Fünfundvierzigster Gesang

[383] 1.

Siehst du der armen Menschen einen gehen

Recht hoch auf der Fortuna flücht'gem Rad,

Dann sei gefaßt, die Füße bald zu sehen,

Wo er den Kopf jetzt hat, auf seinem Pfad.

Als Zeugen Dionys und Krösus stehen,

Polykrates und viele, die, gerad

Im höchsten Glück sich wähnend in Gedanken,

An einem Tag hinab zum Elend sanken.


2.

Und umgekehrt: liegt einer auf dem Grunde,

Daß ihn das Rad recht tief im Staube hält,

So naht am allerersten ihm die Stunde,

Da er sich aufschwingt, in die Höh' gestellt.

Vom Todesurteil wurde manchem Kunde,

Der andern Tags Gesetze gab der Welt.

Ventidius, Servius, Marius bewiesen

Vor Zeiten solches: Ludwig tat's in diesen,


3.

Ludwig der König, unsers Ercol Schwäher,

Sohns meines Herrn: – besiegt bei Sankt Albin,

Geriet er in des Feindes Klauen, näher

Dem Richtblock als der Krone hielt man ihn.

In größerer Gefahr noch, etwas eher,

Befand der Held Matthias sich, Corvin:

Der ward für Frankreich, als der Sturm beschworen,

Der andre für der Ungarn Thron erkoren.
[384]

4.

Man sieht, gar manches Beispiel kann's belegen

Aus der Historie alt' und neuer Zeit:

Es folgt das Gute nach den Schicksals schlägen,

Und hinterm Ruhme steht der Schimpf bereit.

Drum soll der Mensch kein blind Vertrauen hegen

Auf Länder, Schätze, Sieg und Herrlichkeit,

Im Unglück nicht verzweifelt sich erweisen;

Denn immer muß das Rad Fortunas kreisen.


5.

Der Sieg, den Roger hat davongetragen

Über des Kaisers und des Prinzen Heer,

Gibt ihm ein solch Vertrauen: voll Behagen

Glaubt er nur an sein Glück und seine Wehr;

Ohne Geleite, meint er, könn' er's wagen,

Ob auch kein einz'ger Helfer mit ihm wär',

Durch Tausende zum Kaiser hinzudringen

Und ihm und seinem Sohn den Tod zu bringen.


6.

Doch sie, die nicht will, daß man auf sie zähle,

In wenig Tagen jetzt ihm deutlich macht,

Daß sie bald Gunst, bald Feindschaft sich erwähle,

Zu heben und zu stürzen sei bedacht.

So stiehlt sich jetzt, nach des Geschicks Befehle,

In Eile jener Ritter durch die Nacht;

Er hatte sich der Schlacht mit Müh' entwunden,

Und dann den Weg zu jenem Haus gefunden.


7.

Der sorgt dafür, daß Ungard rasch erfahre,

Der Krieger, der die Macht des Konstantin

Gebrochen habe dort für viele Jahre,

Der weil' in seinem Haus; nachts find' er ihn:

Greif' er den Mann, werd' er das Glück, am Haare

Gepackt, ohn' alle Müh' zum Kaiser ziehn

Und diesem fernre Müh' und Kampf ersparen;

Denn unters Joch dann zwing' er die Bulgaren.
[385]

8.

Schon war dem Schloßherrn der Bericht geworden,

Durch flüchtig Volk, vom Kampf an jenem Ort

(Sie kamen nach und nach an Flusses Borden;

Denn alle faßte nicht die Brücke dort);

Gemeldet war ihm auch das große Morden:

Der Griechen Streitmacht schwand zur Hälfte fort.

Dies hab' ein einz'ger Rittersmann verrichtet,

Gerettet jenes Heer und das vernichtet.


9.

Der hat nun, ohne doch gejagt zu werden, –

Ihn wundert's – selbst den Kopf zum Netz gebracht.

Wie das ihn freut, er zeigt es durch Gebärden

Und frohen Blick und Mund, – und lacht und lacht,

Wartet, bis jener schläft; dann ganze Herden

Schickt er von seinen Leuten sachte, sacht.

Der gute Ritter – arglos – wird im Bette

Ergriffen und gefesselt mit der Kette.


10.

Herr Roger liegt zu Novengrad in Banden,

Verraten, ach, von seinem eignen Schild;

Und Ungard jubelt laut, daß sie ihn fanden:

Wie sonst kein zweiter ist er bös und wild.

Was tut nun Roger, den sie schlafend banden?

Was tut er, nackt wie Röhricht im Gefild?

Zu Konstantin muß gleich ein Bote jagen

Von Ungard, um die Nachricht hinzutragen.


11.

Der Kaiser war vom Savestrand voll Bangen

Nachts umgekehrt mit seiner ganzen Schar

Und bis nach Beletich zurückgegangen,

Das Androphil, dem Schwager, eigen war,

Vater des Herrn, durch den hindurchgegangen

(Als sei die Rüstung weiches Wachs fürwahr)

Der erste Speerstoß jenes kühnen Ritters,

Der dort bei Ungard saß in Haft des Gitters.
[386]

12.

Der Kaiser läßt die Mauern stärker bauen,

Die Tore fest'gen gegen Feindesstoß;

Denn den Bulgaren ist es zuzutrauen,

Daß sie mit einem Führer alsogroß

Ihm seines Heeres Rest zusammenhauen,

Nicht mehr zufrieden mit dem Schrecken bloß.

Jetzt, als man den gefangen ihm verkündet,

Scheut er sie nicht, mit aller Welt verbündet.


13.

Der Kaiser schwimmt in einem Wonnemeere;

Was er vor Freude tun soll, weiß er nicht.

»Nun ist es aus mit dem Bulgarenheere!«

So ruft er fröhlich und voll Zuversicht,

Als ob des Siegs er schon so sicher wäre,

Wie einer, der dem Feind die Arme bricht.

Zu solcher Höh' empor schoß sein Verlangen,

Als er vernahm, der Ritter sei gefangen.


14.

So wie der Vater, mit vergnügten Sinnen

Hört es der Sohn: als Sieger nicht allein

Denkt er zu weilen bald in Belgrad drinnen

Und alles Land vom Feinde zu befrein,

Durch Lohn den fremden Helden zu gewinnen

Für seine Kriegsschar hofft er obendrein.

Wohl darf er Karl Rinald und Roland lassen,

Will dieser seine Hand als Freund erfassen.


15.

Um andres kommt nun Theodora bitten,

Die Mutter jenes Ritters, der die Quer

Ward von der Brust zum Rücken durchgeschnitten

– Die Spitze flog hinaus – durch Rogers Speer.

Sie kommt zum Bruder, Konstantin, geschritten,

Wirft sich zu Füßen ihm mit Tränen schwer,

Die reichlich auf den Busen sich ergießen,

Und sucht sein Herz dem Mitleid zu erschließen:
[387]

16.

»Ich werde«, rief sie, »mich nicht mehr erheben,

Bis du, o Herr, zu strafen willig bist

Den Schuft, der meinem Kinde nahm das Leben,

Nun er in unsre Hand gefallen ist.

Bedenk, er war dein Neffe, dir ergeben,

Hat sich für dich bewährt zu jeder Frist,

Und unrecht wär's, wenn er für so viel Liebe

Ohne die Rache an dem Mörder bliebe!


17.

Gerührt von unserm Leide, müßt Ihr wissen,

Nahm Gott den Wütrich fort in seiner Gnad':

Just wie ein Vogel war er selbst beflissen,

Zu fliegen in das Netz hinein gerad,

Damit mein Sohn nicht lange schmerzzerrissen,

Bleib' ungerächt dort an des Styx Gestad'.

O gib ihn mir, Herr, daß mit deinem Willen

Ich meine Qualen mög' an seinen stillen!«


18.

Sie weint und fleht so sehr; ihr ist verliehen

Dabei Beredsamkeit von solcher Macht –

Sie will sich nicht erheben von den Knieen

(Wenngleich drei-, viermal Konstantin bedacht

Mit Wort und Tat, sie in die Höh' zu ziehen) –,

Daß sie den Kaiser schließlich mürbe macht

Und er nach dem Gefangnen schickt am Ende:

Man liefert ihn der Dame in die Hände.


19.

So wird der Ritter denn – ich fürcht', ich bleibe

Zu lange Zeit bei diesem Gegenstand –

Nun übergeben jenem grimmen Weibe,

Eh mehr als dieser eine Tag entschwand.

Daß er mit Schande bei lebend'gem Leibe

Gevierteilt werde, sie zu glimpflich fand

Und kleine Strafe, und nach langem Sinnen

Beschloß sie ein schier unerhört Beginnen.
[388]

20.

Die Furie legte ihn, den Hals umschlossen

Und Fuß und Hand mit Ketten, ins Verlies,

Drein nie Apollos Strahlen sich ergossen,

Wo sich der Grund am schwärzesten erwies.

Ein wenig muffig Brot nur ward genossen

Von ihm als Speise, manchmal fehlte dies

Zwei Tage lang; als Wächter mußte stehen

Ein Kerl, der's ihm noch schlimmer ließ ergehen.


21.

O würde doch der Haimonstochter Kunde,

Der kühnen! Nähme doch Marfisa wahr,

Wie Roger wird gequält auf Turmes Grunde

So jämmerlich, jedweder Hilfe bar!

Wie trotzten Beide dann, vereint im Bunde

Zu seiner Rettung, jeglicher Gefahr!

Die Tochter würde nicht erst Haimon fragen

Oder die Mutter, um herbeizujagen.


22.

Karl dachte des Versprechens mittlerweile,

Gegeben feierlich an Bradamant:

Sie werde keinem Manne je zuteile,

Der in den Waffen nicht vor ihr bestand.

Trompeten melden's laut; es fliegt in Eile

Vom Hof die Botschaft durch das ganze Land

Und in die Welt hinaus nach allen Seiten,

So weit sich nur des Reiches Grenzen breiten.


23.

Und dies verkündet der Trompeten Klingen:

Wer um die Tochter Haimons wolle frein,

Der such' in Waffen auf sie einzudringen

Vom Morgenlichte bis zum Abendschein.

Laß er bis dahin nicht sich niederzwingen,

Sei ohne weiteres die Dame sein;

Sie woll' als überwunden sich bekennen

Und nicht sich weigern, Gatten ihn zu nennen,
[389]

24.

Ohne nach seinem Namen nur zu fragen;

Die Wahl der Waffen stelle sie ihm frei,

Gewohnt, auf alle Weise sich zu schlagen,

Ob es zu Pferd, ob es zu Fuße sei.

Der Krone trotzen! – Haimon kann's nicht wagen

Und will es nicht; zuletzt drum stimmt er bei,

Und er beschließt, zum Hof – nach viel Bedenken –

Mit Bradamant den Schritt zurückzulenken.


25.

Ob Zorn und Groll die Mutter noch beschweren,

So läßt sie doch manch glänzendes Gewand

Dem Kind bereiten zu des Hauses Ehren,

Vom feinsten Schnitt und Farben allerhand,

Um dann mit ihr zum Hof zurückzukehren:

Als Bradamant den teuren Mann nicht fand,

Da meinte sie des Hofes Glanz geschwunden,

Den sie vorher so zauberhaft gefunden.


26.

Wer einen Garten sah, mit grünen Zweigen

Geschmückt, und holden Blumen im April,

Und schaut ihn wieder, wenn sich südwärts neigen

Am kurzen Tag die schräge Sonne will,

Dem wird die Stätte nichts als Öde zeigen:

So scheint der Hof dem Fräulein öd und still

Und – seit der Vielgeliebte ihn gemieden –

Nicht jener mehr, von dem sie jüngst geschieden.


27.

Sich zu erkundigen – sie darf's nicht wagen

(Vermehrt ja würde dann nur der Verdacht) –

Sie lauscht und hofft, es werd' auch ohne Fragen,

Wo Roger weile, wohl ihr kundgemacht.

Man weiß, das Roß hat ihn davongetragen;

Wohin jedoch, das ward nicht hinterbracht.

Zu hören hat kein Mensch ein Wort bekommen,

Der Knappe nur, – den hat er mitgenommen.
[390]

28.

O wie sie seufzt! Wie weint sie voller Bangen,

Daß er die Flucht, um sie zu meiden, nimmt!

Sie zu vergessen, sei er wohl gegangen:

Das ist, was über alles sie verstimmt.

Er sei, verzweifelnd, je sie zu erlangen

(Denn Haimon sah er gar so sehr ergrimmt),

Fernhingezogen, nur, um zu verschwinden

Und sich dem Bann der Liebe zu entwinden.


29.

Vielleicht hab' ihn der Plan hinweggetrieben,

Sich diese Neigung aus dem Sinn heraus-

Zubringen und ein ander Weib zu lieben:

Dann löschten ja die ersten Gluten aus,

So wie man sagt, daß man vom Holz mit Hieben

Auf Nägel jagt die Nägel gut hinaus.

Auf den Gedanken aber folgen neue

Und zeigen ihren Roger voller Treue:


30.

Und ihr, der Törin, sei es schlecht zu danken,

Daß sie dem Argwohn hab' ihr Ohr geliehn.

So schilt und lobt sie Roger in Gedanken;

Bald hierhin will sie's und bald dorthin ziehn.

Sie muß hinüber und herüber schwanken;

Zur Sicherheit ist ihr noch nichts gediehn.

Doch scheint's, daß sie bei guter Meinung bleibe:

Sie hält die andre schaudernd sich vom Leibe.


31.

Dann wieder muß sie Rogers Wort erwägen,

Das er so viele Male ihr gesagt,

Und reuig will sich ihr Gewissen regen,

Sie hab' ihn oft mit Eifersucht geplagt,

Und schuldbewußt, als wär' er hier zugegen,

Schlägt sie die Brust: »Ich hab gesündigt,« sagt

Sie reuig, »habe Sündenstraf' erduldet;

Doch schuld ist, wer noch Schlimmres hat verschuldet.
[391]

32.

Amor ist schuld, der tief ins Herz mir drückte

Dein holdes Bild, die herrliche Gestalt,

Der mich durch deinen Geist und Mut entzückte

Und deinen Wert, des Ruhm die Welt durchhallt.

Daß schon dein Anblick jede Frau berückte,

Wer immer nur dich schaue, mit Gewalt,

Das stand mir fest; sie müssen darauf sinnen,

Von mir dich lösend, selbst dich zu gewinnen,


33.

Hätt' Amor doch mir deinen Sinn gegraben

In meinen, wie er grub dein Bild ins Herz!

Den klar enthüllten würd' ich vor mir haben!

Jetzt seh' ich nur den dunklen allerwärts;

Und Eifersucht, sie wäre ganz begraben,

Die mir noch immer Schande bringt und Schmerz.

Derweil ich in Gefahr bin zu erliegen,

Würd' ich sie töten dann, nicht nur besiegen.


34.

Wir sehn den Geizhals an den Schätzen kleben:

Ihm gleich' ich, der nur Sinn hat für sein Geld

Und nicht vermag, entfernt von ihm zu leben,

Und stets in seinem Gut bedroht sich hält.

Seit sich nicht mehr auf dich die Blicke heben,

Weicht Hoffnung so, daß Sorge mich befällt.

Wenn ich sie trügerisch und eitel glaube,

Fall' ich – es muß so sein – ihr doch zum Raube.


35.

Kaum aber, daß die Augen wiederfanden

Der heißgeliebten Züge frohes Licht,

Die mir, eh ich es noch geahnt, entschwanden

– Nach welchem Erdteil, Roger, weiß ich nicht –,

Hält wahre Hoffnung falsche Furcht in Banden,

Bis sie versinkt und ganz zusammenbricht.

Komm wieder, mir die Hoffnung aufzurichten,

O Roger! Schon will Furcht sie ganz vernichten!
[392]

36.

Wenn Sonne scheidet, mehren sich die Schatten,

Daraus erwächst des leeren Schreckens Macht;

Kommt sie, so muß des Dunkels Kraft ermatten,

Bis Zuversicht im zagen Sinn erwacht:

So fühl' ich Bangen ohne meinen Gatten,

Und seh' ich ihn, so wird mir Mut gebracht.

O komm, mein Roger, laß dich schleunigst sehen;

Sonst muß mein Hoffen ja in Furcht vergehen!


37.

Wie nachts ein Fünkchen helle Strahlen sendet

Und rasch erlischt beim ersten Tagesschein,

Hat Sorge gegen mich ihr Horn gewendet,

Da meine Sonne sank ins Meer hinein:

Doch wenn sie naht am Himmel, gleich geendet

Hat alle Furcht, und Hoffnung stellt sich ein.

Beeile dich, mein Licht, zurückzukehren,

Die Ängste scheuchend, die mich hier verzehren!


38.

Wenn fern die Sonne rückt an kurzen Tagen,

Verbirgt die Erde, was sie Schönes hat;

Eis kommt und Schnee, bebende Winde klagen,

Kein Vogel singt, und Blume geht und Blatt:

Und hast du ferne deinen Glanz getragen,

O meine Sonne, dann die Lagerstatt

Für rauhen Winter rüsten Sorg' und Bangen

Gar oft in mir, bevor ein Jahr vergangen.


39.

Komm wieder, meine Sonne, mir zu bringen

Des holden Lenzes heißersehntes Gut!

Vernichte Schnee und Eis! Laß Freude dringen

Aufs neu in den umwölkten dunklen Mut!« –

Wie Philomelens, Prognis Klagen klingen,

Die Futter suchte für die junge Brut

Und leer das Nest sah, – oder wie die Taube,

Wenn der Gefährte fiel dem Feind zum Raube –
[393]

40.

So klagt, weil sie den teuren Mann zu missen

Für immer bangt, um Roger Bradamant,

Die Wang' in Tränen badend, schmerzzerrissen,

Doch heimlich, daß es niemand wird bekannt.

O wüßte sie, was sie nicht konnte wissen,

Wie es in Wirklichkeit um Roger stand!

Daß er im Kerker lag in Schmerzen, herben,

Verurteilt, martervollen Tod zu sterben,


41.

In Qualen, die das böse Weib erkoren

Für ihn, den guten Ritter, im Verlies,

Und daß sie ihm den Tod hat zugeschworen

Und unerhörte Marter überdies!

Bis Gottes Güte Kunde zu den Ohren

Des edlen Sohnes Cäsars dringen ließ:

Sie gab ihm ein, daß er zur Seit' ihm stehe,

Damit sein hoher Wert nicht untergehe.


42.

Der Prinz hielt Roger in sein Herz geschlossen,

Ohne zu wissen, Roger sei der Mann

(Sein Mut erschien ihm einzig, – Menschensprossen,

Sie reichtem ja an solchen nicht heran –):

Er überlegt, – da hat sich ihm erschlossen

Ein Weg zuletzt, wie er ihn retten kann,

Ohne daß sich die Muhme, jene tolle,

Beleidigt fühlen und beschweren solle.


43.

Dem Kerkermeister ganz geheim und leise

Sagt er, den Kriegsgefangnen woll' er sehn,

Bevor in grausam schreckensvoller Weise

Vollzug des argen Urteils sei geschehn;

Nimmt einen nachts, der ihm von Mut Beweise

Gab, stark und willig, seinen Mann zu stehn,

Worauf der Schließer, ohne daß man wußte,

Es sei der Prinz, die Tür ihm öffnen mußte.
[394]

44.

Der Kastellan, den Diener nicht begleiten,

Führt Leo und den andern leis hinein

(Im Turm muß Roger schon sich vorbereiten

Zum Tode und zu namenloser Pein).

Die beiden werfen drin zu gleichen Zeiten,

Als sich der Schließer dreht zum Gitterlein,

Ihm Schlingen um den Hals, die ihn umstricken

Und augenblicklich in das Jenseits schicken,


45.

Öffnen die Luk': – ein Seil wird da gefunden

Für ihren Zweck, zum Klettern angebracht.

Mit einer Fackel wird hinabgewunden

Leo, der Prinz, wo er in Kerkernacht

Nun Roger sieht auf einen Rost gebunden,

Der spannenhoch das Wasser überdacht.

In einem Monat wär' er hier verdorben,

Bloß durch den Ort – ohn' andern Grund – gestorben.


46.

Umarmend den Bewohner dieser Stätte,

Sprach Leo mitleidsvoll: »Für alle Zeit

Knüpft mich dein Wert als unlösbare Kette,

Ritter, an dich zu freier Dienstbarkeit.

Mir gilt gar wenig – wenn ich dich nur rette –

Mein eignes Wohl und eigne Sicherheit,

Der Vater oder wen ich auf der Erde

Noch habe – daß mir deine Freundschaft werde.


47.

Ich komme selber, um dir beizustehen

– Prinz Leo bin ich, Sohn des Konstantin –;

Mag es mir auch beim Vater schlimm ergehen,

Wenn sie das melden zum Verdruß für ihn;

Müßt' ich die Fremde als Verbannter sehen,

Und würde mir nicht mehr von ihm verziehn;

Seit du bei Belgrad vieles Volk erschlagen

Und ihn besiegt hast, muß er Haß dir tragen.«
[395]

48.

Und sprach noch andres mehr, um ihn ins Leben

Zurückzuführen aus des Todes Pein,

Und gänzlich wußt' er draus ihn zu erheben.

»Wie dank' ich dir!« sprach Roger drauf, »und dein

Ist dieses Dasein, das du mir gegeben,

Und immer soll dir's zur Verfügung sein,

Sobald du's willst, weil ich zu jedem Ende,

Wenn du's gebrauchen kannst, es gern verwende!«


49.

Man zog den Jüngling aus der Gruft der Leiden

Und ließ an seiner Statt den Toten dort,

Auch blieb er unerkannt wie jene beiden.

Nach seinem Hause führt ihn Leo fort,

Und vier, fünf Tage mußt' er sich bescheiden

Und still verweilen an dem sichern Ort,

Bis Roß und Wehr, die Ungards Leute nahmen,

Aufs neu in ihres Herren Hände kamen.


50.

Den Wächter tot – geflüchtet, wer gefangen,

Fand man, als das Verlies ward aufgemacht,

Und riet wohl hin und her, wie's zugegangen,

Doch keiner traf's; es blieb in tiefer Nacht,

Daß Leo selber jene Tat begangen:

Man hätt' an jeden andern eh'r gedacht.

Der hätte Grund – so denken wohl die meisten –,

Ihn abzutun, nicht Beistand ihm zu leisten.


51.

Von solchem Edelmute ganz betroffen

Steht Roger voller Staunen und gerührt:

Verändert ist sein Trachten und sein Hoffen,

Das ihn so viele Meilen weit geführt.

Sein erster Wunsch, sein zweiter liegt ihm offen,

Und keiner wird vom andern noch berührt.

Erst kannt' er Gift nur, Zorn und Hassestriebe,

Jetzt ist er voll von Mitleid und von Liebe.
[396]

52.

Sein Sinn ist Tag und Nacht auf eins gerichtet,

So daß er an nichts andres fürder denkt:

Wie er die Schuld, die ihn so sehr verpflichtet,

Durch eine gleiche, größre, wohl versenkt.

Wenn er sein Leben auch als Lohn entrichtet,

Sei kurzes oder langes ihm geschenkt,

Bereit, vieltausendmal den Tod zu dulden, –

Noch immer größer scheinen seine Schulden.


53.

Nun kam's, daß man auch dort die Nachricht kannte,

Die Karl durch alle Lande ließ ergehn:

Wer freien woll' um Fräulein Bradamante,

Der müsse sie mit Lanz' und Schwert bestehn.

Wie übel das sich für den Prinzen wandte!

Mit bleichen Wangen sah man jetzt ihn stehn:

Er weiß ja, wie's mit seiner Kraft beschaffen,

Und daß er ihr erliegen muß in Waffen.


54.

Er kann – dies findet er beim Überlegen –

Durch List ersetzen, was an Kraft ihm fehlt:

Mit seinem Wappen tret' ihr dort entgegen

Der Held, der ihm den Namen noch verhehlt

Und wohl sich messen kann mit allen Degen,

Die man in Frankreich als die besten zählt.

Er meint, könn' er den Kampf ihm anvertrauen,

So werd' er Bradamant bezwungen schauen.


55.

Noch zweierlei bedarf es zum Gelingen:

Erst, daß zur Sache sich versteht der Held;

Dann gilt es in die Schranken ihn zu bringen,

Ohne daß jemand auf Verdacht verfällt.

Er ruft ihn, spricht mit ihm von diesen Dingen,

Gesteht beweglich, wie's mit ihm bestellt,

Und bittet sehr, für ihn den Kampf zu wagen

Und seinen Namen, seinen Schild zu tragen.
[397]

56.

Leos Beredsamkeit wird Lob gebühren,

Doch größern Zwang als von Beredsamkeit

Muß Roger von der Dankesschuld verspüren,

Von der ihn nichts auf weiter Welt befreit,

Ob es auch hart ihm scheint und auszuführen

Kaum möglich, sagt er doch mit Heiterkeit

Der Miene (nicht der Brust), was Leo wolle,

Von ihm in jedem Fall geschehen solle.


57.

Obwohl ein wilder Schmerz, sobald gesprochen

Dies Wort, ihm in der Brust das Herz zerstückt

(Das blutet Tag und Nacht mit wildem Pochen

Und fühlt sich stets gequält und stets bedrückt)

Und er wohl sieht: der Tod ist ihm versprochen, –

Bleibt er bei seinem Schwur doch unverrückt:

Zum Sterben streckt' er tausendmal die Glieder,

Eh er dem Willen Leos wär' zuwider.


58.

Sterben ist ihm gewiß; muß er entsagen

Der Teuren, dann entsagt er auch dem Licht:

Schmerz, Kummer wird sein Herz zu Tode nagen;

Und tötet ihn der Gram, die Schmerzen nicht,

Wird er der Seele Hülle selbst zerschlagen,

Daß sie befreit aus ihren Fesseln bricht.

Ertragen will er, was ihm mag geschehen;

Nur nicht, sie eines andern Weib zu sehen.


59.

So will er sterben; – welchen Tod erwählen?

Das fragt er sich; darüber schwankt sein Sinn;

Er könnte seine Stärke ja verhehlen,

Beut er die nackte Brust der Kriegerin.

Auf schönres Sterben könnt' er nimmer zählen,

Rafft ihn der Vielgeliebten Hand dahin.

Doch, kann sie Leo nicht als Weib erlangen,

So hat er an dem Schwure sich vergangen:
[398]

60.

Versprochen hat er, in den Kampf zu gehen

Mit Bradamant im abgesteckten Raum,

Sie ernstlich, nicht zum Schein nur, zu bestehen

(Dergleichen nützte ja dem Prinzen kaum).

So muß denn, was er ihm versprach, geschehen;

Alle Gedanken hält er drum im Zaum,

Die sonst sich regen; steht zu dem aufs neue,

Der als Gebieter ihn ermahnt – zur Treue.


61.

Leo derweil hat alles zubereitet

Mit Urlaub seines Vaters Konstantin

Und macht sich auf, von Dienern so begleitet,

Wie es gebührt, um seines Wegs zu ziehn;

Wobei der Held in seiner Rüstung reitet

(Die er zurückerhielt, wie auch Frontin). –

Und Tag um Tag auf ihrer Straße schwinden,

Bis sie zuletzt sich in Paris befinden.


62.

Nicht in der Stadt denkt Leo abzusteigen,

Er schlägt sein Lager auf im freien Feld,

Schickt gleichen Tages Botschaft, anzuzeigen

Dem Frankenkönig, daß er draußen hält;

Und Karl, gewohnt, sich huldreich ihm zu neigen,

Beschenkt ihn; kommt auch oft in sein Gezelt.

Drauf meldet Leo, was ins Land ihn bringe,

Und bittet um Beschleunigung der Dinge.


63.

Der Dame harr' er in den Schranken drinnen,

Die sich nicht füge minder starkem Mann.

Er sei gekommen, um sie zu gewinnen;

Mißling' es, tue sie den Tod ihm an.

Der Kaiser sagt es zu: mit Tags Beginnen

Kam sie zum abgesteckten Platz heran,

Der nächtlich hergerichtet vor den Toren

Der Mauern war und für den Kampf erkoren.
[399]

64.

Dem Jüngling war die jüngste Nacht vergangen

So wie sie einem armen Sünder schwand:

Er denkt des Urteilspruches voller Bangen,

Daß früh er sterben muß durch Henkershand.

Weil durch den Panzer nie die Blicke drangen,

Wählt Roger sich das volle Stahlgewand.

Verbannt auch sollte Lanzenstoß und Pferd sein,

Die einz'ge Angriffswaffe nur das Schwert sein.


65.

Die Lanze fehlt, – nicht, daß ihm etwa graute

Vor Argalias und des Herzogs Speer,

Den Astolf nachher Bradamant vertraute

(Er machte stets des Gegners Sattel leer),

Weil keiner noch die Zauberkraft durchschaute;

Der eignen Kraft schrieb's jeder zu bisher,

Bis auf den König, der die Lanze machte

Und als Geschenk sie seinem Sohne brachte.


66.

Astolf und sie auch, die den Speer noch führte,

Erkannten jenen Zauber nicht im Schaft.

Sie wähnten immer, ihnen nur gebührte

Der Ruhm, errungen durch die eigne Kraft,

Die auch bei andrem Speer der Feind verspürte:

Er würde dann von jenem hingerafft.

Will Ritter Roger nicht zu Pferde steigen,

Hats einen Grund: er mag Frontin nicht zeigen.


67.

Das Fräulein würd' ihn bei den ersten Schritten

Erkennen, käm' der Hengst mit auf die Bahn:

Sie hatte vielemal ihn ja geritten,

Als er dort bei ihr war in Montalban;

Und, nicht erkannt zu sein, derweil sie stritten,

War Rogers Trachten jetzt und einz'ger Plan.

Er ließ den Hengst wie all die andern Sachen,

Die ihn beim Kampfe würden kenntlich machen.
[400]

68.

Auch will er sich mit anderm Schwert bescheiden;

Denn Balisard – das ist ihm ja bekannt –

Pflegt durch die Rüstung wie durch Teig zu schneiden,

Und keine Stählung hält dagegen stand.

Sogar die Schärfe muß noch Abbruch leiden;

Den Hammer nimmt er zu dem Zweck zur Hand.

Also gerüstet, bei der ersten Helle,

Ist Roger auf dem Kampfesplatz zur Stelle.


69.

Um Leo nun im Äußern ganz zu gleichen,

Nahm er ein Oberkleid, das Leos war;

In rotem Felde trug der Schild das Zeichen:

Den doppelköpf'gen goldnen Kaiseraar.

So ließ sich leicht der Zweck der List erreichen;

Weil sie an Form und Größe ganz und gar

Einander glichen. Einer kam zum Streite,

Verborgen blieb der andre in der Weite.


70.

Ganz anders war, was Bradamant begehrte;

Von Roger sehr verschieden war ihr Sinn:

Wenn er der Schneide mit dem Hammer wehrte

Die Spitze wie die Schärfe gab er hin –

Leiht sie die volle Schneide ihrem Schwerte:

Ins Herz zu treffen sucht die Kriegerin,

Und Hieb und Stoß mit voller Wucht zu geben;

Eindringen will sie in des Gegners Leben.


71.

Man sieht vorm Seil ein Berberroß sich regen,

Das feurig nach des Rennens Anfang späht,

Und seine Füße immerfort bewegen;

Wie es die Ohren spitzt, die Nüstern bläht! –

So harrt die Maid – sie weiß nicht, daß der Degen

Ihr Roger ist, der vor der Klinge steht –

Als ob ihr Feuer durch die Adern dringe,

Voll Ungeduld, daß doch das Zeichen klinge.
[401]

72.

Wie nach dem Donner jähe Winde wehen –

Kopfüber stürmen Wellen hin im Lauf,

Wie dann die Wogen bis zum Himmel gehen,

Und dunkler Staub fliegt von der Erd' hinauf,

Und Hirt und Herde kann man fliehen sehen,

In Regen, Hagel löst die Luft sich auf –

So, mit gezücktem Schwert, eilt die Empörte

Auf Roger zu, als sie das Zeichen hörte.


73.

Doch fest, wie vor dem Sturm die alten Eichen

Und starke Türm', auf Felsen angebracht,

Und Klippen, die des Meeres Wut nicht weichen,

Das sie ringsum bedräut bei Tag und Nacht,

Steht Roger mit der Rüstung ohnegleichen,

Die einst Vulkan für Hektor hat gemacht,

Fest in der mächt'gen Streiche wildem Wettern,

Die auf das Haupt, Brust, Seiten niederschmettern.


74.

Sie kommt mit Hieben jetzt, gleich drauf zu stechen,

Und sucht die Fugen sich als Ziel heraus,

Um zwischen Stahl und Stahl hindurchzubrechen

(Gern tobten Grimm und wilder Zorn sich aus),

Und späht bald hier, bald da nach seinen Schwächen,

Dreht sich und springt – und härmt sich überaus,

Was sie ersinnen mag, den Grund zu röten –

Nichts will gelingen, ihren Feind zu töten.


75.

Wer eine Stadt versucht zu Fall zu bringen,

Durch Wall und Mauern fest, stürmt oft heran,

Strebt bald durchs Tor, bald durch den Turm zu dringen

Und ihn zu brechen, füllt die Gräben an,

Opfert sein Volk und kann es nicht erzwingen,

Kein Zugang ist, was er auch nur ersann –

So müht sich Bradamant mit vielen Streichen,

Doch Ring und Schuppen sieht sie nirgends weichen.
[402]

76.

Bald regnet's auf den guten Helm von Hieben,

Bald auf den Schild; vom Harnisch Funken licht

Durch tausend Schläg' auf Brust und Arme stieben,

Bald kreuz und quer und bald gradaus gericht't.

Auf Dächer einer Stadt ward nie getrieben,

Klirrend vom Sturm, der Hagel also dicht.

Roger ist auf der Hut, weiß sich zu wahren

Geschickt und bringt der Feindin nie Gefahren.


77.

Er steht, weicht dann zurück, springt ihr entgegen,

Und seinen Fuß begleitet oft die Hand;

Er schirmt sich, schwingt das Schwert, wie's ihm gelegen

Und wie der Feindin Waffe sich gewandt.

Er trifft sie nicht – und wenn, mit schwachen Schlägen

Zur Schädigung sind sie dann kaum imstand.

Das Fräulein wünscht des Kampfes Schluß zu sehen,

Bevor des Tages Stunden sterben gehen.


78.

Sie denkt des Spruchs und der Gefahr voll Bangen,

Die sie bedroht, gelingt's nicht, rasch zu sein:

Wird der nicht heut getötet, nicht gefangen,

Dann gilt sie als bezwungen und ist sein.

Zu des Alciden Säulen war gegangen

Phöbus und tauchte in die Wogen ein,

Als ihr Vertraun begann gemach zu schwinden:

Sie mußte bald sich ohne Hoffnung finden.


79.

Je mehr sie das Vertrauen fühlt entweichen,

Je größer ihre Wut; sie führt mit Macht

Das Schwert, um durchzudringen mit den Streichen,

Was sie tagsüber nicht zustand gebracht:

So meint der Arbeit Ziel noch zu erreichen,

Wer säumig war und sieht, es naht die Nacht;

Er mag sich eilen, mag sich mühn und quälen

Umsonst, bis Kraft zugleich und Tag ihm fehlen.
[403]

80.

Ach, wüßtest du, wem du den Tod willst geben,

Du armes Mägdelein! Der Kämpe hier,

Dein Roger ist es, er, an dem dein Leben

Ja hängt, du weißt, mit allen Fasern schier!

Du würdest eher gegen dich erheben

Den grimmen Stahl, so teuer ist er dir!

Lernst du ihn einst als deinen Roger kennen,

Wird jeder Hieb dir auf der Seele brennen.


81.

Als Karl – und mit ihm viele – Leo sehen

(Denn kein Gedanke schweift zu Roger hin)

So trefflich, stark und leicht den Kampf bestehen

Mit Bradamant, der stolzen Kriegerin,

Sich wehren, ohne daß ein Leid geschehen

Ihr könne, ändern alle Herrn den Sinn

Und sagen: ja, man müss' es gelten lassen,

Daß sie, einander wert, zusammenpassen.


82.

Der Sonnengott versank in Meeresfluten,

Da gab Herr Karl, nachdem zu End' der Streit,

Die Dam' an Leo hin, den hochgemuten,

Und keine Weigrung dulde der Bescheid.

Und Roger – ohne daß die Glieder ruhten,

Ohne zu lüften Helm und Eisenkleid –

Auf einem Klepper trabt in großer Eile

Zum Zelt, wo Leo wartet mittlerweile.


83.

Der hat ihn mit den Armen gleich umschlossen

Zwei-, dreimal oder öfter brüderlich;

Er nahm den Helm ihm – Freundschaftsworte flossen –

Und herzt und küßt ihn, drückt ihn fest an sich:

»Verfahr mit mir wie deinem Blutsgenossen,«

Sprach er, »wie dir's gefällt; nie sollst du mich

Verdrossen sehn, willst du mit vollen Händen

Fortan mein reiches Hab und Gut verschwenden.
[404]

84.

Ich weiß, ich löse mich mit keinem Lohne,

Für solchen Dienst des Dankes quitt zu sein,

Und nähm' ich auch von meinem Haupt die Krone

Und sagte dir: da nimm, mein Reich ist dein!«

Nur wenig Antwort gibt dem Kaisersohne

Roger, das Herz, den Sinn voll schwerer Pein

Und lebensmüd. Er legt die Zeichen nieder

Des Wappenschilds und nimmt sein Einhorn wieder.


85.

Sobald es angeht, in Gespräches Mitten,

Unlustig, müd sich stellend, geht er fort

Und ist nach seinem Zelt zurückgeritten.

Um Mitternacht nimmt er die Waffen dort,

Sattelt den Hengst; ohn' Abschied zu erbitten

Von irgendeiner Menschenseel' am Ort,

Aufsteigt er, läßt das Pferd beliebig traben,

Mag's hierhin oder dorthin Neigung haben.


86.

Jetzt quer durchs Feld und dann auf Waldespfaden

Trägt seinen Herrn Frontin die ganze Nacht,

Auf krummen Wegen bald und bald geraden –

Die wilde Pein ist immer neu erwacht:

Er ruft den Tod, der Schmerzen, Qual und Schaden

– Das ist sein einz'ger Trost – vergessen macht.

Unsagbar großem Leid sich zu entwinden,

Weiß er nichts andres als den Tod zu finden.


87.

»Wen soll ich,« spricht er, »wehe mir! verklagen,

Daß mir auf einmal all mein Glück entschwand?

Will ich das Ungemach nicht still ertragen,

Wen straft denn – brauch' ich Rache – meine Hand?

Den bösen Streich hab' ich mir selbst geschlagen;

Kein andrer hat ins Elend mich gesandt.

Was da geschah, ich hab' es selbst verbrochen:

So werd' an mir die Untat denn gerochen!
[405]

88.

Hätt' ich das Unrecht nur an mir begangen,

Mir selber könnt' ich noch vielleicht verzeihn,

Wenn auch nur schwer –: Vergebung hier empfangen?

Ich sag' es ohne Umschweif': lieber nein!

Doch nun die Kränkung gegen sie ergangen,

Wie gegen mich, sollt' ich da milder sein?

Sollt' ich mir selber auch vergeben können,

Ihr muß ich – so geziemt sich's – Rache gönnen.


89.

Drum sie zu rächen sterb' ich; nicht beschweren

Soll mich der Tod: ich habe sein nicht acht.

Durch ihn nur kann ich meinen Qualen wehren;

Durch ihn nur wird mir Linderung gebracht.

Konnte man früher nicht mir Tod bescheren,

Eh ich für sie das Leid so groß gemacht?

O, welches Glück wär' es für mich gewesen,

Hätt' in dem Kerker mich der Tod erlesen!


90.

Mußte das Leben unter Qualen schwinden,

Wie es gewollt des Weibes Grausamkeit,

Mitleid bei Bradamante doch zu finden,

Durft' ich erhoffen – ja, mit Sicherheit.

Doch hört sie, Leo wollt' ich mir verbinden,

Mit freiem Willen sie für alle Zeit

Ihm geben, selber von der Treue lassen –

In Tod und Leben muß sie dann mich hassen.«


91.

Und als er diese nun und andre Worte

Mit Schluchzen und mit vielen Seufzern spricht,

Umgibt ihn, als der Morgen früh die Pforte

Geöffnet hat, Walddunkel öd und dicht.

Weil er, verzweifelt, an verborgnem Orte

Den Tod sucht, scheint zum Abschied von dem Licht

Der stille Platz geeignet und vollkommen

Für das gemacht, was er sich vorgenommen.
[406]

92.

Wo sich am dichtesten die Zweige schlingen

Im dunkelen Gebüsch, da tritt er ein;

Zuvor entbürdet er vor allen Dingen

Frontin und schickt ihn in die Welt hinein.

Er sprach: »Könnt' ich den rechten Lohn dir bringen,

O mein Frontin, des du magst würdig sein,

Du neidetest das Roß nicht, das, zum Sterne

Gewandelt, flog hinauf in Himmelsferne.


93.

Kyllaros war nicht so wie du zu preisen,

Arion nicht verdiente solchen Lohn

Noch sonst ein Roß, darauf die Fabeln weisen

Von einem Römer oder Griechensohn.

Wenn sie in allem sich dir gleich erweisen,

In einem, weiß ich, sprichst du ihnen Hohn:

Keins kann sich rühmen, daß es auserlesen

Für Lob und Ehre so wie du gewesen.


94.

Der Kühnsten, Schönsten, die noch mag erscheinen

Und je der Erde früher ward beschert,

Warst du so teuer, – ihr, der Einzigeinen,

Daß ihre Hand dich hat gepflegt, genährt.

Mein Fräulein war's, – o sprech' ich von der Meinen,

Wird sie nun einem andern Mann gewährt?

Ich gab sie hin mit meinen eignen Händen:

Was säum' ich, gegen mich das Schwert zu wenden?«


95.

Wenn also Rogers Klagen schallt und Grämen,

Davon nur Wild und Vögel Zeugen sind

(Denn niemand sonst kann seinen Ruf vernehmen,

Die Zähre sehn, die auf die Brust ihm rinnt),

Vermeint drum nicht, daß sie in angenehmen

Gedanken dort sich zu Paris befind',

Als sich kein Aufschub fürder läßt erreichen,

Kein Vorwand finden, Leo auszuweichen.
[407]

96.

Sie ist bereit zu jeglichem Beginnen,

Will man sie einem andern Manne frein:

Dem trotzen, was Verwandte, Freunde sinnen;

Ihr Wort verleugnen, sich mit Karl entzwein;

Zuletzt mag Gift die Freiheit ihr gewinnen

Oder das Eisen, kann's nicht anders sein.

Ja, lieber will sie sich dem Tod verschreiben,

Als leben, aber ohne Roger bleiben.


97.

»Mein Roger, ach, wo bist du hingegangen?«

Sprach sie, »verbirgt dich solch entferntes Land,

Daß du nicht jene Kunde dort empfangen,

Die jedem andern Menschen ward bekannt?

Denn, konnte sie zu deinem Ohr gelangen,

Kein andrer wäre früher hier zur Hand.

Wär's möglich, andres wohl sich vorzustellen

Als – ach, den schlimmsten von den schlimmen Fällen?


98.

Ist's möglich, du nur hörtest nicht die Dinge,

Die außer dir die ganze Welt erfuhr?

Du wärst herbeigeeilt auf Windesschwinge:

Drum bist du tot? – Bist du gefangen nur?

Dem Sohn des Griechen gingst du in die Schlinge:

Gewiß – hier bin ich auf der rechten Spur!

Versperrte dir die Straße der Verräter,

Daß er zuerst komm' – und du Armer später?


99.

Nicht minder starkem Mann mich zu vereinen,

Um diese Gunst fleht' ich den Kaiser an;

Denn dich nur, Roger, dacht' ich als den einen,

Mit dem ich nicht im Kampf mich messen kann.

Sonst achtet' ich auf dieser Erde keinen –

So kam's, daß mir der Himmel Strafe sann:

Denn er, dem Ehrenvolles nicht gelungen

In seinem Leben, er hat mich bezwungen,
[408]

100.

Bezwungen – ja, weil ich ihn nicht gefangen

Und nicht getötet hab' in jenem Streit:

Das scheint mir nicht gerecht, und Karls Verlangen

Bin ich zu folgen keineswegs bereit.

Ich weiß, bin ich vom Worte abgegangen,

Dann heiß' ich wankelmütig weit und breit.

Doch bin ich nicht die erste noch die letzte,

Die man als unbeständig schätzt und schätzte.


101.

Es sei genug, die Treue will ich halten

Dem teuren Manne fest wie Felsgestein,

Daß nicht in neuen Zeiten, nicht in alten

Jemals dergleichen wird zu finden sein.

Für schwankend mögen mich die Leute halten –

Bringt mir der Wankelmut doch Vorteil ein –:

Man möge flatterhaft wie Laub mich nennen,

Brauch' ich nur nicht vom Liebsten mich zu trennen!«


102.

Dies und noch andres, oftmals unterbrochen

Von heißen Tränen und von Seufzern groß,

Hat sie die Nacht hindurch zu sich gesprochen,

Die sich an jenen Tag des Unglücks schloß.

Doch als Nokturn sich ins Geklüft verkrochen

Kimmeriens mit dem dunklen Schattentroß,

Hilft ihr der Himmel, der ihr zum Genossen

Roger zu geben ja schon längst beschlossen.


103.

Er läßt Marfisa früh zum Kaiser gehen:

Mit Klagen tritt sie vor sein Angesicht;

Daß ihrem Bruder Unrecht sei geschehen,

Diesem zu steuern halte sie für Pflicht.

Die Gattin also ihm geraubt zu sehen,

Ohn' eine Nachricht nur, sie duld' es nicht

Und woll' im Kampfe gegen jeden zeigen,

Daß Bradamante Roger sei zu eigen.
[409]

104.

Sie woll' es gleich beweisen, ihr vor allen,

Wenn sie es abzuleugnen sich erdreist':

Vor ihren Ohren sei das Wort gefallen,

Mit dem man als gebunden sich erweist;

»Sie ließ auch«, sprach sie, »sich den Brauch gefallen,

So daß der Bund so fest geschlossen heißt,

Daß keins mehr frei verfügen kann von beiden,

Und nicht um andre darf vom Gatten scheiden.«


105.

Wollte sie Wahrheit oder Falsches sagen?

Ich glaub', im stillen ihr Gedanke war,

Die Werbung Leos doch noch abzuschlagen,

Mit Recht, mit Unrecht, sei's nun falsch, sei's wahr,

Mit Willen Bradamants; denn fortzujagen

Den Griechen bot ja sonst kein Weg sich dar,

Und Bradamant mit Roger zu verbinden;

So galt es denn, in diesen sich zu finden.


106.

Dem Kaiser ist das sehr die Quer gekommen,

Und Bradamante ruft er gleich herbei:

Er sagt ihr, was Marfisa unternommen

Zu zeigen habe. Haimon steht dabei.

Zu Boden blickt die schöne Maid beklommen

Und sagt nicht, ob es – ob es nicht so sei:

Leicht könnte man verstehn auf diese Weise,

Daß sich Marfisas Wort als wahr erweise.


107.

So fügt's am Ende doch des Schicksals Walten,

Denkt froh Rinald und jener von Anglant,

Daß nicht die Schwägerschaft sich mag gestalten,

Die sich beinahe schon vollzogen fand,

Und Roger könnte Bradamant behalten,

Wie trutzig auch Herrn Haimons Widerstand;

Und ohne weitern Kampf wird es gelingen

Und ohne sie dem Vater zu entringen.
[410]

108.

Entschlüpften diese Worte ihrem Munde,

Ist's abgemacht für alle Ewigkeit:

Was sie versprachen, halten sie zur Stunde

Ehrlich und gut und ohne neuen Streit.

»'s ist Truggeweb',« ruft Haimon, »falsche Kunde!

Doch sag' ich euch, daß ihr im Irrtum seid:

Wär' es auch wahr, was ihr zu fein erdacht habt,

Wißt, daß ihr nicht mich auf den Sand gebracht habt!


109.

Vorausgesetzt – doch wird's nicht zugestanden

Und nicht geglaubt von mir –, daß jener Mann

Und diese hier so töricht sich verbanden,

Hinüber und herüber, sagt mir an,

Damit Beweis sei schlicht und klar vorhanden:

Wo ist es denn geschehen? Wo und wann?

Geschehen konnt' es – hört auf mich, den Alten! –

Nur, eh die Taufe Roger noch erhalten!


110.

Doch, hat sich's, eh er Christ war, zugetragen,

Kann man der Sache keinen Wert verleihn:

Der Ehe wird man Giltigkeit versagen,

Wenn Christenkind und Heid' einander frein.

So hat sich Leo nicht umsonst geschlagen,

Der hier so leicht des Todes konnte sein.

Auch wird der Kaiser, mein' ich, sein Versprechen

Auf solchen Anlaß ganz gewiß nicht brechen.


111.

Den Einwand bringen mußtet ihr beizeiten,

Als sich die Sache nicht im Gang befand;

Bevor noch Karl die Ladung ließ verbreiten,

Die Leo zog zum Kampf in dieses Land.«

So trennte Haimon gern durch Zwistigkeiten

Mit Roland und Rinald das Liebesband.

Es lauscht Herr Karl mit stillem Überlegen,

Setzt sich nicht dem, und jenem nicht entgegen.
[411]

112.

Wie man, was Boreas und Auster raunen,

Die Zweig' im Waldesdickicht murmeln hört;

Wie Wogen brausen, wenn in üblen Launen

Gegen Neptun sich Äolus empört,

So wirbelt ein Gerücht, das jetzt in Staunen

Ganz Frankreich setzt, des Volkes Ruhe stört;

So viel zu hören gibt es und zu sagen –

Es kann kein andrer Stoff hervor sich wagen.


113.

Zu Roger die, zu Leo jene stehen,

Die meisten aber pflichten Roger bei:

Für zehn will einer kaum mit Haimon gehen.

Der Kaiser äußert Meinung keinerlei:

Entscheidung soll durchs Parlament geschehen,

Weil dieser Streit ein schwerer Rechtsfall sei.

Da hat sich – die Vermählung ward verschoben –

Marfisa mit erneutem Plan erhoben.


114.

Sie spricht: »Der Eheschluß kann nicht beginnen,

Solang den Atemzug mein Bruder tut:

So mag ihm Leo diesen abgewinnen!

Das Leben nehm' er ihm durch Kraft und Mut!

Wer von den zweien liegt im Grabe drinnen,

Der läßt die Braut in des Rivalen Hut.«

An Leo meldet's Kaiser Karl zur Stunde

(Er gab ihm vorher auch von anderm Kunde).


115.

Prinz Leo meint, er brauche nicht zu zagen:

Der Einhornritter werde jederzeit

Auch Roger, den berühmten Helden, schlagen;

Drum schreck' ihn nicht der allerschwerste Streit.

Er ahnt nicht, daß die Schmerzen ihn getragen

Zum finstern Walde, in die Einsamkeit;

Meint, bald von seinem Ritte werd' er kommen,

Und hat den üblen Vorschlag angenommen.
[412]

116.

Allein das schuf gar schnell ihm Reu' und Klage;

Denn er, von dem er sich so viel verhieß,

Kam nicht an diesem, nicht am nächsten Tage;

An aller Nachricht fehlt' es überdies.

Daß er allein den Kampf mit Roger wage,

War kein Gedanke, der ihn lächeln ließ.

Zur Abwehr drum von großem Schimpf und Schaden

Schickt er nun Boten aus auf allen Pfaden.


117.

Durch Stadt und Land nach jenem, der entschwunden,

So fern wie nah späht er, die Kreuz und Quer,

Steigt selber auf und reitet lange Stunden,

Mit Boten nicht zufrieden, rings umher.

Doch hätt' er keine Spur wohl aufgefunden,

Noch irgendeiner aus des Kaisers Heer,

Wäre Melissa nicht. Was ihr gelungen,

Davon werd' Euch im nächsten Sang gesungen.

Quelle:
Ariosto, Ludovico: Der rasende Roland. In: Sämtliche poetischen Werke, Berlin 1922, Band 3, S. 383-413.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der rasende Roland
Die Historia vom Rasenden Roland
Ludovico Ariosts Rasender Roland nacherzählt von Italo Calvino

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Elixiere des Teufels

Die Elixiere des Teufels

Dem Mönch Medardus ist ein Elixier des Teufels als Reliquie anvertraut worden. Als er davon trinkt wird aus dem löblichen Mönch ein leidenschaftlicher Abenteurer, der in verzehrendem Begehren sein Gelübde bricht und schließlich einem wahnsinnigen Mönch begegnet, in dem er seinen Doppelgänger erkennt. E.T.A. Hoffmann hat seinen ersten Roman konzeptionell an den Schauerroman »The Monk« von Matthew Lewis angelehnt, erhebt sich aber mit seiner schwarzen Romantik deutlich über die Niederungen reiner Unterhaltungsliteratur.

248 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon