LXIIII.

[60] 1. Ich sach mir für einem walde,

ein feins hirschlein stan,[60]

Es lies sich bedüncken gar balde,

wo es sein narung möcht han,

Es lieff schnell uber ein brücken,

es meint es solt jhm gelücken,

ob es möcht finden sein speis,

sucht das hirschlein mit gantzem fleis.


2. Der jäger mit seinen hunden,

der eilet den spürlin nach,

Schafft alles des kleffers munde,

das ich dich meiden mus.

Zu dir wil ich bald kommen,

du zarte, du schöne, du fromme,

wo es könt und möcht gesein,

ach feins megdelein bey dir allein.


3. Ein fälcklein außerkoren,

ich bit vergis nit mein,

Mein dienst hab ich dir geschworen,

zu der zeit wenn du bist mein.

Du machst mir vil zu schaffen,

da stund das megdlein unnd lachet,

Gott grüsse dich megdlein fein,

ey was machestu hie allein.


4. Sag mir du stoltzer jäger,

wie es dir nechten ergieng.

Einer hinden hat ich gestellet,

ein stoltzes hirschlein ich fieng.

Es warff sich im netzlein herumbher,

es deucht sich je lenger je thummer,

ich stach dem hirschlein ein loch,

ey den schaden tregt es noch.


5. Ich bit dich gantz inniglich,

meins hertzen ein innigkeit,

Du wölst dich tugentlich bewaren eine kleine zeit.

Zu dienen und auch zu rahten,

von dem megdlein wil ich nit lassen,

ich wil dir dienen nach aller deiner ehr,

ach feins megdelein was wiltu mehr.[61]


6. Das megdlein an der zinnen lag,

sie sah zum fenster hinaus,

Aus rechter lieb und trewe,

warff sie mir zwei krentzelein raus.

Das eine war von feyel,

das ander von grünem klee,

sol ich dich feins lieb meiden,

meinem hertzen dem geschicht gros wehe.


7. Ach scheiden immer scheiden,

und wer hat dich erdacht,

Du hast mir mein junges hertze,

aus freuden in trawren gebracht.

Du hast mir mein junges hertze,

gebracht in schwere pein,

was ich dis jahr gefreyet hab,

ey das führt mir ein ander heim.

Quelle:
[Anonym]: Das Ambraser Liederbuch vom Jahre 1582. Stuttgart 1845, S. 60-62.
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