Zehnte Szene

[253] Hedwig, dann Resi.


HEDWIG. Die Wahrheit – vor ihnen wie vor dir! Ah, daß ich's endlich von der Seele habe! – Nun ist's vorbei, er kann mich nimmer halten wollen, und sie können mich nach dem Vorgefallenen nicht mehr in seinen Händen lassen – ich bin frei, und nichts hält mich mehr da, wo mich nichts bindet. Sie blickt nach der Wiege, tritt hinzu und kniet an derselben nieder. Oh, daß du leben bliebest – wie andere rosig und lächelnd – zänkisch und greinend – wie andere so unausstehlich lieb! Ah, armes Ding, mir läuft ein Schauer über den Rücken bei dem Gedanken, daß ich dich geboren habe. Etwas, nur bestimmt, zu liegen die Tage und Nächte, zu leiden, zu wimmern und zu sterben, ohne gelebt zu haben! Erhebt sich rasch. Wenn sie sich aber auf dich berufen, um mich hier festzubannen –? Ich leugne, daß du ein Kind bist, ich leugne es! Und sie werden mir so kommen, sie werden mich zu bereden suchen, sie werden gegen mich sein, alle! Soll ich sie erwarten? Noch einmal das Opfer eines Versuches werden? Man kann Haß versöhnen, Unrecht vergessen, Sünde verzeihen, aber der Verachtung kann man nicht abhelfen! Das kann man nicht! – Ich muß fort – rasch entschlossen – solang ich noch den Freund in der Nähe habe und ihn zu finden weiß! [253] Sie drückt auf die Glocke, die auf dem Tische steht. Ich will zu ihm – Robert soll mir raten. Welchen Weg er weist, diesmal folg ich ihm unbedingt auf jedem.

RESI tritt aus der zweiten Tür im Hintergrunde. Befehlen, gnä Frau?

HEDWIG. Bleib im nächsten Zimmer, und wenn das Kleine sich rührt, so sieh nach. Geh!


Resi ab, wo sie gekommen.


HEDWIG hat rechts vom Tische gestanden, tritt nun zur Türe, durch welche Stolzenthaler abgegangen, und schiebt den Riegel vor. Sie geht hinüber zur Wiege. Sei gut – wo ich auch sein werde, ich lasse dich bald zu mir holen. Mein armes Flämmchen, du sollst bei mir verlöschen. Sie schrickt empor, deckt den Schleier über das Kind. Ein Wagen! – Sie kommen – hinweg! Sie eilt an das Fenster, das im Hintergrunde rechts offensteht, und schwingt sich aus demselben, dabei entfällt ihr das Taschentuch – kleine Pause.


Quelle:
Ludwig Anzengruber: Werke in zwei Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21977, S. 253-254.
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