Vierunddreissigster Gesang

[89] 1.

Gefräßige Harpyien, böse, wilde,

Uns für Verblendung und für Unverstand,

Vielleicht für alte Schuld, in die Gefilde,

Auf jeden Tisch durch Gottes Rat gesandt!

Kindlein und Mütter gleich des Hungers Bilde

Vergehn und schaun, wie ihr verschlingt im Land

Auf einmal Speisen, die genügend wären,

Fürs Leben ihnen Nahrung zu gewähren!


2.

Weh ihm, der ihre Höhlen aufgeschlossen,

Die doch verriegelt waren lange Zeit,

Daraus der Pesthauch Gier sich hat ergossen,

An dem Italien krankt zu schwerem Leid!

Tot ist das schöne Leben, weggeflossen!

Und Friede, ach, und Ruh', wie sind sie weit!

Italia liegt in Armut, Not und Kriegen

Und wird darin noch viele Jahre liegen,


3.

Bis sie am Haar die Söhne wird ergreifen,

Die säumigen, die Lethe noch begräbt,

Mit diesem Ruf: »Soll niemals Glück mir reifen,

Daß mir ein Kalaïs, ein Zetes lebt,

Um Krallen mir und Schmutz vom Tisch zu streifen,

Damit ihn alter Glanz aufs neu umwebt,

Wie jenes Paar dem Phineus Hilfe brachte

Und wie's der Herzog beim Senapus machte?«
[90]

4.

Geflohen war vor Astolfs Schauerklängen

Der häßlichen Harpyien arger Chor,

Bis er zu guter Letzt in einer engen

Höhl' an des Berges Fuße sich verlor.

Der Herzog lauschte dort: da war's, als drängen

Von unten Klagen und Geheul hervor;

Ein schrecklich Jammern klang aus Felsenspalten,

Und für die Hölle mußt' er dieses halten.


5.

Astolf beschloß nun, dort hinabzugehen

Zu denen, die geschieden sind vom Licht,

Ins Innerste des Erdenraums zu spähen,

Zu dringen in der Hölle tiefste Schicht.

»Was furcht' ich mich? Was kann mir denn geschehen?«

Dacht er, »hilft denn mein gutes Horn mir nicht?

Pluto muß fliehen samt dem Satanasse;

Auch Zerberus aus dunklem Felsgelasse.«


6.

Nichts war mit seinem Flugtier zu beginnen;

So steigt er ab und läßt's an einem Strauch.

Nun ist er mit dem Horn im Schlunde drinnen

(Die Hoffnung ruht auf seines Horns Gebrauch).

Bald aber wird ihm fürchterlich zu Sinnen;

In Aug' und Nase dringt ein dunkler Rauch,

Ärger, als Pech und Schwefel ihn bereiten;

Doch läßt er drum nicht nach voranzuschreiten.


7.

Als dichter sich die Finsternisse schlingen

Und Qualm verdickt, merkt er: – voranzugehn

Noch weiter hier, das läßt sich nicht erzwingen;

Er muß sich zu der Rückkehr wohl verstehn.

Da sieht er etwas in der Höhe schwingen,

Wie es bei einem Leichnam mag geschehn,

Wenn ihn der Wind bewegt und er in Regen

Und Sonnenschein hat lange Zeit gelegen.
[91]

8.

Fast gar kein Licht, nur schwache Schimmer waren

In dieser schwarzen, qualmerfüllten Gruft:

So konnt' er nicht verstehen noch gewahren,

Was baumelnd sich bewege durch die Luft;

Ein-, zweimal hieb er, um darob im klaren

Zu sein, nach oben in der dunklen Kluft.

Ein Geist, so schien ihm, müsse dort sich rühren,

Denn nichts als Nebel glaubt' er zu verspüren.


9.

Da war's, als ob im Klageton es klinge:

»Geh weiter, ach! Tu andern doch kein Leid!

Genug, daß schwarzer Rauch mir Schmerzen bringe,

Den mir die Hölle aus der Tiefe speit!«

Betroffen blieb er stehn und sprach: »Die Schwinge

Des Rauches lähme Gott für alle Zeit!

Nicht länger mög' er quälend dich umwallen;

Doch laß mich aufzuklären dir gefallen!


10.

Und soll ich über dich die Welt belehren,

So sprich, damit ich Kunde bringe dort!«

Der Schatten sprach: »Zum Licht zurückzukehren

Und – sei's dem Namen nach – zu leben fort,

Danach will solche Sehnsucht mich verzehren –

Sie reißt mir von dem Lippenrand das Wort –

Daß ich dir Namen so wie Schicksal sage,

Ob ich auch Sprechen mühsam nur ertrage.«


11.

Herr, Lydia bin ich, einst im Glanz geboren

Dem Lyderkönig und in Herrlichkeit,

Nach Gottes Richterspruche nun verloren

Und hier vom Rauch gequält auf ew'ge Zeit,

Weil ich dem treuen Freund, der mich erkoren,

Grausam und undankbar, schuf großes Leid.

Du kannst die Klüfte voll von andern sehen,

Also bestraft für ähnliche Vergehen.
[92]

12.

Anaxaret' ist's schlimmer noch ergangen:

Sie leidet tiefer unten Rauch und Pein.

Die Seele duldet hier in Qual und Bangen,

Der Körper ward verwandelt dort in Stein,

Weil sie den Liebenden ließ fühllos hangen,

Ohne gerührt von seinem Leid zu sein.

Daphne, hier nahe, wird es töricht nennen,

Daß sie Apollo ließ vergebens rennen.


13.

Zu lange währt' es, wollt' ich alle künden

Die Frauen, die für Undank büßen hier,

Unsel'ge Geisterschar, in diesen Schlünden;

Zu viele sind es, nicht zu zählen schier.

Von Männern aber, für des Undanks Sünden

Verdammt, umschließt noch mehr dies Nachtrevier.

Ein schlimmrer Ort ward ihnen zugesprochen,

Wo Rauch sie blendet, Glutenfeuer kochen.


14.

Weil wir zu Glauben und Vertrauen neigen,

Wird härter der bestraft, der Fraun betört.

Das mußte sich an Theseus, Jason zeigen

Und ihm, der dem Latin das Reich gestört,

Und jenem, der sich Thamar nahm zu eigen,

Zu blut'gem Zorn hat Absalon empört,

Und andern vielen, die verlassen hatten

Die Gattin diese, jene ihren Gatten.


15.

Doch um dir das Vergehen kundzugeben,

Das hier an diesen Ort mich hat gebannt,

So war ich schön, doch stolzer noch im Leben;

So sehr, wie kaum sich eine andre fand.

Nicht wüßt' ich, wer von diesen beiden eben

– Schönheit und Stolz – den andern überwand;

Wenn jene gleich, die meine Schönheit priesen,

Dem Stolz und Hochmut recht die Wege wiesen.
[93]

16.

Ein edler Thrazier war in jenen Tagen,

Kein beßrer Ritter mocht' auf Erden sein;

Der hörte viel von meiner Schönheit sagen

Und rühmen, nicht von einer Seit' allein,

Und er beschloß, sein Herz mir anzutragen

Und einzig meinem Dienste sich zu weihn,

Hoffend, daß ich der Lieb' ihn würdig achte,

Weil er so große Taten schon vollbrachte.


17.

Er kam nach Lydien, und noch mehr gebunden,

Nachdem er mich gesehn, fühlt' er sich da.

Im Adel, der am Hofe sich befunden,

War er es, der sich hoch gefeiert sah.

Wie er sich Ruhmeskränz' ums Haupt gewunden,

Ich kann es dir nicht melden, fern und nah,

Und wie er sich Verdienst erwarb zu diesen,

Hätt' er's dankbarerm Manne nur erwiesen.


18.

Pamphilien, Karien und Cilicien waren

Besiegt von meinem Vater nur durch ihn;

Nur wenn er's gut hieß, wollten Kriegerscharen

Und, wie den Rat er gab, zu Felde ziehn.

Da kam's, daß, Lohn für Mühen und Gefahren

Erwartend, dieser Held am Hof erschien

Und bat, daß man für Siegesbeut' und Ehre,

Die er gewann, ihm meine Hand beschere.


19.

Allein der Antrag ward zurückgewiesen;

Mein Vater wollte hoch mit mir hinaus:

Für einen Fürsten sei ich, nicht für diesen;

Verdienst mach' allen seinen Reichtum aus.

Mein Vater hat zu sehr Gewinn gepriesen,

Und jedes Laster kommt aus Geizes Haus.

Der Geiz schätzt edle Art, das Gute, Schöne,

So wie der Esel schätzt der Leier Töne.
[94]

20.

Als ihm die Bitte so ward abgeschlagen

(Alcest war dieser Rittersmann genannt)

Von dem, der auch noch Größres nicht versagen

Ihm durfte, schied der Ritter aus dem Land.

»Den König soll es reun,« hört man ihn sagen,

»Verweigert er mir seiner Tochter Hand.«

Zum Herrn Armeniens, der kein geringer

Rival und Feind war meines Vaters, ging er.


21.

Zu stacheln wußt' er ihn und zu bewegen,

Den Vater jetzt mit Krieg zu überziehn.

Ihm selber ward, vollbrachter Taten wegen,

Die Leitung übers ganze Heer verliehn.

Was er gewinne, sprach er, mit dem Degen,

Gehör' Armenien; eins nur sei für ihn:

Zum Lohne woll' er meinen Leib, den jungen,

Wenn er das ganze Lyderreich bezwungen.


22.

Unmöglich ist es, daß ich dir berichte,

Was uns für Schaden wurde durch Alcest:

Vier Heere macht' er in dem Jahr zunichte;

Vom ganzen Land blieb uns als einz'ger Rest

Nur eine Burg von trutz'gem Angesichte,

Durch Klippen stark; in dieses Felsennest

Muß sich der König mit den Seinen betten

Und dem, was von den Schätzen noch zu retten.


23.

Alcest belagert uns; er macht das Leben

Fortan dem Vater schwer in kurzer Zeit:

Als Weib mich ihm zu lassen und daneben

Als Sklavin, wär' er gerne jetzt bereit,

Sein halbes Reich dazu, säh' er nur eben

Vor weiterer Bedrängnis Sicherheit.

Es war ihm klar, er werde bald verderben

Und drauf den Tod als ein Gefangner sterben.
[95]

24.

Versuchen möcht' er, ehe das geschehe,

Ob er ein Rettungsmittel find' heraus,

Und mich, die Anlaß war von all dem Wehe,

Schickt er vom Felsen zu Alcest hinaus.

Ich liefre – denk' ich, als ich zu ihm gehe –

Mich ihm mit dieser einen Bitte aus,

Daß er, was ihm vom Reich genehm, behalte,

Damit nach böser Zwietracht Frieden walte.


25.

Doch kaum vernimmt der Sieger mein Erscheinen,

So kommt er mir entgegen, zitternd, blaß.

Er sei der Überwundne, könnt' ich meinen;

Auf seinen bangen Zügen las man das.

Als ich ihn glühen sah, entsag' ich meinen

Bisherigen Gedanken, und voll Haß

Entwerf' ich nach der Stimmung, die ich finde,

In meinem Kopfe neuen Plan geschwinde:


26.

Ich klage wild und treib' ihn in die Enge

Und fluch' ihm, daß er – liebend – rauh und hart

Den Vater also ungerecht bedränge

Und gar sein Glück von der Gewalt erwart';

In kurzer Zeit ihm vieles wohl gelänge,

Wär' er geblieben bei der alten Art,

Wie er begonnen einst, und die uns allen,

Auch meinem Vater, habe wohlgefallen.


27.

Ward gleich die Bitte, die er vorgetragen,

Zu Anfang von dem König nicht gewährt

(Rauh sei er von Natur; beim ersten Fragen

Werd' immer erst ein Nein hervorgekehrt),

So durft' er doch nicht treuem Dienst entsagen

Und sich dem Zorn vertrauen und dem Schwert,

Nein, mußte stets durch größre Dienste streben,

Nach dem ersehnten Ziel sich zu erheben.
[96]

28.

Und hätt' auch noch der Vater widerstanden,

So stürmt' ich selbst mit Bitten auf ihn ein,

Bis er uns eine durch der Ehe Banden.

Verharr' er aber doch bei seinem Nein,

Sei ein geheimer Weg ja noch vorhanden,

Mit dem Alcest zufrieden könnte sein.

Doch seit er's nun auf anderm Weg betrieben,

Sei ich entschlossen, nimmer ihn zu lieben.


29.

Und ob ich schon zu ihm herausgegangen,

Weil Mitleid mit dem Vater mir's gebot,

Genöss' er kurze Lust, wenn sein Verlangen

Er etwa stille mir zur Schmach und Not.

Denn fest an diesem Vorsatz werd' ich hangen;

Mein Herzblut mache dort die Erde rot,

Sobald die schnöde Freveltat gelungen,

Und ich durch schändliche Gewalt bezwungen.


30.

Dies – als ich fand, ich könn' ihm ganz gebieten –

Sprach ich zu ihm und manches andre Wort.

Ich sah ihn, reuiger als Eremiten

Es sind an irgendeinem heil'gen Ort;

Sah ihn auf seinen Knien den Dolch mir bieten

Nun seinerseits, damit er mir sofort

Die Sühne für sein schwer Vergehen bringe:

Er wollte, daß ich selbst die Waffe schwinge.


31.

So plan' ich denn bei mir, wie ich zu Ende

Den Sieg wohl führe, mir vergönnt vom Glück:

Ich laß ihn hoffen, daß mein Sinn sich wende

Und daß er die gewünschte Blume pflück',

Wenn er, den Fehler bessernd, in die Hände

Des Vaters liefer' unser Reich zurück

Und künftig strebe, daß er meine Minne

Durch Dienst und Liebe, nie durch Krieg, gewinne.
[97]

32.

Und er versprach's; ich bin zur Burg gegangen

So unberührt, wie erst ich kam daher:

Er wagte keinen Kuß auf meine Wangen.

Sperrt' ich ihn nicht ins Joch, sprich, fest und schwer?

Ließ ich ins Herz nicht Amors Pfeil gelangen?

Brauchte der Gott zu senden ihrer mehr?

Nun ging er zum Armenier, der bekommen

Sollte, was uns an Ländern ward genommen,


33.

Und bat ihn mild, wie feiner Sinn ihn lehrte,

Er gönne ihrem alten Herrn fortan

Die Lande, die sein Schwert bisher verheerte:

Den Weg nach Hause tret' er friedlich an.

Worauf der Fürst voll Zorn sich zu ihm kehrte

Mit kurzem Wort: er denke nicht daran;

Krieg führ' er in dem Land, darin er bleibe,

Bis er vom letzten Zoll den Lyder treibe.


34.

Ließe der andre durch ein Weib sich fangen

Und girre, nun, so sei der Schade sein;

Er dürfe nicht Verzicht auf das verlangen,

Was Jahresmüh' gebracht voll Not und Pein.

Als alle Bitten nicht zum Ziel gelangen

Und weder Flehn noch Klagen ihm gedeihn,

Gibt, jetzt im Zorn, Alcest ihm zu verstehen,

Sein Wille müss' auf jeden Fall geschehen.


35.

Wie Zornes Fluten rasch gewachsen waren,

Kam es zu schlimmrer Tat von schlimmem Wort.

Den König konnten tausend nicht bewahren:

In ihrer Mitt' erschlug Alcest ihn dort,

Der Menge trotzend, führte seine Scharen

Zum Sieg dann gegen die Armenier fort:

Wobei, die sich in seinem Sold befanden,

Und Thrazier und Cilicier zu ihm standen.
[98]

36.

Ohn' Aufwand für den Vater, bloß aus Gnaden

Gab er das Reich ihm wieder nach dem Sieg,

In Monatsfrist; auch ließ er für den Schaden,

Nachdem der König neu den Thron bestieg,

Zu andrer Beute mit Tribut beladen

Oder erobern mit Gewalt und Krieg

Der Kappadozier und Armenier Lande,

Und durch Hyrkanien zog er bis zum Strande.


37.

Wir aber sannen, ihm den Tod zu geben

Statt des Triumphs nach seiner Wiederkehr;

Doch ließen wir's, nicht Fehlschlag zu erleben,

Denn allzu groß war seiner Freunde Heer.

Ihn mit der Hochzeit Hoffnung zu umweben,

Zeig' ich ihm – heuchelnd – Liebe, täglich mehr.

Doch vorher soll er, was an Kraft ihm eigen,

So sag' ich, gegen unsre Feinde zeigen.


38.

Auf Abenteuer send' ich ihn vom neuen

Allein, sei's mit geringen Scharen, aus –:

Verderbend müßt' es jeder sonst bereuen,

Er aber kommt mit heiler Haut nach Haus,

Und immer darf er sich des Sieges freuen,

Oft gegen Ungetüme voller Graus,

Grimme Giganten oder Lästrygonen,

Die öfter nahten unsern Regionen.


39.

So ward nicht von Eurystheus dem Alkiden,

Nicht von der argen Mutter zugesetzt,

Der nach Nemea, Thrazien, zu Numiden,

Nach Erymanth und Lerna ward gehetzt,

Ätolien und so fort, wie ich den Frieden

Ihm stören ging: mit falschen Bitten jetzt,

Dann mörderisch mit Tücke, gift'gen Waffen,

Einzig bedacht, ihn aus der Welt zu schaffen.
[99]

40.

Als es auf diesem Weg nicht will gelingen,

Wird etwas andres noch von mir erdacht:

Ich laß ihn allen denen Kränkung bringen,

Die für ihn sind, daß er verhaßt sich macht.

Er, dessen Glück es ist, vor allen Dingen

Mir zu gehorchen, hat nur dessen acht,

Daß es nach meinen Winken mög' ergehen,

Ohne die Opfer auch nur anzusehen.


41.

Als alle Gegner so beseitigt schienen

Von meines Vaters Haus im Land umher,

Besiegt Alcest auch – durch Alcest – mit ihnen,

Denn keinen einz'gen Freund nun hatt' er mehr,

Trat ich vor ihn mit unverstellten Mienen

Und sagt' ihm klar, was ich verhehlt bisher:

Ich hasse ihn im tiefsten Herzen drinnen;

Sein Tod –, das sei mein Sehnen und mein Sinnen.


42.

Doch ließ ich diesen jetzt ihm angedeihen,

So würd' ich grausam von der Welt genannt,

Und über Undank würden viele schreien

(Denn was er für uns tat, war ja bekannt);

Von seinem Anblick soll er mich befreien,

Aus meiner Nähe bleib' er stets verbannt.

Nie sehn woll' ich ihn mehr, nie sprechen hören;

Kein Brief, kein Bote dürfe je mich stören.


43.

Mein schnöder Undank schuf ihm solche Qualen,

Daß er zuletzt durch schwere Herzensnot,

Nach Flehn und Bitten zu verschiednen Malen

In Krankheit sank und schließlich in den Tod.

Nun muß ich hier für mein Vergehn bezahlen:

Mein Auge trieft, und schwarzes Qualmen droht

Erstickung – diese Qual wird ewig dauern:

»Verzeihung kennen nicht der Hölle Mauern.«
[100]

44.

Als so die Worte Lydias verklingen,

Will Astolf umschaun nach noch andern mehr,

Doch wallt die Finsternis, die Strafe bringen

Dem Undank soll, um ihn so dicht und schwer:

Auch keinen Zoll breit kann er vorwärts dringen.

Er muß an Rückkehr denken und gar sehr

Die Beine rühren: es bedarf der Eile,

Daß er im Qualme nicht für ewig weile.


45.

Nur raschem Lauf ist solch ein Wechsel eigen

Der Sohlen, nicht dem bloßen Schritt und Trab;

So weit gelangt er bei dem Aufwärtssteigen,

Daß ihm die Höhlenöffnung kund sich gab:

Wobei sich Schimmer bloß vom Lichte zeigen;

Sie blitzen in die Finsternis hinab.

Keuchend und mühsam aus dem Höhlengrunde

Kommt er hinauf, und aus dem rauch'gen Schlunde.


46.

Um allen Bestien mit den Vogelbeinen,

Den gierigen, die Rückkehr zu verbaun,

Beginnt er aufzuhäufen Stein auf Steinen

Und Pfefferbäum' (und andre) abzuhaun,

Und vor der Höhle macht er so mit seinen

Händen ein Schutzwerk oder einen Zaun.

Ganz übermaßen gut gelang ihm alles:

Harpyien kommen fürder keinesfalles.


47.

Nicht nur daß Qualm und Rauch ihn dicht umschlangen,

Als er im schwarzen Schlunde sich befand,

Nein, tiefer war der arge Schmutz gegangen,

Unter die Rüstung hin und das Gewand.

Wasser zu finden ist nun sein Verlangen:

Er sucht und sieh! – aus einer Felsenwand

Im Waldesdickicht fließt ein Bächlein helle:

So wäscht er sich von Kopf zu Fuß im Quelle,
[101]

48.

Steigt dann aufs Flügelroß: es regt die Schwinge,

Emporzufliegen jenen Berg hinan,

Von dessen Gipfel man zum Mondesringe,

Wie man vermeint, hinaufgelangen kann.

Er wünscht gar sehr, daß er zur Höhe dringe:

Verläßt die Erde, schwebt nur himmelan,

Bis mehr und mehr zurück die Lüfte weichen,

Und Mann und Roß das höchste Joch erreichen.


49.

Die Blumen dort auf heitern Auen schienen

Demant und Chrysolith und Hyazinth,

Saphir, Topase, Perlen, Gold, Rubinen,

Emporgezaubert von dem lauen Wind.

Und Gras und Blatt so grün: besiegt von ihnen

Steht der Smaragden helle Pracht, es sind

Nicht minder schön der Bäume Laub und Äste,

Geschmückt mit Blüten, Früchten stets aufs beste.


50.

Und holde Vögel singen in den Zweigen,

Blau, weiß und grün und rot und gelb zu sehn;

Die Helle der Kristalle muß sich neigen

Vor muntern Bächlein und vor stillen Seen.

Gleichmäßig wallt der sanften Winde Reigen,

Die niemals rauh, nur immer lieblich wehn:

Der Hauch macht rings die Lüfte schaukelnd beben,

Daß niemals starke Gluten Plagen geben.


51.

Den Blumen, Früchten, Pflanzen allzusammen

Stahl er die Düfte mannigfach und rar,

Und eine Mischung ließ er dem entstammen,

Die Wonn' und Süßigkeit der Seele war;

Und ein Palast, wie von lebend'gen Flammen

Entglommen, ragte mächtig, wunderbar.

Ein solcher Glanz ringsum und solches Leuchten,

Daß sie Euch sicher überirdisch deuchten.
[102]

52.

Der Paladin läßt dem Palast entgegen,

Der rings an sieben Meilen wohl umfaßt,

Sein Tier bedächtig, langsam sich bewegen,

Das Land bewundernd und den hellen Glast;

Und häßlich scheint vor dieser Pracht dem Degen,

Und Gott und der Natur zugleich verhaßt,

Die schmutz'ge Erde, die wir hier bewohnen:

So herrlich ist's in jenen lichten Zonen.


53.

Ergriffen bleibt er stehn von heil'gem Schauer,

Als er das Dach, das schimmernde, erreicht;

Ein einz'ger Edelstein ist dort die Mauer,

Vor dessen Glanz Karfunkels Helle weicht.

Erhabnes Werk! Dädalischer Erbauer!

Was ist auf Erden, das sich dem vergleicht!

Stumm muß ein jeder bleiben und vernichtet,

Der von den sieben Wundern stolz berichtet.


54.

Der Herzog ward begrüßt von einem Alten

Am Säulengang des Hauses licht und hehr;

Weiß war das Kleid und rot des Mantels Falten,

Das weiß wie Milch und rot wie Mennig der.

Zur Schulter weiß die Haare niederwallten,

Weiß auf die Brust der Bart gar lang und schwer,

Und so verehrungswürdig seine Mienen,

Als sei der Sel'gen einer hier erschienen.


55.

Zu Astolf, der vom Tier war abgestiegen,

Mit fröhlichem Gesichte sprach der Greis:

»Der du zum Paradiese durftest fliegen

Der Erde, auf des Himmelsherrn Geheiß,

Mag auch der Grund dafür verdeckt dir liegen,

Wie seiner Sehnsucht Zweck dein Herz nicht weiß,

Nicht ohne tief Geheimnis, sollst du wissen,

Warst du des Wegs vom Norden her beflissen.
[103]

56.

Zu hören, wie du Karl kannst Hilfe bringen

Und wie beenden heil'ger Kirche Haft,

Zu mir her mußtest du von ferne dringen,

Planlos, wo rechten Plan mein Rat dir schafft.

Doch schreibe, lieber Sohn, ein solch Gelingen

Nicht eigner Klugheit zu noch eigner Kraft.

Nicht nützten Horn und Flügelpferd hienieden,

Wäre die Hilfe nicht von Gott beschieden,


57.

Was zu besprechen wir noch Muße haben;

Und wie du handeln mußt, hörst du von mir.

Jetzt soll bei uns dich Trank und Speise laben,

Das Fasten hat wohl keine Gunst bei dir.«

Und weiter sprechend zeigt er hohe Gaben

Und setzt den Herzog in Erstaunen schier,

Als er sich nennt; der Greis, der ihn zu Gast hat,

Ist – er, der's Evangelium verfaßt hat,


58.

Der Jünger, der zumeist dem Herrn willkommen.

Die Sage ging, es wurde Sankt Johann

Nicht so wie wir vom Tod hinweggenommen.

Zu Petrus sprach der Herr: »Was geht's dich an,

Bleibt er allhier, zu warten auf mein Kommen?«

So deutete der Heiland einst es an;

Er sagte nicht, daß er nicht sterben sollte,

Doch man erkennt, daß er es sagen wollte.


59.

Er ward entrückt dorthin; nicht einsam stand er,

Denn Henoch war, der Patriarch, schon da;

Elias ferner, den Propheten, fand er,

Der auch noch nicht den letzten Abend sah.

Sie freun sich ew'gen Lenzes miteinander,

Nicht mehr den schlimmen Erdenlüften nah;

Einmal verkünden Engelshörner ihnen,

Daß Christ, der Herr, auf weißer Wolk' erschienen.
[104]

60.

Im Saal, zu dem der Ritter unterdessen

Vom Heil'gen gastlich hingeleitet war

(Das Roß bekam woanders Korn zu fressen),

Bot Auserlesnes sich in Fülle dar.

Die Früchte, die man Astolf gab zu essen,

Sie schmeckten, schien ihm, köstlich, und fürwahr:

Entschuldigung verdienen ein'germaßen

Die ersten Eltern, wenn sie davon aßen.


61.

Nachdem der Herzog in der rechten Weise

Den Anspruch der Natur befriedigt hat

(Durch Ruhe jetzt, sowie zuvor durch Speise,

– Alles war gut und schön an dieser Statt –),

Sieht er, als Eos schied von ihrem Greise

(Der ihr noch lieb war, ob auch altersmatt),

Sobald er sich vom Bette hat erhoben, –

Den Jünger, lieb dem Herrn im Himmel droben.


62.

Der nahm ihn bei der Hand, ließ ihn verstehen,

Was hier in Ehrfurcht zu verschweigen ist,

Und sprach dann: »Sohn, du weißt nicht, was geschehen

In Frankreich, draus du doch gekommen bist:

Weil Roland ließ die heil'gen Banner wehen

Und seinen Weg ging, hat zu dieser Frist

Ihn Gott bestraft, der immer das Verbrechen

Des, der ihm lieb ist, schwerer pflegt zu rächen.


63.

Ihm wurde von dem Schöpfer ja gegeben

Die höchste Kühnheit und die höchste Kraft,

Und daß kein Eisen ihn verletzt im Leben,

Das jedem andern Menschen Wunden schafft;

Denn zum Beschützer wollt' ihn Gott erheben

Des heil'gen Glaubens und der Christenschaft,

So wie er den Philistern einst zum Trutze

Den Simson schickte zu der Juden Schütze.
[105]

64.

Doch euer Roland hat für solche Gnade

Nur üblen Dank bewiesen seinem Herrn:

Als das getreue Volk ihn braucht gerade,

Da bleibt er dem bedrängten König fern.

Verblendend lockt ihn Lieb' auf Frevelpfade;

Lieb' einer Heidin war sein böser Stern.

So wild und grausam ist er schon geworden,

Daß er den treuen Vetter wollte morden.


65.

Die Strafe ist, daß er, von Wahn gebunden,

Mit nackter Brust und Hüfte schweifend rennt,

Verstand ist ihm gestört und ist geschwunden,

Daß er nicht andre und sich selbst nicht kennt.

So hat die Strafe Gottes einst gefunden

Ihn, den das Buch Nebukadnezar nennt,

Der, sieben Jahr lang toll, war drauf versessen,

Dem Rinde gleich, nur Gras und Heu zu fressen.


66.

Doch weil der Graf sich minder schwer vergangen,

Als jener Herrscher in der alten Zeit,

Soll er nach Gottes Willen Gnad' erlangen,

Wenn er drei Monat büßte voller Leid.

Dich aber ließ der Heiland hergelangen

Zu keinem andern Zwecke von so weit,

Als daß du hörest, wie es mag gelingen,

Ihm des Verstandes Kraft zurückzubringen.


67.

Da gilt es freilich eine neue Reise;

Mit mir verläßt du gänzlich diese Welt.

Ich führe dich hinauf zum Mondeskreise

(Kein Sternbild hat sich uns so nah gesellt),

Weil er die Arzenei, die wieder weise

Den Grafen Roland macht, in sich enthält.

Wenn nachts der Mond uns wird zu Häupten stehen,

Soll unsre Fahrt dahin vonstatten gehen.«
[106]

68.

Dies und noch andres legt in diesen Stunden

Dem Herzog Astolf der Apostel dar;

Doch als die Sonne war im Meer verschwunden

Und Lunas Hörner glänzten hell und klar,

Hat sich für sie ein Wagen eingefunden,

Der für so luft'ge Fahrten passend war.

Durch ihn ward in Judäas Bergen droben

Vor Menschenblick Elias aufgehoben.


69.

Vier Renner, röter noch als Flammen, spannte

Der heil'ge Jünger diesem Wagen vor

Und setzte sich mit Astolf hin und wandte,

Die Zügel fassend, rasch sich hoch empor

Durch Ätherluft, bis wo das Feuer brannte,

Das ewig lodernde, am Himmelstor;

Da plötzlich ließ der Greis des Feuers Spuren

Durch Wunder schwinden, während sie's durchfuhren.


70.

Hin durch die Feuersphäre ging's beim Fliegen:

Sie kommen nach dem Reich des Mondes dann,

Sehn ihn wie fleckenlosen Stahl dort liegen

Und finden, daß er sich vergleichen kann

Dem andern Ball, von dem sie aufgestiegen

(Der mutet sie nur etwas größer an),

Ich rede von dem Teil am Erdenballe,

Den rings das Meer umschließt mit Wogenschwalle.


71.

Zwei Dinge mußten Staunen dort erregen:

Daß man den Mond so ausgedehnt erfand,

Den wir von unten klein zu schauen pflegen;

Nur tellergroß erscheint von hier dies Land;

Dann, daß man, um zu sehn, was hier gelegen,

Länder und Meer, den Blick so angespannt

Ausschicken muß: da sie kein Licht verbreiten,

Sind sie nur nah zu sehn und nicht vom weiten.
[107]

72.

Ein anderes Gefild ist dort zu schauen

Als hier bei uns und andre Flüss' und Seen

Und andre Berg' und Täler, andre Auen,

Darinnen Städte viel und Schlösser stehn.

So große Häuser, wie sie droben bauen,

Hat Astolf vor- und nachher nie gesehn.

Und hohe Wälder dicht und einsam ragen,

Darin die Nymphen wilde Tiere jagen.


73.

Nicht alles konnt' er dort genau betrachten,

Denn nicht zu diesem Zwecke kam er ja.

Nach einem engen Tal in Bergen machten

Sich beide auf den Weg, und siehe, – da

War wunderbarlich aufgehäuft in Schachten,

Was einst hier war, ob's durch die Zeit geschah

Oder durch Zufall oder Schuld von Toren;

Kurz, hier wird aufbewahrt, was wir verloren.


74.

Nicht Herrschaft nur und Reichtum mein' ich eben,

Die zu zermalmen ist das Rad bedacht,

Nein, was Fortuna nie vermag zu geben

Noch fortzunehmen: Ruhm ward hingebracht,

Gar viel und großer, dran die Zeit im Leben

Gleich einem Wurme nagt bei Tag und Nacht;

Gelübde mancherlei, Gebet und Flehen,

Die von uns Sündern hin zum Himmel gehen;


75.

Die Zeit, die ungenützt verstreicht beim Spiele,

Die Seufzer all von der Verliebten Heer,

Unausgeführte Plän', Entwürfe, Ziele,

Der Tagediebe Muße lang und leer.

Von eitlen Wünschen aber sind so viele:

Nichts andres dort verstopft den Platz so sehr.

Kurzum, was hier auf Erden dir entschwunden,

Dort oben auf dem Monde wird's gefunden.
[108]

76.

Der Führer, der den Herzog will geleiten,

Belehrt ihn über all die Schachte dort.

Als Berg sich aufgeblähte Blasen breiten;

Draus schallt ein Lärmen, Schrein und heftig Wort:

Die Kronen sind es aus den alten Zeiten,

Der Lyder einst und der Assyrer Hort,

Der persischen und auch der Griechenscharen,

Die – jetzt ein Name kaum – so ruhmvoll waren.


77.

Angeln aus Silber, Gold in großen Massen

Sind Gaben, dargebracht von Gier nach Lohn,

Wie sie die Könige sich machen lassen

Oder ein geiz'ger Großer, ein Patron.

Kränze, die eine Schlinge in sich fassen,

Sind Schmeicheleien mit verstecktem Hohn.

Es zeigen Verse, die den Fürsten loben,

Sich in Gestalt geplatzter Heimchen droben.


78.

Mißglückte Liebeshändel sind zu schauen

Als goldne Ketten, reich an edlem Stein.

Da waren ferner, hör' ich, Adlerklauen –:

Die Macht, die große Herrn dem Diener leihn.

Blasbalg mit vollen Schläuchen – ist Vertrauen

Und Gunst: – die lassen Fürsten angedeihn

Wohl ihren Ganymeden eine Weile,

Damit sie mit der Jahre Blüt' enteile.


79.

Schlösser und Städte sieht er, die vergangen,

An Schätzen reich, von Trümmern zugedeckt –:

Verträge, Meutereien, die mißlangen,

So hört er, sind's; meist werden die entdeckt.

In Mädchenköpfen mit dem Leib von Schlangen

Falschmünzerwerk und Diebestrachten steckt;

Dann mancherlei zerbrochne Wasserflaschen;

Das war der Dienst bei Herrn mit leeren Taschen. –
[109]

80.

Breisuppen viel, verschüttet, ausgelaufen;

Beim Führer holt er die Belehrung sich:

Almosen sind's, die Seligkeit zu kaufen,

Zu spenden erst, nachdem das Leben wich.

Von Blumen sieht er einen Bergeshaufen:

Einst roch es gut, jetzt stinkt es fürchterlich.

Das waren – mit Verlaub – der Schenkung Rester,

Gemacht von Konstantin an Papst Silvester.


81.

Leimruten sah er dort in großer Menge:

Das waren eure Reize, schöne Fraun!

Doch wär's zu lang: ich käme ins Gedränge,

Wollt' ich aus allem meine Verse baun,

Weil mir's mit Tausenden noch nicht gelänge:

Alles von dort war einst bei uns zu schaun. –

Der Torheit nur konnt' er nicht habhaft werden:

Die – weicht ja nicht von uns; sie bleibt auf Erden.


82.

Dann stieß er auch auf eigne Tag' und Taten,

Die einst ihm nutzlos schwanden aus der Hand,

Hätt' ihm der Führer dieses nicht verraten,

Er hätt' in der Gestalt sie nicht erkannt.

Drauf sah er, was wir nie von Gott erbaten,

Weil wir's so reichlich haben –, den Verstand.

Von diesem wahre Berge dort sich fanden:

Mehr gab's davon, als was noch sonst vorhanden.


83.

Es ist wie Flüssigkeit, die, schlecht verschlossen,

Als fein und ätherhaft verfliegt zumeist.

In mannigfache Krüg' ist's eingegossen,

Wie grade jeder passend sich erweist.

Der größte Krug dort barg des Milonsprossen

Gewalt'ges Denken, seinen hohen Geist.

Und ein Erkennungszeichen war geblieben:

»Rolands Verstand« war deutlich draufgeschrieben.
[110]

84.

So waren auch die andern sonst mit Scheinen,

Wem der Verstand gehörte, dort versehn.

Ein gutes Teil erblickt er auch des seinen;

Am meisten staunt er, daß er manchen, den

Durchaus verständig alle Leute meinen

Und dem auch nicht ein Gran schien abzugehn,

Nun muß für einen armen Schlucker halten,

Weil er den Krug so vieles sah enthalten.


85.

Dem nahm ihn Ehrgeiz, dem ein tolles Lieben,

Dem Hoffnung, auf der Fürsten Gunst gesetzt;

Dem hat ihn dumme Schwarzkunst ausgetrieben,

Dem Habsucht, die ihn auf das Meer gehetzt;

Dem war nur Sinn für Bilder, Stein geblieben,

Und der hat blindlings andres hoch geschätzt.

Auch viele Krüge von Poeten waren,

Von Astrologen- und Sophistenscharen.


86.

Astolf nahm seinen her, denn nicht verwehren

Wollt' er es, der die Offenbarung schrieb.

Wie er dran roch, – schien sich der Krug zu leeren,

Was den Verstand zur alten Stelle trieb:

Turpin erzählt, daß Astolf nun in Ehren

Für lange Zeit ein weiser Meister blieb,

Bis das Gehirn noch einmal mußte weichen,

Durch einen weitern Fall von dummen Streichen.


87.

Im größten, vollsten Kruge war enthalten,

Wodurch der Graf so weise ward gemacht.

Ihn nahm sich Astolf; als er ihn erhalten,

Fand er ihn schwerer, als er sich gedacht.

Bevor er nun zurückfährt mit dem Alten,

Zu niedern Sphären aus des Lichtes Pracht,

Sind sie zu einem großen Schloß gezogen:

In seiner Nähe wälzt ein Strom die Wogen.
[111]

88.

Allübrall sehn sie Flockenbündel stehen

Aus Wolle, Baumwoll', Flachs und Seide gar,

Vielfarbig, häßlich teils, teils schön zu sehen.

Im Vorhof spann ein Weib mit grauem Haar

Und ließ das alles durch die Haspel gehen.

So zieht im Dorf im Sommer Frauenschar

Die Fäden aus des Wurms benetztem Kleide,

Beim Sammeln und beim Haspeln neuer Seide.


89.

Wenn ein Pack fertig ist, kommt von den Leuten

Ein Mann sogleich mit neuem Stoff herein.

Ein Weib erscheint, die Reihen auszubeuten:

Schönes allein und Schlechtes auch allein.

»Das Werk versteh' ich nicht: was soll's bedeuten?«

Fragt Astolf jetzt. – »Du sollst befriedigt sein:

Die Frauen hier sind Parzen, und sie weben«,

Der Alte spricht, »euch Menschen so das Leben.«


90.

So lang gerade, wie die Flocken währen,

Währt Leben auch, darüber nicht hinaus.

Natur und Tod hierher die Augen kehren:

Sie finden so das Lebensend' heraus.

Durch Schmuck des Paradieses Glanz zu mehren,

Sucht jene sich die schönen Fäden aus.

Die schlechten aber, die dem Knäul entstammten,

Braucht man als rauhen Strick für die Verdammten.


91.

An allen Bündeln, die vom Haspel gingen,

Gesichtet, weil nun anderm Werk geweiht,

Auf Plättchen eingedrückt, die Namen hingen

Aus Eisen, Silber oder Goldgeschmeid'.

Viel Haufen türmten sich aus diesen Dingen,

Davon ein Alter ohne Müdigkeit

Fortnahm (nie dacht' er dran, sich zu erholen),

Und immer kam er, neues fortzuholen.
[112]

92.

Als wär' er nur geboren, um zu laufen,

Flink, hurtig ist der Greis, der also eilt:

Was andrer Namen trägt, nimmt er vom Haufen

In seines Mantels Zipfel unverweilt.

Warum er's tut, und ohne zu verschnaufen,

Werd' Euch im nächsten Sange mitgeteilt,

Wenn Ihr mich mit gewohnter Huld bedenket

Und mir ein Zeichen Eures Beifalls schenket.

Quelle:
Ariosto, Ludovico: Der rasende Roland. In: Sämtliche poetischen Werke, Berlin 1922, Band 3, S. 89-113.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der rasende Roland
Die Historia vom Rasenden Roland
Ludovico Ariosts Rasender Roland nacherzählt von Italo Calvino

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