gegangen: dann er habe jm trey oder viermal geruffen / aber nie kein antwort von jhme gehört. Darauß er dann (als ein guter Lechmicus) schliesse: Habe er nichts[123] gehört / so hab er auch keine Ohren gehabt. Hab er keine Ohrn gehabt / so habe er auch keinen Kopff gehabt: dann die Ohren müssen ja am Kopff stehn. Doch wisse er es nit so gar eigentlich: darumb were sein rhat / man solte jemand heim zu seinem Weybe schicken / vnd sie fragen lassen: Ob jhr Mann auch heut morgens den Kopff hette gehabt / als er auffgestanden / vnd mit jhn hinauß gegangen sey?

Die Frawe sagt / sie wisse es nicht: aber das sey jhren noch wol bewußt / als sie verschienen Sambstags jme gezwagen / da hab er den Kopff noch gehabt / vnd vil vnflats hinder den Ohren: seidher habe sie nie so gutte achtung darauff gegeben. Dort an jener Wand / sagt sie / hengt sein alter Hut / wann der Kopff nicht darinnen stecket / so wirdt er jhn ja mit sich hinauß genommen / oder aber anderstwa hingelegt haben / das ich nit wissen mag. Also lugten sie vnter dem Hut an der Wand / aber da war nichts: vnd kan noch heut diß tages im gantzen flecken niemand sagen / wie es doch dem Lale mit dem Kopff ergangen seye: ob er jhn habe daheim gelassen / oder mit sich hinauß getragen.

Quelle:
[Anonym]: Das Lalebuch. Stuttgart 1971, S. 122-124.
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