VI

[325] Der Widerhall zweier Schüsse, der rings in den Bergen nachgrollte, hatte das weite Tal in Aufregung versetzt, das Dorf war belebter wie an einem Feiertage, es litt die Leute nicht auf dem Felde und nicht in den Stuben, und wer nicht durch[325] die Gassen strich, der trat doch unter seine Haustüre; in Gruppen, die sich wechselnd sammelten und lösten, besprach man sich lebhaft, und jeder versuchte in seiner Art und nach seinem Meinen das Geschehene vorherzusagen, und wer im Orte bei Amt und Ansehen war, vom Gemeindediener bis zum Bürgermeister, hatte diejenigen zu beschwichtigen, die überzeugt waren, der Einsam habe beide Gendarmen von der Wand geschossen und käme sicher noch heut nacht zugeschlichen, um das Dorf in Brand zu stecken. Nur der Pfarrer ließ sich nicht blicken, und der Pfarrhof lag so ruhig auf seiner Höhe, wie wenn ein gewöhnlicher Tag wäre und als könne Furcht und Schreck, von denen die da unten bewegt werden, nimmer zu ihm ansteigen.

Spät am Nachmittage pochte es an die Stubentüre des Pfarrers, und ohne den Zuruf abzuwarten, trat der Bürgermeister ein. »Schöne Bescherung«, keuchte er und ließ sich ohne Umstände in einen Stuhl fallen.

»Nun, was gibt's, Bürgermeister?« fragte der Pfarrer, von dem Buche, über dem er saß, aufblickend.

»Furchtbare Gschichten, Hochwürden, furchtbare Gschichten! Der Einsam hat Wort ghalten und sich zur Wehr gsetzt; ein Schandar hat er angschossen und wollt grad über ihn her, da hat der zweite auf ihn antragn und losbrennt und hat 'n nur z' gut troffen; hin ist er!«

»Der Bursche tot? Gott verhüt es!« rief der Pfarrer, sich rasch vom Sitze erhebend.

»Ei mein, da verhüt sich nix mehr, maustot is er.«

»Ach, daß das so übel ablaufen mußte«, seufzte der Pfarrer. »Ich dachte nicht, daß er es im Ernste drauf würde ankommen lassen, aber wenn er sich zur Wehr setzte, dann wußte er auch, daß ihm das bevorstehen konnte! Da habt Ihr's, Bürgermeister, störrisch bis zum letzten, wider alle und wider alles, ganz ungefüg für die menschliche Gemeine; wohin würde das auch noch am Ende geführt haben?«

»Na, das mag mer wohl sagn, Schad is just keiner!«

»Es ist das traurig, sehr traurig, und wir können es beklagen,[326] aber« – der Pfarrer hob die Schultern – »wir haben uns nichts vorzuwerfen, unser Vorgehen war gesetzlich und notwendig, und dieser Verlauf entzog sich eben aller menschlichen Voraussicht, der Bursche selbst hat alles getan, um ihn herbeizuführen; nun es so ist, sei Gott seiner Seele gnädig!«

»Amen«, brummte der Bürgermeister. Und nach einer Pause begann er wieder: »Aber 's Schönste – daß ich sag –, dös kommt erst nach! Der Schandar hat sein verwundten Kameraden herunterschaffen, auf ein Wagen bringen und nachm Komanda führen lassen, er selber aber hat sich mit der Leich vom Einsam aufn Weg gmacht, und jetzt bringt er uns 'n daher!«

»Wie, hierher nach unserm Dorf? Ja, wie konnte er das nur?«

»Na, tragn ihm 'n doch vier Männer auf einer Bahr.«

»Eh«, machte ärgerlich der Pfarrer. »So geradezu ist das ganz unüberlegt und voreilig –«

»No ja, jetzt habn wir 'n aber einmal da, und ich tät recht schön bitten, Hochwürden möchten gstatten, daß er halt derweil, bis d' Beschau kommt, in der Totenkammer aufm Freithof beigsetzt wird; sonst legn s' mer 'n frei ins Gmeindhaus, und ich könnt vor Graus dort nimmer verbleibn.«

»Ich habe nichts dagegen. Der Mesner hat die Schlüssel in Verwahrung. Lassen Sie aufschließen. Aber den Gendarmen rufen Sie mir, mit dem Mann möcht ich sprechen.«

»Werdn ihn eh gleich da habn und alls mit, was aufn Füßen is, ich bin nur vorauf, ebn daß wir d' Schlüssel kriegn. Da hör ich s' ja schon kommen!«

Von außen schlug das Gebrause einer nahenden Menge herein. Der Pfarrer und der Bürgermeister traten an das Fenster. Da wogte es von unten herauf, eine schwanke Tragbahre in der Mitte, vor der alle scheu zurückwichen, so daß sich um sie ein stetig freibleibender Fleck zeigte und rundum ein dunkler Ring, in dem sich alles drängte und wirrte und stieß, und so wälzte sich das Ganze langsam heran.

Als die Leute des Pfarrers ansichtig wurden, hielten sie[327] stille und rückten die Hüte, und die Träger setzten ihre Last gerade unter dem Fenster ab. Der Pfarrer dankte, mit einem scheuen Blick streifte er die Bahre und trat zurück.

»Herr Schandar, sollts hraufkommen«, rief der Bürgermeister zum Fenster hinab.

Wenige Augenblicke darauf trat der Gerufene in die Stube, und hinter ihm drängte sich ungebeten eine Schar ein, Männer und Weiber, Bursche und Dirnen, auch Kinder, die sich scheu in die Ecken drückten oder an die Kleider der Angehörigen klammerten.

»Guten Tag, Hochwürden«, grüßte der Gendarm.

»Guten Tag! Sagen Sie mir nur, wie konnten Sie denn, ohne eine Weisung abzuwarten, den Leichnam hieher schaffen lassen?«

»Entschuldigen, Herr Pfarrer, aber den konnt ich ebensowenig obenlassen wie mein verunglückten Kameraden, der mußte in die Pfleg, und der Tote muß vor die Beschau, und die Herren vom Gericht, die können wir nit da hinaufbemühen, den Kreisphysikus kenn ich, das is schon ein alter Herr, dem hätt man sowieso die Leich beistellen müssen.«

»Gut, aber konnten Sie denn nicht vorläufig die Leiche dort in der Nähe in einer Hütte unterbringen?«

»Nein, Hochwürden, da scheuen sich die Leut zuviel, bemüssen kann man s' nit, und bereden würd man s' nit, das wär verlorne Zeit.«

»Nun, lassen wir's gut sein, es ist einmal geschehen. Aber sagen Sie mir, weiß man nun, wo der Bursche her ist und wie er heißt?«

»O ja«, der Gendarm griff nach seiner Brusttasche, »bei der Nachsuchung hat sich ein Taufschein gefunden. Er is von Gutenhofen, der unehliche Sohn der Kleinhäuslerstochter Julian Auhofer.«

»Jesus, Maria!« schrien plötzlich einige auf.

Das Gesicht des Pfarrers war fahl geworden, seine Züge, aus denen starres Entsetzen sprach, arbeiteten, als erstickte es ihm einen Schrei oder würgte ihn ein Wort; mit beiden[328] Händen griff er hinter sich nach der Mauer, glitt an derselben nieder und schlug schwer zu Boden.

Man sprang ihm bei, und als er wieder zu sich kam und man ihn aufrichtete, da stammelte er: »Geht! – Ein Glas Wasser! – Es wird sich ja geben. – Geht – laßt mich allein!« Er wies die Leute fort, zögernd drängten sie nach der Türe, und langsam verließ einer um den andern die Stube.

Und als er allein stand, da blickte er nach jener Ecke, wo das Bildnis des Gekreuzigten hing, lange starrte er auf dasselbe hin, plötzlich rang er die Hände ineinander und hob sie empor.

»O Herr! Strafst du an den Gefühlen, die wir verleugnen?!«

Dann wankte er zu dem Betschemel, dort kniete er, zusammengekauert, und Schauer und Schauer schüttelte seinen Leib.


Und als der Mond heraufkam und durch das Fenster lugte, da saß der Mann bei Lampenlichte, seine linke Hand lag schlaff auf einem Blatte Papier, das seine zitternde Rechte in ungefügen Zügen beschrieb.

»Euer Eminenz! Bei der väterlichen Huld und Gnade, die ich nie vergebens angerufen, beschwöre ich Sie –«

Die Flamme flackerte unruhig, durch eine eindringende Welle der Luft bewegt, die außen milde dahinstrich und in der alles badete in lauer Sommernacht; sie fächelte auch um den Toten, der einsam lag, ungerührt. Oh, daß nichts in seinem Wesen, seinen Zügen als verwandt gemahnte! – Der Schreiber fuhr jäh empör, und die Feder kreischte über das Blatt.

»Entheben Sie mich sofort meiner Stelle hier, und lassen Sie mich in einem Orden strengster Observanz meine Tage beschließen. Von einem furchtbaren Geschicke ereilt, unwürdig befunden, ein Rüstzeug des Herrn zu sein, liege ich unter seiner Hand zerbrochen.«

Er hob die Augen zum Himmel empor. – Wie bleich der[329] Mond hersieht! So bleich und unbewegt ist wohl auch das Gesicht des Toten – und jetzt könnte man in dessen Zügen forschen – wenn nicht der Blick vor Grauen versagte!

Noch einmal ermannte er sich und schrieb weiter: »Sobald ich von hier erlöst sein werde, eile ich zu Euer Eminenz, Beichte abzulegen, zerknirscht, doch ohne Hoffnung auf Sühne, denn mit furchtbarer Klarheit ist mir der Sinn dafür erschlossen worden, daß es Verschuldungen gibt, die, nach den Worten der Schrift, weder hier noch dort vergeben werden, weil wir selbst sie uns nicht verzeihen können und der milde Vaterblick des Allerbarmers durch das Düster unserer Seele verschleiert bleibt.«

Da versagte der Lampe die Nahrung, der Docht glimmte matt, einem Ölflämmchen gleich, wie eines jetzt zu Häupten des Toten leuchtete, und in einem Lichtkreise, schwank und ungewiß, wie er hier über der Tischplatte zuckte, starrte das Gesicht!

»Ich komme ja«, rief der Pfarrer, sich erhebend, »ich komme! Ich will dich noch einmal sehen mit andern Augen – mit anderen Augen!«

Er brannte das Wachslicht einer kleinen Handlaterne an, verließ den Pfarrhof und trat hinaus in die sternenhelle Nacht, aber er blickte vorsichtig um sich und barg das Licht unter seinem Kleide, daß es seinen nächtlichen Gang nicht verrate, und mit hastigen Schritten glitt er dahin, vorbei an der Kirche, um deren Ecke, nach dem eisernen Gittertore, das auf den grasbewachsenen Friedhof führte; hier schlugen schwanke Halme gegen seine Füße, nicht breite, schwere Blätter wie damals, als er durch jenes Gärtchen, in welchem mehr Klette als anderes wuchs, so verstohlen zur Mutter schlich – wie jetzt zu dem Kinde.

Als er die Türe der Totenkammer öffnete, da dröhnten die Eisenplatten, und mit einem langgezogenen, schrillen Tone drehte sie sich in den verrosteten Angeln. Und als er des Toten ansichtig wurde, da deckte er erst die Augen mit der Hand und zog diese mählich weg, als wolle er sich an[330] den Anblick gewöhnen; er faltete die Hände, als bäte er dem bleichen Burschen etwas ab, dann streckte er wie beschwichtigend die Rechte gegen ihn und legte sie ihm auf das Haupt.

Er zog sie durchschauert zurück.

Und jetzt mahnte ihn dieses Antlitz mit den finster zusammengezogenen Brauen an ein anderes, das plötzlich lebhaft in der Erinnerung vor ihm stand, wie er es gesehen in jener Scheidestunde für dieses Leben, wo er, unmännlich genug, dem andern Teile die größere Schuld an der gegenseitigen Versündigung vorwarf. Ja – hier derselbe Mund mit den trotzig aufgeworfenen Lippen, zwischen denen die kleinen, ebenmäßigen Zähne vorblicken, und dem verachtenden Zuge um die Winkel, er dürfte sich eben geschlossen haben über den Worten – oh, wer sie beherzigt hätte, jene Worte:

»Ich denk, du hättest es verspielt, anderer Leut Richter zu machen!«

Quelle:
Ludwig Anzengruber: Werke in zwei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21977, S. 325-331.
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