Das Lied von Sigurdrifa.

[183] Sigurd ritt hinauf nach Hindarfiall und wandte sich südwärts gen Frankenland. Auf dem Berge sah er ein großes Licht gleich als brennte ein Feuer, von dem es zum Himmel emporleuchtete. Aber wie er hindurchkam, stand da eine Schildburg und oben heraus ein Banner. Sigurd ging in die Schildburg und sah, daß da ein Mann lag und schlief in voller Rüstung. Dem zog er zuerst den Helm vom Haupt: da sah er, daß es ein Weib war. Die Brünne war fest als wär sie ans Fleisch gewachsen. Da ritzte er mit Gram die Brünne durch vom Haupt herab und darnach auch an beiden Armen. Darauf zog er ihr die Brünne ab; aber sie erwachte, richtete sich empor, sah den Sigurd an und sprach:


Was zerschnitt mir die Brünne? Wie brach mir der Schlaf?

Wer befreite mich der falben Bande?


Sigurd.

Sigmunds Sohn: eben zerschnitt

Das Wehrgewand dir Sigurds Waffe.


Sigurdrifa.

Lange schlief ich, lange hielt mich der Schlummer,

Lange lasten Menschenlooße.

So waltete Odhin, ich wuste nicht

Die Schlummerrunen abzuschütteln.


Sigurd setzte sich nieder und frug nach ihrem Namen. Da nahm sie ein Horn voll Meths und gab ihm Minnetrank.


Heil dir Tag, Heil euch Tagessöhnen,

Heil dir Nacht und nährende Erde:

Mit unzorngen Augen schaut auf Uns

Und gebt uns Sitzenden Sieg.[183]


Heil euch Asen, Heil euch Asinnen,

Heil dir, fruchtbares Feld!

Wort und Weisheit gewährt uns edeln Zwein

Und immer heilende Hände!


Sie nannte sich Sigrdrifa und war Walküre. Sie erzählte, wie zwei Könige sich bekriegten: der Eine hieß Hialmgunnar, der war alt und der gröste Krieger, und Odhin hatte ihm Sieg verheißen:


Der Andre hieß Agnar, Adas Bruder:

Dem wollte Niemand Schutz gewähren.


Sigrdrifa fällte den Hialmgunnar in der Schlacht; aber Odhin stach sie zur Strafe dafür mit einem Schlafdorn und sagte, von nun an solle sie nie wieder Sieg erfechten im Kampfe, sondern sich vermählen. »Aber ich sagte ihm, daß ich das Gelübde thäte, mich keinem Manne zu vermählen, der sich fürchten könne.« Sigurd antwortete und bat sie, ihn Weisheit zu lehren, da sie die Mären aus allen Welten wiße.


Sigurdrifa sprach:

Bier bring ich dir, du Baum in der Schlacht,

Mit Macht gemischt und Mannesruhm,

Voll der Lieder und lindernder Sprüche,

Guter Zauber voll und Freudenrunen.


Siegrunen schneide, wenn du Sieg willst haben;

Grabe sie auf des Schwertes Griff;

Auf die Seiten Einige, Andere auf das Stichblatt

Und nenne zweimal Tyr.


Aelrunen kenne, daß des Andern Frau

Dich nicht trüge wenn du traust.

Auf das Horn ritze sie und den Rücken der Hand

Und mal ein N (Noth) auf den Nagel.


Die Füllung segne vor Gefahr dich zu schützen

Und lege Lauch in den Trank.

So weiß ich wohl wird dir nimmerdar

Der Meth mit Wein gemischt.


Bergrunen schneide, wenn du bergen willst

Und lösen die Frucht von Frauen,[184]

In die hohle Hand und hart um die Knöchel

Und heische der Disen Hülfe.


Brandungsrunen schneide, wenn du bergen willst

Im Sund die Segelrosse;

Aufs Steven sollst du sie und aufs Steuerblatt ritzen,

Dabei ins Ruder brennen:

Nicht so wild ist der Sturm, nicht so schwarz die Welle,

Heil kommst du heim vom Meere.


Astrunen kenne, wenn du Arzt willst sein

Und Wunden wißen zu heilen.

In die Rinde ritze sie und das Reis am Baum,

Wo ostwärts die Aeste sich wenden.


Gerichtsrunen kenne, wenn du der Rache willst

Deiner Schäden sicher sein.

Die winde du ein, die wickle du ein

Und setze sie alle zusammen

Bei der Mahlstätte, wo Männer sollen

Zu vollzähligem Gerichte ziehen.


Geistrunen schneide, willst du klüger scheinen

Als ein anderer Mann.

Die ersann und sprach, die schnitt zuerst

Odhin, der sie auserdacht

Aus der Flut, die gefloßen war

Aus dem Hirn Heiddraupnirs;

Aus dem Horn Hoddraupnirs.


Auf dem Berge stand er mit blankem Schwert,

Den Helm auf dem Haupte.

Da hub Mimirs Haupt an weise das erste Wort

Und sagte wahre Stäbe.


Auf dem Schilde stünden sie vor dem scheinenden Gott,

Auf Arwakurs Ohr und Alswidurs Huf,

Auf dem Rad, das da rollt unter Rögnirs (Oekuthôrs) Wagen,

Auf Sleipnirs Zähnen, auf des Schlittens Bändern.[185]


Auf des Bären Tatze, auf Bragis Zunge,

Auf den Klauen des Wolfs und den Krallen des Adlers,

Auf blutigen Schwingen, auf der Brücke Kopf,

Auf des Lösenden Hand und des Lindernden Spur.


Auf Gold und Glas, auf dem Glück der Menschen,

In Wein und Würze, auf der Wala Sitz,

Auf Gungnirs Spitze und Granis Brust,

Auf dem Nagel der Norn und der Nachteule Schnabel.


Geschabt wurden alle, die geschnitten waren,

Mit hehrem Meth geheiligt

Und gesandt auf weite Wege.

Die sind bei den Asen, die bei den Alfen,

Die bei weisen Wanen,

Einige unter Menschen.


Das sind Buchrunen, das sind Bergrunen,

Dieß alle Aelrunen

Und rühmliche Machtrunen,

Wer sie unverwirrt und unverdorben

Walten läßt zu seinem Wohl.

Lerne sie und laß sie wirken

Bis die Götter vergehn.


Wähle nun, da die Wahl dir geboten ist,

Scharfer Waffenstamm:

Sagen oder Schweigen ersinne dir selber;

Alle Meinthat hat ihr Maß.


Sigurd.

Nicht werd ich weichen, wär gewiss mir der Tod,

Ich bin nicht blöde geboren.

Deinem treuen Rath vertrauen werd ich

So lange mir Leben währt.


Sigurdrifa.

Das rath ich zuvörderst, gegen Freunde stäts

Ledig zu leben aller Schuld.

Sei zu Rache nicht rasch, wenn sie dir Unrecht thun:

Das sagt man, taugt im Tode.[186]


Das rath ich zum Andern, keinen Eid zu schwören,

Der sich als wahr nicht bewährt.

Grimme Feßeln folgen dem Meineid,

Unselig ist der Schwurbrecher.


Das rath ich zum dritten, daß du beim Dingmahl nicht

Mit läppischen Leuten rechtest.

Ein unkluger Mann kann oft doch sagen

Schlimmere Dinge denn er weiß.


Schlimm bleiben sie stäts, denn schweigst du dazu,

So dünkst du blöde geboren,

Oder nicht mit Unrecht angeklagt.

Viel liegt am Leumund,

Drum gieb dir Müh um guten.

Laß andern Tags sein Leben enden:

So lohne den Leuten die Lüge.


Das rath ich zum vierten, wenn eine Vettel wo

Am Wege wohnt, der Schanden voll,

Beßer als bleiben dabei ist fortgehn,

Uebernähme dich auch die Nacht.


Muntrer Augen braucht ein Menschensohn,

Wo es kommt zu heißem Kampf.

Am Wege sitzen böse Weiber oft,

Die Schwert und Sinn betäuben.


Das rath ich dir fünftens, wo du schöne Frauen

Sitzen siehst auf den Bänken,

Laß Weiberschönheit dir den Schlaf nicht rauben,

Noch hoffe sie heimlich zu küssen.


Das rath ich dir sechstens, wo Männer gesellig

Worte wechseln hin und her,

Trunken tadle nicht tapfre Männer:

Manchem raubt der Wein den Witz.


Tobende Trunkenheit hat Betrübniss schon

Manchem Manne gebracht,

Einigen Unheil, Andern den Tod;

Vielfältig ist das Leiden.[187]


Das rath ich zum siebenten, wo du zu schaffen hast

Mit beherzten Helden,

Mehr frommt fechten als in Feuer aufgehn

Mit Hof und Halle.


Das rath ich dir achtens, Unrecht zu meiden

Und List und lose Tücke;

Keine Maid verführe, noch des Andern Gemahl,

Verleite sie nicht zur Lüsternheit.


Das rath ich dir neuntens, nimm dich des Todten an

Wo du im Feld ihn findest,

Sei er siechtodt oder seetodt,

Oder am Stahl gestorben.


Ein Hügel hebe sich dem Hingegangenen,

Gewaschen seien Haupt und Hand.

Zur Kiste komm er gekämmt und trocken,

Und bitte, daß er selig schlafe.


Das rath ich zum zehnten, zögre zu trauen

Gesipptem Freund des Feindes,

Dessen Bruder du umbrachtest,

Dessen Vater du fälltest:

Dir steckt ein Wolf im unmündigen Sohn,

Hat gleich ihn Gold beschwichtigt.


Wähne Streit und Haß nicht eingeschlafen,

Noch halte Harm für vergeßen.

Witz und Waffen wiße zu brauchen,

Der von Allen der Erste sein will.


Das rath ich dir eilftens, betrachte das Uebel,

Welchen Weg es nehmen will.

Nicht lange wähn ich des Königs Leben:

Uebler Trug ist angelegt.


Sigurd sprach: Kein weiseres Weib ist zu finden als du, und das schwör ich, daß ich dich haben will, denn du bist nach meinem Sinn. Sie antwortete: Dich will ich und keinen Andern, hätte ich auch zu wählen unter allen Männern. Und dieß befestigten sie unter sich mit Eiden.

Quelle:
Die Edda. Stuttgart 1878, S. 183-188.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Die Familie Selicke

Die Familie Selicke

Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon