Erfahrungen eines jungen Schweizers

im Vogtlande

[227] (Als Beilage zur Sokratie der Frau Rat)


Der Vater webet zu Bett und Hemden und Hosen und Jacke das Zeug und wirkt Strümpfe, doch hat er selber kein Hemd. Barfuß geht er und in Lumpen gehüllt!

Die Kinder gehen nackt, sie wärmen sich einer am andern auf dem Lager von Stroh und zittern vor Frost.

Die Mutter weift Spulen vom frühsten Tag zur sinkenden Nacht. Öl und Docht verzehret ihr Fleiß und erwirbt nicht so viel, daß sie die Kinder kann sättigen.

Abgaben fordert der Staat vom Mann, und die Miete muß er bezahlen, sonst wirft ihn der Mietherr hinaus und die Polizei steckt ihn ein. Die Kinder verhungern, und die Mutter verzweifelt.

Die Armenverwesung hat taube Ohren, sie läßt lange vergeblich sich anschreien vom Armen, was er ihr abdringt, das Leben zu fristen, läßt ihn nur langsamer sterben. Die Armenverwesung spart die milden Spenden zum Kapital und legt es auf Zinsen. Die Armen sind Verschwender: »Heute essen sie, – morgen nicht, – übermorgen essen sie wieder, und in den Zwischentagen geben sie dem noch ärmeren Nachbar, was sie sich abhungern.«

Kreuzweis wird durch die Stube ein Seil gespannt, in jeder Ecke haust eine Familie, wo die Seile sich kreuzen, steht ein Bett für den noch Ärmeren, den sie gemeinschaftlich pflegen. –

An Feiertagen hält der Mäßigkeitverein eindringliche Reden im Vogtland, wo für fünf Dreier fünfe ein Mahl sich bereiten. Ist euer Magen zu schlaff, daß ihr den Verein zum Vogtland nicht hinausbellt? So wie der Bettelvogt mit Flüchen den wieder hineinbellt, der mit List durchschlüpft, um für Vater und Mutter ein Stück Brot zu erbetteln.

Ihr sagt zwar: »Es geht nicht zu helfen«, ich sag: »Es geht doch«, ihr widersprecht und seid nicht zum Schweigen zu bringen mit hohlen Gründen der Philisterei. Wärt ihr aber selber die Armut, dann würdet ihr allen Philisterverstand übertäuben mit dem Geschrei eurer Not.

Soll der Adel euch adeln, den mit Wucherglück der Bürger seiner Abkunft zum Hohn im adligen Gute sich ankauft, so mach er, statt Luxusanlagen von Tempel und Grotte und tanzenden Wassern, – Anlagen für Heimatlose, und sein Sommerpläsier, die english cottage, mach er zur deutschen Hütte, worin deutsche Armut sich erholt; den englischen Rasen teil er aus[227] zu Feldern für Kartoffel und Brot, und er ist Edelmann, wer wird widersprechen?

Höher steigt dann im Rang, wer's um die Armen verdient, durch ihre Betriebsamkeit mit sich zugleich sie selber emporbringt, der grünt am eignen Stamm wie ein edleres Pfropfreis, lebendige Bedeutung, die wir anerkennen in ihm, hat er als Graf.

Wer aber keinen andern Zweck mehr hat, als der Elenden Ansprüche ans Leben zu vertreten, keine Standeserhebung als nur die Erhebung der Menschheit insgesamt, der die Asche seiner Väter mit der Armen Asche auf dem Gottesacker sammelt, und keine Familiengruft baut seinen Ahnen, wo Lebende kein Obdach haben, der ist vom reinen Stamm – der Fürst der Menschheit und reich an Gütern der Weisheit, an denen wir alle ja arm sind. –[228]


Vogtländer, bejammre nicht dein eignes Geschick.

Beklage nur die, die kein Mitleid fühlen mit dir.


Vor dem Hamburger Tore, im sogenannten Vogtland, hat sich eine förmliche Armenkolonie gebildet. Man lauert sonst jeder unschuldigen Verbindung auf. Das aber scheint gleichgültig zu sein, daß die Ärmsten in eine große Gesellschaft zusammengedrängt werden, sich immer mehr abgrenzen gegen die übrige Bevölkerung und zu einem furchtbaren Gegengewichte anwachsen. Am leichtesten übersieht man einen Teil der Armengesellschaft in den sogenannten »Familienhäusern«. Sie sind in viele kleine Stuben abgeteilt, von welchen jede einer Familie zum Erwerb, zum Schlafen und Küche dient. In vierhundert Gemächern wohnen zweitausendfünfhundert Menschen. Ich besuchte daselbst viele Familien und verschaffte mir Einsicht in ihre Lebensumstände.

In der Kellerstube Nr. 3 traf ich einen Holzhacker mit einem kranken Bein. Als ich eintrat, nahm die Frau schnell die Erdäpfelhäute vom Tische, und eine sechzehnjährige Tochter zog sich verlegen in einen Winkel des Zimmers zurück, da mir ihr Vater zu erzählen anfing. Dieser wurde arbeitsunfähig beim Bau der neuen Bauschule. Sein Gesuch um Unterstützung blieb lange Zeit unberücksichtigt. Erst als er ökonomisch völlig ruiniert war, wurden ihm monatlich fünfzehn Silbergroschen zuteil. Er mußte sich ins Familienhaus zurückziehen, weil er die Miete für eine Wohnung in der Stadt nicht mehr bestreiten konnte. Jetzt erhält er von der Armendirektion zwei Taler monatlich. In Zeiten, wo es die unheilbare Krankheit des Beines gestattet, verdient er einen Taler monatlich; die Frau verdient das Doppelte, die Tochter erübrigt anderthalben Taler. Die Gesamteinnahme beträgt also sechseinhalb Taler im Monat. Dagegen kostet die Wohnung zwei Taler; eine »Mahlzeit Kartoffeln« einen Silbergroschen neun Pfennig; auf zwei tägliche Mahlzeiten berechnet, beträgt die Ausgabe für das Hauptnahrungsmittel dreieinhalb Taler im Monat. Es bleibt also noch ein Taler übrig zum Ankaufe des Holzes und alles dessen, was eine Familie neben rohen Kartoffeln zum Unterhalte bedarf. – Im Zimmer Nr. 113 des gleichen Hauses wohnt der alte Sinhold mit seiner Frau. Aus dem letzten Feldzuge kehrte er mit zerrütteter Gesundheit zur Arbeit in der Fabrik zurück. Er erzog neun Kinder. Die Armut zwang ihn, die Stadt zu verlassen und zwei Webstühle im Familienhause aufzustellen. Seit fünfzehn Wochen liegt er krank im Bette. Die Webstühle stehen still, die Frau ist mit der Epilepsie behaftet, verdiente sonst mit Spulen andertbalb Silbergroschen täglich; jetzt findet sie keine Arbeit. Die wenigen Gerätschaften gehören den Juden, der letzte Rock[229] ist verkauft. Von der Armendirektion erhält Sinhold jeden Monat einen Taler, den aber der Hausverwalter sogleich in Empfang nimmt. Der Krankenverein reicht ihm die »Krankensuppe«, die ihn und seine Frau ernährt. Vom Hausherrn ist er »ausgeklagt«, d.h. er ist für drei Monat Miete schuldig. Am 1. April wird man ihn in die Charité bringen, die Frau aus dem Hause jagen und das Zimmer versiegeln mit allem, was darinnen ist. –

Ich ging in den finstern Hausgängen auf und ab, horchte an den Türen, und wo ich weben hörte trat ich ein. In Nr. 18 traf ich zwei Weber, die machten fünfviertel Elle breite dicke Leinwand. Jeder webt täglich sechs bis sieben Ellen und bezieht von der Elle einen Silbergroschen Arbeitslohn; dagegen hat er wöchentlich zehn Silbergroschen für die Einschlagespulen und fünf Silbergroschen für Schlichte auszugeben. In einem Monat werden also vier Taler rein verdient. Nach Abzug der Miete bleiben noch zwei Taler auf Nahrung, Kleidung und Holz zu verwenden. – Einen Arbeiter sah ich, dem ist die Frau gestorben; er kann keinen eigenen Haushalt führen, dient als Weberknecht, erhält von der Elle acht Pfennig und hat für sich und die Kinder das Tischgeld zu bestreiten. Diese Leute wären recht wohl zufrieden, wenn es ihnen nur nicht bisweilen wochenlang an Arbeit fehlte. – In Nr. 5 wohnt Unger, ein recht geschickter Weber. Er hat auf seinem Stuhle einsiebenachtel Elle breite gestreifte Leinwand. An einem Stücke von sechsundsechzig Ellen, mit welchem er in vierzehn Tagen fertig wird, verdient er drei Taler fünf Silbergroschen. Die Frau sagte mir, daß sie abwechselnd Kartoffeln und Hafergrütze koche; jede Mahlzeit koste zweieinhalb Silbergroschen; da die Kinder schlecht gekleidet seien, so müßten sie frieren, wenn sie nicht täglich für eineinhalb Silbergroschen Holz einlegte. Wenn diese Leute nur zweimal essen im Tage, so beläuft sich die monatliche Ausgabe (zwei Taler Miete eingerechnet) auf sieben Taler fünfzehn Silbergroschen, während die Einnahme im günstigsten Falle nur sechs Taler zehn Silbergroschen beträgt. Ich unterhielt mich lange mit Unger und seiner Frau; er ist ein so verständiger und braver Mann, und sie so heiter und freundlich, daß es mir ganz wohl zumute wurde. Ich dachte nicht mehr an jenes ungünstige Zahlenverhältnis, sah das Stroh nicht unter der leichten Bettdecke und achtete nicht mehr auf die Lumpen, in welche die Kinder gehüllt waren. Ich hörte keine Klage; der Hausvater trieb emsig das Weberschiffchen hin und her und erzählte mir scherzend, daß es ihm mit den Kindern gehe, wie dem bekannten Schuster Flick, der ein Kleines forttragen wollte und zwei zurückbrachte. Die Mutter hielt das kleinste Kind auf der Schürze und trieb das Spulrad. Dabei er zählte sie vergnügt, daß zwei Kinder die Schule besuchen und recht viel lernen. Es zeigt sich auch hier, daß die Armen ihre größte Freude an den Kindern haben und fest darauf rechnen, daß diese durch den Schulunterricht aus dem Elende gerissen werden. – Ist es nicht barbarisch, daß man heutzutage die Fruchtbarkeit der Armen so hart tadelt? Ich hörte schon oft sagen: Warum zeugen die Leute so viele Kinder, wenn sie diese doch nicht ernähren können![230]

Im »Querhause« (Gartenstraße 92 a), Stube Nr. 9 wohnt der Tischlergeselle Gellert. Ich traf ihn nicht zu Hause. Seine Schwiegermutter lag todkrank auf dem Stroh, die Frau scheint auch sehr krank zu sein; sie hielt sich mit Mühe aufrecht und erzählte mir, daß der Mann vierzehn Tage ohne Arbeit und jetzt ausgegangen sei, »um Brot zu suchen«; die Kinder seien in der Schule. Die Familie erhält von keiner Seite Unterstützung. – Im Dachstübchen Nr. 76 wohnt ein Schuster, Schadow. Ich sah lange Zeit durch die gespaltene Türe ins Zimmer. Er arbeitete fleißig; die Frau saß am Boden und nähte einige Lumpen zusammen; zwei kleine, halbnackte Kinder saßen am Boden und spielten mit einer alten Tabakspfeife. Als ich eintrat, war Schadow ganz erschrocken; er hatte mich für den Inspektor gehalten, dem er Miete schuldig ist, und sah sich gern enttäuscht. Das Zutrauen der Unglücklichen hat man sich bald erworben: es dauerte nicht lange, so erzählte mir der Mann seine ganze Lebensgeschichte; daß er dabei nicht viel von seinen Fehlern sprach, schien mir sehr verzeihlich und zum Teil überflüssig, da ich an ihm ja leicht merken konnte, daß er den Branntwein liebt und seine Frau sehr unordentlich ist. Sch. ist der Sohn armer Eltern; er konnte Berlin nie verlassen, weil er dieselben bis zu ihrem Tode unterstützen mußte. Er verheiratete sich früh, etablierte sich in der Stadt und machte gute Geschäfte. Seine Familie vermehrte sich schnell, worauf er bei seinen Ausgaben zu wenig Rücksicht nahm und was daran schuld gewesen sei, daß er in der Stadt nicht mehr wohnen konnte. (Große arme Familien werden von den Hausbesitzern nicht geduldet.) 1836 zog er ins Familienhaus. Fünf seiner Kinder starben an den Pocken, und während sie krank waren, fehlte es ihm an Arbeit. Von niemandem unterstützt, geriet er dadurch so in Schulden, daß er mehrmals aus dem Hause geworfen werden sollte. Er verkaufte Hausgeräte und Kleider und ist jetzt so entblößt von allem, daß er nicht einmal ein Hemd besitzt. Durch Arbeit kann er sich nicht wieder aufschwingen, weil es ihm an Leder fehlt und die Flickarbeit, die er den Leuten im Familienhause macht, schlecht bezahlt wird. Zudem hat er mit zwölf andern Schustern, die am gleichen Orte wohnen, zu konkurrieren. Ich sah es selbst, wie seine Frau um Arbeit ausging und er unterdessen die Kinder hütete. Es war drei Uhr abends, und er hatte an demselben Tag erst zwei Silbergroschen verdient; den einen gab er wieder aus für Zwirn, für den andern kaufte er Brot. Das Kleine fing an, vor Hunger zu weinen. Sch. hatte soeben einen Schuh geflickt und gab ihn der Frau mit den Worten: »Trage ihn fort, laß dir einen Sechser dafür geben und bring dem Kind ein Semmelbrot; es hungert.« Die Frau kam mit leerer Hand zurück; das Mädchen, dem der Schuh gehörte, konnte nicht bezahlen. Das Kind weinte noch immer, und Vater und Mutter weinten mit. Ich half mit einigen Groschen aus der augenblicklichen Verlegenheit. Schnell sagte Sch. zu seiner Frau: »Nun geh, hole für sechs Pfennig Brot, für drei Pfennig Kaffee und für drei Pfennig Holz; das übrige lege in den Schrank, ich will es dem Inspektor bringen; vielleicht hält er die Klage noch zurück.« Es war ihm ein Stein vom Herzen genommen,[231] er schaute zum Fenster hinaus und meinte, es könnte doch ein fruchtbares Jahr geben. Dann fing er auch an, zu politisieren: es schade ihm viel, daß von den Schuhfabrikanten in Spandau so wohlfeil gearbeitet werde, daß nur die großen Bäcker den Brotpreis bestimmen; am meisten aber, daß der Hausherr so viel Abgaben bezahlen und deshalb die Wohnungen so teuer vermieten müsse; in einem freien Lande gebe es gewiß nicht so viele Arme. – Bald war die Frau wieder zurück. Es wurde Feuer gemacht im Ofen und Brot verteilt. Die Kinder warteten aber mit ihrem Teile nicht, bis der Kaffee fertig war. –

Sch. wird nicht unterstützt. Es heißt: man gebe den Leuten im Familienhause nicht gerne; es seien da so viel Arme, daß die Armendirektion derselben nicht mehr los würde, wenn sie einmal zu helfen anfinge. Sollte Sch. nichts bekommen wegen seiner Liederlichkeit, so wäre dies sehr ungerecht. Wo die Not so groß ist, muß man tätig unterstützen, nicht moralisieren, bis die Leute vor Hunger sterben. Auch ist zu bedenken, daß die Hoffnung, wieder aufzukommen, Kraft gibt zur Bekämpfung des Leichtsinnes.

Im Querhause, Stube 72, traf ich Frau Schreyer. Ihr Mann war ein armer Weber, starb 1814 und hinterließ drei unerzogene Kinder. Die Witwe erzog diese im Familienhause, ohne von irgendeiner Seite unterstützt zu werden. Nur ein Sohn ist noch am Leben; er lebt von der Mutter getrennt als Weber und kann mit Not seine Familie ernähren. Frau Sch. schloß sich an einen Weber an, dem sie die Bobinen macht und so des Tags einen Silbergroschen verdient. Es ist hier darauf zu achten, daß diese Frau mit einem Manne, mit dem sie nicht getraut ist, zusammenleben muß, nur um nicht arbeitslos zu sein und vor Hunger umzukommen. Hat jener keine Arbeit, so ist sie auch ohne Brot. Seit kurzer Zeit läßt ihr die Armendirektion monatlich einen Taler fünfzehn Silbergroschen zukommen; davon braucht sie aber einen Taler einen Silbergroschen für die Hälfte der Miete (die andere Hälfte trägt der Weber). Sie hat also im Monat nur einen Taler und zehn Silbergroschen auf Nahrung, Kleidung, Holz etc. zu verwenden. In diesem Augenblick verdient sie gar nichts und ist zudem unwohl. Es gibt Tage, wo sie nichts zu essen hat; die gewöhnliche Nahrung besteht in Brot und bitterm Kaffee, in der Regel wird nur morgens und abends gespeist. Sie zeigte mir einen Teller voll Kaffeesatz, den eine arme Nachbarin gebettelt und mit ihr geteilt hat. – Es ist rührend, wie die Armen sich gegenseitig unterstützen! Ich wollte mich soeben entfernen, als der ebenfalls im Familienhause wohnende Schuster G. etwas betrunken in die Stube trat. Es entwickelte sich ein Gespräch:

G. Ich habe hier ein Paar Stiefeln für Ignaz; ich weiß, daß er barfuß geht und sie brauchen kann; er soll mir nichts dafür geben.

Frau Sch. Er ist jetzt nicht zu Haus.

G. Wo ist er?

Frau Sch. Er sitzt.

G. Es ist nicht möglich?[232]

Frau Sch. Doch – Sie wissen, daß er seit fünf Wochen keine Arbeit hat, und wir beide großen Hunger leiden. Am Montag konnte er es nicht mehr aushalten; er entlehnte ein Paar Schuh von unserm Nachbar und ging um ein bißchen Brot aus. Da haben ihn die Gendarmen gleich erwischt und auf die Stadtvogtei gebracht.

G. (fängt an zu weinen). Der alte Ignaz auf der Stadtvogtei! Die ehrlichste Haut, die es auf der Welt gibt! Ich habe ihn als Soldat gekannt, wie er bei Leipzig focht; und seither waren wir immer gute Freunde.

(Der Weber Matthes tritt herein und gibt der Witwe Schreyer Luthers Lebensgeschichte zurück.)

Ist Ignaz noch nicht da?

Frau Sch. Nein. Ich erwarte ihn jeden Augenblick. Es liegt da Garn zu einer Schürze. Wir könnten wieder einen Groschen verdienen, wenn er los wäre.

Ich habe diesen Morgen von der Bischoffen Kleider gelehnt, – ich kann so doch nicht vors Haus gehen –, ging dann nach der Stadtvogtei und bat den Referendarius, er möchte Ignazen freigeben. Er hat es mir auf diesen Mittag versprochen.

Weber M. Er kommt heute nicht mehr; es ist schon zu spät.

Frau Sch. Aber er sitzt doch schon vier Tage, und der Referendarius sagte mir selbst, daß Ignaz nur wegen des Bettelns eingesteckt sei.

Weber M. Der alte Mann dauert mich. Er hat noch Soldatenstolz, gewiß hat er nicht ohne die größte Not gebettelt.

G. Nach der Not fragen sie auf der Stadtvogtei nicht. Man sollte aber die verfluchten Schreiber lehren, was Not ist. Die elenden Kerl dürfen einen alten Soldaten einstecken! Kreuzsakrament, ich bin auch Soldat gewesen! Man möchte...!

Witwe Schr. Werden Sie nicht so eifrig; ich kann dergleichen Redensarten auf meiner Stube nicht dulden.

G. (immer eifriger) Sie wissen nicht, was Recht ist. Man gibt uns keine Arbeit, verbietet das Stehlen und wirft uns ins Loch, wenn wir betteln. Das kann nicht so fortgehen; man kann noch anders sterben, als vor Hunger; ich weiß es; ich habe in sieben Schlachten mitgefochten.

Weber M. Die sind aber nicht schuld daran, daß wir nichts verdienen.

G. Aber sie verzehren doch Geld, das ihnen nicht allein gehört. Übrigens habe ich selbst erfahren, wie sie für die Armen sorgen. Weiber, die mit den Franzosen freundlich taten, werden unterstützt; die Männer, welche die Franzosen aus dem Lande gejagt haben, werden verstoßen. Ich habe mich zum Nachtwächterdienst gemeldet und erhielt nicht einmal eine Resolution. Weber M. Da kann aber der König nichts dafür.

G. Ich sage ja nichts gegen den König. Ich habe es bewiesen, daß ich gut preußisch bin; ich habe gerne für den König gehungert, als er im Trocknen saß, ich habe ohne Murren acht Kinder auferzogen; dafür sollte man mich aber in meinen alten Tagen nicht hungern lassen. Sie denken gewiß so, wie ich, und noch viele Tausend. Sie wollen sich nur zufrieden stellen vor diesem[233] fremden Manne. Er ist kein Spion; aber wenn er einer wäre, so sagte ich es doch frisch heraus, daß es bei uns nicht auf dem rechten Wege geht. (Mich von der Seite ansehend.) Die verfluchten Zeitungsschreiber sagen es auch, aber tun weiter nichts.

In diesem Tone ging es eine Zeitlang fort. Nach und nach kamen noch andere Nachbaren in die Stube. Alle fragten nach Ignaz. Die Versammlung ging in der größten Mißstimmung auseinander. –


Am gleichen Abend machte ich noch einen Besuch beim Invaliden Bischoff (Stube Nr. 141). Dieser hat fünf Blessuren; der linke Arm ist unbrauchbar. Er bezieht aus der Invalidenkasse monatlich einen Taler. Dazu verdient er einige Groschen durch Verfertigung von Kinderspielzeug. Die Frau leidet an Epilepsie. Heute haben Mann und Frau außer einem Hering, den sie für sechs Pfennig kauften, noch nichts gegessen. Anstatt des Bettes ist ein Lager von Stroh im Winkel. Das Benehmen der Leute, die Reinlichkeit in der Stube und eine Borderie auf einem alten Stuhle ließen mich vermuten, daß Bischoff schon in besseren Umständen gelebt habe. Mit aller Klugheit konnte ich aber anfangs nichts herausbringen. Die Frau klagte mir, daß zu einem hübschen Spielwerke noch die Puppen fehlen. Ich gab das Geld zu diesen her und schloß mir dadurch die Herzen auf. Bitterlich weinend erzählte mir Bischoff, daß er vor Jahren ein glänzendes Auskommen als Hoflackierer gefunden habe, daß er durch die erste Frau und drei Kinder ins Unglück gebracht worden sei. Ich erkundigte mich nach den Kindern. »Wir dürfen es Ihnen nicht sagen, wo die Kinder sind.« – Ich mache keinen Mißbrauch von Ihrer Erzählung. – »Ach Gott! – drei Söhne sind in Spandau, für die Erziehung eines andren Sohnes und einer Tochter sorgt die Königin.« So etwas hab ich noch von keinem Vater gehört. Das Herz wurde mir schwer, und ich weiß nicht, wer schuld ist, daß ich der weitläufigen Erzählung nicht folgen konnte. – Es sind Verhältnisse vorhanden in dieser Familie, welche der genauern Untersuchung wert sind. Bischoff hat aber seine wichtigsten Papiere dem frühern Mietherrn für eine Schuld von einem Taler fünfundzwanzig Silbergroschen versetzt. –


Gartenstraße 92 a, Stube 71. Der Schneider Engelmann hat graue Haare, ist aber noch ganz munter. Seine Frau scheint bedeutend jünger zu sein; in ihren angenehmen Gesichtszügen liegt viel Kummervolles. Das Dachstübchen ist schön aufgeräumt, der Boden gefegt; die Bettdecken sind weiß. Ich durfte den Zweck meines Besuches nur sachte andeuten, so begann der Alte die Erzählung seiner Lebensgeschichte mit Bezeichnung des Geburtstages und führte sie mit dem besten Humor auf die Gegenwart fort; obgleich sie eine ganze Reihe von Unglücksfällen darstellte. Er wußte geschickt den Nachdruck auf das Erfreuliche zu legen, wie z.B. auf den Umstand,[234] daß er durch das Los den Leiden des russischen Feldzuges, bei welchem er ohne Zweifel erfroren wäre, entronnen sei und sich bei einer zweiten Konskription glücklich auf preußischen Boden geflüchtet habe. Diese Flucht führte ihn auf das Reisethema; er sprach begeistert vom Harzgebirge und sagte zuletzt: »Sollte ich einmal einige Groschen auf einen kleinen Teil eines Viertelloses setzen und gewinnen, so machte ich doch noch eine Reise nach meiner Vaterstadt Northeim.« Ich durfte die Freude des Mannes nicht stören und entfernte mich. Da ich aber die Gemütsstimmung der Frau so ganz verschieden gefunden hatte von derjenigen des Mannes, so besuchte ich die Familie am späten Abend noch einmal und erhielt nun über ihre Lage die gewünschten Aufschlüsse.

Engelmann wohnt schon siebenundzwanzig Jahre in Berlin und rechnet es sich zur Ehre, während dieser Zeit nie in gerichtliche Untersuchung gekommen zu sein. Sein elftes Kind ist vier Monat alt, ein zwölftes wird erwartet; acht Kinder sind gestorben; der älteste Knabe ist bei einem Müller in der Lehre. – Bis 1834 wohnte E. in der Stadt. 1833 kam er in die Charité wegen eines kranken Fußes. Kaum war er gesund, so erkrankte die Frau und lag zehn Wochen im Bette. Das Krankenhaus war so angefüllt, daß er die Erlaubnis, seine Frau dahin zu bringen, dem besondern Wohlwollen des Herrn Geh. Rat Kluge verdankte, dabei ist ihm die Fürsprache der Stubenmagd unvergeßlich. Es fehlte ihm aber das Geld, um die Kranke zu Wagen in die Charité zu bringen. Umsonst wandte er sich deshalb an die Armendirektion. Ein guter Freund borgte ihm einen Taler dazu, den er heute noch schuldig und zurückzuerstatten bemüht ist. Um nicht an der Arbeit verhindert zu sein, ließ er das kleinste Kind außer dem Hause verpflegen; was ihn dreieinhalb Taler kostete. Da er dies aus eigenen Kräften nicht bestreiten konnte, so kam er abermals bei der Armendirektion um Unterstützung ein und erhielt für ein und allemal zwei Taler. Nach vier Wochen kam die Frau krank zurück. E. arbeitete ganze Nächte hindurch, konnte aber doch die Miete nicht mehr erschwingen, wurde aus dem Hause geworfen und entschloß sich, auf einige Monate ins Familienhaus zu ziehen. (In diesem Augenblicke hätten vielleicht zehn Taler auf immer geholfen.) Hier fand er aber keine Kundschaft, wurde mit jedem Tage ärmer und durfte zuletzt gar nicht mehr hoffen, aus dem Vogtlande herauszukommen; was ihm auch für seine Knaben leid tat, weil hier die Schulen nicht so gut seien, wie in der Stadt. Er hat kein Geld, um Futter und Knöpfe zu kaufen, und macht daher meistens nur Flickarbeit. Mehr als täglich siebeneinhalb Silbergroschen verdient er nie. Die Frau leidet noch immer an der Gicht und verdient nichts. Am meisten drückt ihn die Miete (zwanzig Taler jährlich). Oft bricht er sich am Munde ab, um dieselbe bezahlen zu können, und lebt doch immer in Gefahr, ausgeklagt zu werden. Auf seinen Tisch kommt abwechselnd Brot zum schwarzen Kaffee, Hering und dünne Mehlsuppe. Wenn er nur einen Tag ohne Arbeit ist, so muß er Kleidungsstücke usw. versetzen. Er zeigte mir verschiedene Scheine, nach welchen er siebeneinhalb bis fünfzen[235] Silbergroschen auf solche Weise erhoben hat. Die Frau klagte sehr darüber, daß sie die Milch verloren habe und nun dem Kleinen schlechtes Getränk teuer kaufen müsse. (Selbst die Muttermilch muß bei den Armen nach Geldwert geschätzt werden!) Als im letzten Dezember die Frau in den Wochen und ein Kind krank neben ihr im Bett lag, suchte E. wieder Hülfe bei der Armendirektion. Der Deputierte besuchte ihn, um seine Lage zu untersuchen. Darauf wurden ihm zwei Taler zugesprochen, aber nur fünfzehn Silbergroschen bar ausbezahlt. Als er zwei Tage darauf den Rest holen wollte, sagte ihm Direktor H. ärgerlich: »Sie gehen darauf los wie Blücher.« Das Kind starb, und E. konnte die Begräbniskosten nicht bestreiten. Ein Invalide, der blinde Leierkastenmann Wegener, borgte ihm ein Beinkleid und ein Hemd, laß er Geld darauf entlehnen konnte. Als einige Wochen später ein zweites Kind starb, borgte derselbe Mann einen Taler. In welchem Lichte erscheint die Armendirektion neben diesem Leierkastenmann! – Leuten unter sechzig Jahren reicht sie keine regelmäßige Unterstützung. Der Deputierte besucht die Armen nur, wenn sie außerordentliche Hülfe verlangen. Bis diese verabfolgt, verstreichen oft sechs bis acht Wochen. Vom 15. Dezember bis 15. April werden »Armensuppen« gekocht. Jede Familie darf monatlich fünfzehn Portionen holen. (Die Armensuppe sei nicht so gut wie die Krankensuppe.) Wer monatliche Unterstützung hat, ist von dieser Wohltat ausgeschlossen.

Als ich wegging, sagte mir die Frau, daß ich die paar Groschen, die ich ihr gegeben, recht wohl angebracht habe; es sei diesen Nachmittag kein Pfennig mehr in der Kasse gewesen. – Und doch war der Mann so guter Laune! – Der Frohsinn wird dem Armen sehr häufig zum Vorwurfe gemacht und kann sogar die Unterstützung verhindern. »Der braucht nichts; es ist ihm wohl genug,« heißt es; gleichsam als müßte man sich durchs Elend an der ganzen Seele niederdrücken lassen. Ich habe die Klage oft gehört, daß man sich recht kleinmütig zeigen müsse, um von den Armenbehörden unterstützt zu werden.


92 b, Stube Nr. 8 (Kellerwohnung). Glaser Weidenhammer war nicht zu Haus; die Frau kochte eine Suppe für das Kleine in der Wiege. Es war Sonntag, aber die Stube nicht aufgeräumt. Das Bett sah schmutzig aus. Diesem gegenüber lag ein Bund frisches Stroh. Über diesem hing eine Schreibtafel, auf welcher die Worte »Trink und eß« fleißig kopiert waren. Neben derselben hing ein geflochtener Strick, der anstatt einer Rute für den elfjährigen Karl gebraucht wird. Unter dem Spiegel, in Goldrahmen gefaßt, hängt der letzte Wille von Friedrich Wilhelm III. Ich wollte mich mit der Frau in ein Gespräch einlassen; allein sie hört und sieht wenig und scheint ganz einfältig zu sein. Sie holte den Mann. Der war in einer benachbarten Stube, wo sich jeden Sonntag eine kleine Spielgesellschaft bilde. Um Geld werde nicht gespielt; zuweilen gebe jeder einen Dreier, damit Branntwein[236] oder Bier geholt werden könne. Weidenhammer ist in seinen besten Jahren. In der Woche geht er mit seinem Glaskasten von Haus zu Haus und sucht Arbeit. In der dritten Woche des März habe er nur zwei Glastafeln verarbeitet und an denselben fünf Silbergroschen verdient; es könne sich auch zutragen, daß er an einem Tage einen halben Taler erwerbe. Seine Einnahmen lassen sich nicht leicht bestimmen; doch sind sie im ganzen so gering, daß es die ganze Familie beim Tische fühlt, wenn dem Vater eine Fensterscheibe gesprungen ist. Ich glaube auch annehmen zu dürfen, daß ein herumziehender Handwerker zuweilen einen Groschen im Wirtshause zurücklasse. W. wies nach, wie er auf das Scheibeneinsetzen notwendig beschränkt sei: es fehle ihm an einer Werkstatt und an Kredit; wenn ein gutes Stück Arbeit ausgeschrieben werde, so dürfe er sich in seinem zerlumpten Rock nicht als Meister melden. – Die Frau verdient in einer Papierfabrik wöchentlich einen Taler, wird aber sehr oft durch Kopfkrampf an der Arbeit verhindert. Sind Vater und Mutter fort, so muß Karl bei dem kleinen Kinde bleiben. Der Knabe besucht keine Schule, wird aber vom Vater fleißig unterrichtet. Bevor dieser des Morgens ausgeht, stellt er die Aufgabe; ist diese am Abend nicht gelöst, so wird Karl mit dem Stricke ausgepeitscht. Der Knabe liest und schreibt ordentlich und ist im Rechnen bis zur Subtraktion gekommen. Der Vater versicherte mich, daß derselbe in der Armenschule, wo man die Kinder stundenlang müßig lasse, nicht so weit gekommen sein würde.

W. ist sehr arm, in diesem Augenblicke fünf Taler Miete schuldig. Er zeigt sich unzufrieden mit der Armendirektion. In höchst dringenden Fällen speisen sie die Bittenden mit zwei Talern ab. Auf den Präsidenten der Armenkommission, Herrn Stadtrat D., könne man sich besser verlassen. Der Glaser meint, wenn man ihm nur für einen Tag genug Arbeit ins Haus brächte, so wollte er alles, was er von der Armendirektion empfangen habe, mitsamt den Zinsen zurückerstatten.


Gartenstraße 92 b, Stube Nr. 9. Dahlström hat früher als Seidenwirker gearbeitet und wöchentlich drei bis vier Taler verdient. Seit fünf Jahren leidet er an chronischem Katarrh und an Augenschwäche so, daß er völlig untauglich zur Arbeit ist. Die feuchte Kellerwohnung, die er wegen rückständiger Miete nicht vertauschen kann, wirkt sehr nachteilig auf seine Gesundheitsumstände. Der älteste Sohn, ein Stickmusterzeichner, hat ihn vor einigen Wochen, als er eben die Miete bezahlen sollte, verlassen. Der zweite arbeitet auch für sich, wohnt bei den Eltern und gibt fünfundzwanzig Silbergroschen zu der Miete. Ein vierzehnjähriges Mädchen verdient wöchentlich zweiundzwanzigeinhalb Silbergroschen in einer Kattunfabrik, wo es von fünf Uhr morgens bis neun Uhr abends zur Arbeit angehalten wird. (Ist hier durch kein Gesetz solcher unmäßigen Anstrengung der Kindeskräfte vorgebogen?) Ein zehnjähriger Knabe geht in die Schule oder[237] hütet sein zweijähriges Brüderchen. Die Mutter sucht in der Stadt Knochen zusammen, von welchen ein Zentner mit zehn Silbergroschen bezahlt wird. Um so viel zusammenzubringen, sind wenigstens drei Tage Zeit erforderlich. Dahlström war fünfzehn Jahr lang Soldat und erhält daher monatlich einen Taler Unterstützung, obschon er erst dreiundfünfzig Jahr alt ist. Überdies empfing er einmal eine Extrazulage von drei Taler. Den Kleinen dient ein Strohsack als Bett. Auf den Tisch komme morgens ein wenig trocknes Brot, des Mittags gewöhnlich nichts, abends Brot und Hering oder Mehlsuppe.


Gartenstraße 92 b, Stube 58. Kleist starb vor einigen Jahren an der Cholera, hinterließ eine schwangere Frau und sechs Kinder, von welchen der älteste dreizehn Jahr alt war. Die Armendirektion reichte der Witwe drei Taler und bezahlte eine Zeitlang zwei Taler fünfzehn Silbergroschen monatlich Kostgeld für zwei Kinder. Der älteste Sohn kam zu einem Felbelfabrikanten in die Lehre und verdiente nachher zwei bis drei Taler in der Woche. Seit neun Monaten ist er ohne Arbeit. Jetzt hat er Garn zu winden und verdient dreidreiviertel Silbergroschen den Tag. Obschon er bei der Mutter wohnt, kauft er sich das Brot doch selbst und spart das Erworbne zusammen für ein Paar Stiefeln. Die Kinder aus armen Familien machen sich frühe unabhängig. Die Eltern verzichten gerne auf die Unterstützung des Sohnes in der Hoffnung, dieser reiße sich aus der Armut heraus. Ein anderer Knabe lernt das Töpferhandwerk, erhält wöchentlich einen Taler Lohn und bezahlt davon zweiundzwanzigeinhalb Silbergroschen Kostgeld an die Mutter. Eine erwachsene Tochter war Dienstmagd in der Stadt, wurde krank und wohnt bei der Mutter, bis sie wieder gesund ist. Ein fünfzehnjähriger Knabe verdient mit Spulen zwei bis drei Silbergroschen täglich, die Mutter neben den Hausgeschäften halb so viel. Ein sechsjähriger Knabe geht in die Schule. Die Gesamteinnahme der Witwe beträgt also höchstens sechs Taler monatlich (jene zweiundzwanzigeinhalb Silbergroschen mit eingerechnet). Daraus ist die Miete und der Unterhalt für fünf Personen zu bestreiten. Brot, Kaffee und Mehlsuppe sind auch hier die gewöhnlichen Nahrungsmittel. In die Suppe kommt kein Fett. Um sie schmackhafter zu machen, zuweilen etwas Zucker. Von ein halb Lot Kaffee trinken fünf Personen zweimal.


92 b, Stube Nr. 30. Der Weber Jährig leidet seit zehn Jahren an einem doppelten Bruchschaden. Vor sechs Jahren zog er ins Familienhaus, weil hier die ärztliche Behandlung nichts kostet und Freischulen sind. – Er webt schmales Baumwollenzeug, in vierzehn Tagen sechsundsechzig Ellen für einen Taler zehn Silbergroschen. Zehn Kinder sind ihm gestorben, ein Sohn lernt das Töpferhandwerk, ein Mädchen von dreizehn Jahren besucht[238] noch die Schule und verdient nebenbei täglich einen Silbergroschen mit Spulen, ebensoviel erwirbt die Frau neben den Hausgeschäften. Seit fünf Jahren bezieht J. monatliche Unterstützung von der Armendirektion, erst zwanzig Silbergroschen, jetzt zwei Taler. Da seine Frau drei Monat krank lag und er durch die Verpflegung an der Arbeit verhindert wurde, ist die Mietschuld auf sechs Taler angewachsen. Er ist keinen Tag sicher, daß er nicht aus der Wohnung getrieben und ins Arbeitshaus gebracht werde. Deshalb wandte er sich vor vier Wochen an die Armendirektion, um eine Extrazulage zu erhalten. Vor acht Tagen erst besuchte ihn der Deputierte; bis zur Stunde ist die Antwort ausgeblieben. Bekümmerte sich der Hausherr nicht mehr um die Familie J. als der Armendirektor, so wäre dieselbe schon auf der Gasse. Die Frau ist sehr verständig; sie sagte mir unter andern, daß hier die Sorge für Nahrungsmittel nicht mehr Hauptsache sei: bei schlechtem Verdienst könne man zuweilen eine Mahlzeit unterlassen; die Miete aber wachse immer an, die Gerätschaften nutzen sich ab und können nicht ersetzt werden.


92 b, Stube 59. An der Tür steht angeschrieben: »Webermeister Künstler«. In der Stube ist ein Spulrad an der Stelle des Webstuhles. Vor sechzehn Jahren verlor Künstler die Frau und hatte sechs Kinder zu erziehen. Von diesen leben noch vier, drei wohnen bei ihm, arbeiten aber außer dem Hause. In zwei Bettstellen sind zwei Strohsäcke, auf dem einen schläft der Vater mit zwei erwachsenen Söhnen, auf den andern die erwachsene Tochter. K. verdient mit Garndoppeln täglich zweieinhalb bis dreidreiviertel Silbergroschen. Der eine Sohn ist Seidenwirker, verdient in der Woche einen Taler und gibt dem Vater wöchentlich fünfzehn Silbergroschen Tisch – und Schlafgeld. Der andere war längere Zeit Sandführer, bekam das Essen und wöchentlich zehn Silbergroschen. Die Tochter ist Dienstmagd und braucht das Erworbene für Kleider. Seit zwei Tagen hat der zweite Sohn Arbeit als Handlanger und wird nun zehn Silbergroschen des Tages verdienen. Er kam eben zum Mittagessen; der Vater setzte dem baumstarken Kerl für einen Silbergroschen Kartoffeln und für drei Pfennig Butter vor. K. klagte mir, daß er drei Taler Miete schuldig sei und die meisten Kleider versetzt habe. Am 27. Februar reichte er der Armendirektion ein Gesuch um Unterstützung ein. Bis jetzt (13. April) ist noch kein Deputierter zu ihm geschickt und keine Antwort erteilt worden.

K. rühmte die gute alte Zeit und den verstorbenen König. Dieser habe, wenn die Messen ungünstig ausgefallen seien, Polizeidiener nach den Webern ge schickt und die leeren Stühle zählen lassen. Auch sei bis 1806 jedem Webermeister, der drei Stühle hatte, alljährlich ein Viertel Klafter Holz geschenkt worden.[239]

92 b, Nr. 51. Die Stube der Witwe Möltner sieht gut aus; die Hausgeräte sind in gutem Zustande und sehr rein gehalten. Möltner war ein Schuster, gab das Handwerk auf, arbeitete als Tagelöhner, ergab sich dem Trunke, infolgedessen er vor drei Jahren starb. Die Witwe bezieht für ihre zwei Kinder zweieinhalb Taler monatlich Pflegegeld. Über die Erziehung der Kinder wird von den Vormundschaftsbehörden sorgfältig gewacht. Das dreizehnjährige Mädchen arbeitete in einer Tabaksfabrik von fünf Uhr morgens bis sieben Uhr abends; von sieben bis neun Uhr besucht es die »Nachhülfeschule«. Seit einiger Zeit geht es aber mit Damen in der Stadt auf den Markt. Gleiche Dienste verrichtet die Mutter. An einzelnen Tagen verdienen sie auf diese Weise in wenigen Stunden bis auf 25 Silbergroschen; zuweilen aber auch nichts. Die Miete wird regelmäßig bezahlt aus den Pflegegeldern. An Nahrungsmitteln leidet die Familie in diesem Augenblicke keinen Mangel. Die Frau darf aber nur einige Tage krank werden, so fehlt es an Brot.

Eine viel dürftigere und weniger unterstützte Witwe wohnt im Keller Nr. 12 des gleichen Hauses. Ihr Mann, Grenzaufseher Kayser, ist vor elf Jahren gestorben. Erst seit einem Jahre bezieht sie Pflegegeld, und zwar nur für den ältern Knaben, der bald das Alter erreicht, wo jenes gesetzlich entzogen wird. Sie ernährt sich mit Spulen, wobei im Durchschnitt dreidreiviertel Silbergroschen täglich verdient werden. Oft fehlt es an Arbeit. – Man darf sich hier durch den Anblick der wohlerhaltenen Hausgeräte nicht täuschen lassen über die Lage der Familie. Diese Frau hungert lieber einen Tag, als daß sie Bettzeug oder Kleider verkaufte, weil sie diese nie wieder ersetzen könnte. Auch läßt sie die beiden Knaben nicht in zerrissenen Kleidern umhergehen. Lieber flickt sie aus zwanzig Stücken ein Paar Hosen zusammen. Bei Tische muß es schmal zugehen. Heute mittag wurde vier Personen für sechs Pfennig Hafergrütze gekocht und das Brot so spärlich ausgeteilt, daß es der größere Knabe verdrießlich zurückgab und aus dem Zimmer lief. – Witwe K. beklagt sich darüber, daß man sich zu sehr erniedrigen müsse, wenn man etwas von der Armendirektion erhalten wolle. Sie habe genug geweint, bis sie für ein Kind das Pflegegeld erhalten; lieber wolle sie Hunger leiden, als sich zum zweiten Male Faulheit und Leichtsinn vorwerfen zu lassen. – Bei ihr wohnt eine Schwester, deren Mann vor zweiundzwanzig Jahren gestorben ist. Als sie die fünf Dekorationen abgab, welche derselbe in verschiedenen Schlachten erworben hatte, erhielt sie fünf Taler Geschenk, seither ist der Soldatenwitwe nichts mehr zu gekommen. Sie fand ihr Auskommen als Kinderfrau. In diesem Augenblicke findet sie als solche keinen Platz und darbt wie ihre Schwester. Sie darf keinen Versuch machen mit einer Bitte um Unterstützung, da sie noch nicht sechzig Jahr alt, nicht krank ist und ihre Kinder gestorben sind.

Die Frauen erzählten mir von einer Gesellschaft, die im Familienhause Betstunde halten. Man dürfe sich nur für diese einschreiben lassen, so werde man von reichen Damen unterstützt. Sie halten aber nichts auf das Sektenwesen[240] und wollen mit heuchlerischem Gebete kein Geld verdienen. Ebenso gehöre der Lehrer an der untern Knabenschule einer Sekte an und suche Anhänger unter den Armen im Familienhause. Er fordere eine Selbstprüfung, die alle Zeit zur Arbeit wegnehme; deshalb können sie sich nicht an ihn anschließen. So kommt es, daß die frommen Wohltäter an der Tür der beiden Witwen, die keine Betschwestern sein wollen, vorübergehen.


92 b, Nr. 73. Der Weber Fischer ist zweiundvierzig Jahr alt. Sein Äußeres flößt wenig Zutrauen ein; er kann nicht über die Straße gehen, ohne durch sein struppiges Haar, das finstere Auge und den zerlumpten Anzug die Aufmerksamkeit der Polizeidiener auf sich zu ziehen. Man sieht auf den ersten Blick, daß ihn das Elend schon lange von jeder ordentlichen Gesellschaft abgeschlossen hat. Ich bot ihm eine Zigarre; das machte ihn freundlicher und gesprächig. Die Unterredung gab mir eine bessere Meinung von ihm. Die Frau sieht liederlich aus; sie saß mit zerzaustem Haare auf dem schmutzigen Bette und strickte. Dem zehnjährigen Knaben sieht man es gleich an, daß sich die Eltern mehr um die Bobinen bekümmern, die er macht, als um ihn selbst. Ein achtjähriges Mädchen war ausgegangen; acht Kinder sind tot. – F. hat sich als Webergeselle schon weit umhergetrieben. Gegen das Ende des vorigen Jahres fehlte es ihm siebenzehn Wochen an Arbeit. Er blieb im Familienhause acht Taler Miete schuldig, reiste nach Hamburg, fand daselbst auch nichts zu tun, kam krank nach Berlin zurück und wurde in die Charité gebracht. Als er wieder gesund war, fehlte es ihm an Obdach; die Polizei brachte ihn mit seiner ganzen Familie ins Arbeitshaus, wo er fünfzehn Wochen, getrennt von Frau und Kindern, als Gefangener lebte neben Verbrechern aller Art. – Er erzählte mir von einem Manne, der neben ihm arbeitete, daß derselbe drei Jahr eingesteckt sei, weil man ihn zu wiederholten Malen beim Betteln ertappt habe. – Endlich entließ man ihn mit vier Taler Unterstützung. Von diesen bezahlte er drei Taler an die Mietschuld, einen Taler für Exekutions – und Auktionskosten. Er bleibt also noch fünf Taler Miete schuldig. Er wäre abermals ohne Arbeit, wenn ihm nicht der arme Nachbar Sigmund gestern dreißig Ellen Zettel abgeschnitten hätte, an welchen in vierzehn Tagen drei Taler Weberlohn zu verdienen sind. Auf zwei Wochen ist die Existenz der Familie gesichert. Es ist aber vorauszusehen, daß sie binnen kurzer Zeit wieder ins Arbeitshaus gebracht werden muß. F. meint, wenn man ihm anderthalb Taler vorstreckte, so wollte er Garn kaufen und auf eigene Faust Bettzeug fabrizieren. Es helfe ihm aber niemand; mit seinen Geschwistern in Sachsen habe er seit zehn Jahren keinen Brief gewechselt. Ein unfrankierter Brief sei ihm von einem verwandten Pfarrer wieder zurückgekommen.


Gestern hat F. folgende Ausgaben gemacht (für vier Personen):
[241]

Morgens 7 Uhr fr.

1/2 l Kaffee – Sgr. 2 Pf.

Zichorien – Sgr. 1 Pf.

Salzkuchen – Sgr. 8 Pf.

Holz – Sgr. 3 Pf.

10 Uhr

Brot 1 Sgr. – Pf.

12 Uhr

Roggenmehl – Sgr. 6 Pf.

Holz – Sgr. 4 Pf.

4 Uhr

Brot – Sgr. 9 Pf.

Rauchtabak – Sgr. 3 Pf.

7 Uhr

Brot 1 Sgr. – Pf.

Kaffee – Sgr. 3 Pf.

Holz – Sgr. 3 Pf.

Öl – Sgr. 9 Pf.

Schlichte – Sgr. 8 Pf.

Summa 6 Sgr. 11 Pf.


92 b, Nr. 60. Es war Karfreitag, als ich den Tagelöhner Schumann besuchte. In seinem Dachstübchen sah es nicht festlich aus. Es war nicht aufgeräumt; der Vater, die Mutter und vier Mädchen von elf bis zweiundzwanzig Jahren saßen im Werktagskleide müßig beisammen; ein Sonntagsgewand ist nicht vorhanden, darum ging auch niemand aus der Familie zur Kirche. Die sechs Personen müssen sich mit zwei kleinen, schlechten Betten behelfen. – Schumann scheint recht ehrlich zu sein. Er verdient sein Brot bei einem Trödler durch den Transport der verkauften Waren. Durchschnittlich bekommt er jeden Tag siebeneinhalb Silbergroschen. Ist die Witterung schlecht, so wird nichts verkehrt und von ihm nichts verdient. Von den drei erwachsenen Töchtern dient die älteste in der Stadt, die zweite ist kränklich, die dritte eine Stütze der Familie, indem sie in einer Papierfabrik wöchentlich einen Taler verdient. Von diesem werden aber siebeneinhalb Silbergroschen abgezogen, bis das Einsegnungskleid bezahlt ist. Dieses kostete acht Taler und ist schon fünf Monate gegen zwei Taler versetzt. Am 24. Februar wurde Schumann »ausgeklagt«. Die Armendirektion unterstützte ihn mit zwei Taler. Die Schuld beträgt noch drei Taler, an welche zu der laufenden Miete wöchentlich fünfzehn Silbergroschen erlegt werden müssen. Dies nötigt zur größten Sparsamkeit. Heute hat sich die ganze Familie mit einer Metze Kartoffeln begnügt.[242]

Auch beim Arbeitsmann Fundt im Dachstübchen Nr. 62 wurde das christliche Fest nicht gefeiert. Der Vater arbeitete am Schnitzstuhle; einige Knaben spielten Mariage, andere das Damenspiel. Die wenigen Hausgeräte lagen bunt durcheinander. Zwei Strohsäcke, der eine auf dem bloßen Boden, der andere auf einigen Brettern, vertreten die Stelle der Betten. – F. ist Witwer und Vater von sieben Kindern. Vier von diesen haben gelähmte Glieder. Das eine ist in der Charité, das andere im Hospital, zwei Mädchen wohnen bei Verwandten im Harzgebirge, für die Erhaltung eines zweiundzwanzigjährigen, völlig arbeitsunfähigen Sohnes erhält F. zweimonatlich zwei Taler von der Armendirektion, ein fünfzehnjähriger Knabe ist bei einem Drechsler in der Lehre, der zehnjährige Fritz besucht die Schule. – Fundt arbeitet bisweilen in der Gießerei, wo er wöchentlich zwei bis drei Taler verdient. Da aber in seiner Abwesenheit das Hauswesen nicht besorgt wird, so zieht er es vor, auf seiner Stube am Dreh – und Schnitzstuhle zu arbeiten. Er hat eine geschickte Hand, verfertigt Vogelbauer, Kinderspielzeug, aber auch Zithern und Gitarren. Der Lebensunterhalt macht ihm wenig Sorgen. – Seine Knaben spielen die Zither. Ich ließ mir einige Stücke vorspielen und bewunderte den kleinen Fritz, der nie einen Lehrer hatte und doch mit Fertigkeit die Tänze spielt, die er von den Leierkasten hört. Er hat Lust zum Violinspielen. Der Knabe gefällt mir auch außerdem recht wohl. Es ist schade, wenn nicht mehr auf seine Erziehung verwendet wird, als im Vermögen des Vaters liegt.


In Nr. 67 wohnt ein altes Weibchen, in Einfalt freundlich. Vor acht Jahren schon hat es den Ehemann, Weber Suchi verlassen, weil er liederlich war. Für zwei Knaben, welche die Abgeschiedene zu sich nahm, wurden vor sechs Jahren zwei Taler monatliches Pflegegeld ausgesetzt. Der eine von jenen ist zehn Jahr alt und kränklich, der andere zwölf Jahre alt und möchte ein Weber werden (was die Vormundschaftsbehörden nicht zugeben sollten). Als Laufbursche hat dieser wöchentlich zwanzig Silbergroschen verdient. Er ist um seinen Platz gekommen. Da jenes Pflegegeld nicht einmal die Miete deckt, so hat das Mütterchen für den Lebensunterhalt ganz zu sorgen. Es ist wunderbar, wie es dieses zustande bringt dadurch, daß es Knochen und Papier zusammensucht auf den Straßen; was doch nicht mehr als zwei bis dreidreiviertel Silbergroschen einbringt im Tage. Ist die Witterung ungünstig, so ist die Einnahme noch geringer. Heute (Karfreitag) hat sich Frau Suchi die Kleider gewaschen, konnte also nicht ausgehen, nichts verdienen, und wäre, wenn sie nicht von mir zufällig einige Groschen erhalten hätte, hungrig zu Bett gegangen. – Trotz der Armut ist doch die Stube rein gehalten und die Hausgeräte sind in gutem Zustande.
[243]

Stube Nr. 69. Berwig war ein Leineweber, fand als solcher keine Arbeit und kam vor sechs Jahren als Tagelöhner nach Berlin. Er arbeitet in einer Firnisfabrik, wo er die Späne wegfährt. Da man diese nur trocken braucht, so hat er bei schlechter Witterung nichts zu tun. Bei ununterbrochener Arbeit stiege die wöchentliche Einnahme bis auf drei Taler. In diesem Winter war er aber schon sechs bis sieben Wochen nacheinander ohne Verdienst. Um nicht hungern zu müssen, ging er mit seiner Frau in einen zwei Meilen entlegenen Wald. Das Holz, welches beide in einem Tage nach der Stadt bringen konnten, wurde für siebeneinhalb Silbergroschen verkauft. B. ist einige Taler Miete schuldig und keinen Tag vor Exmission sicher. Die Frau wird bald mit dem zehnten Kinde niederkommen. Sechs Kinder leben noch; der älteste Knabe ist sechzehn Jahr alt und bei einem Schmied in der Lehre. Ein neunjähriger Knabe besucht seit fünf Jahren die Schule, liest noch ganz schlecht und kann gar nicht rechnen. Einige Schuld mag an der Ungelehrigkeit des Knaben liegen; die größere fällt aber auf die untere Knabenschule im Familienhause.

In Nr. 66 traf ich die ganze Familie beisammen. Zwei kleine Kinder schliefen auf einem Strohsacke am Boden, mit einem leichten Tuche bedeckt. Die Mutter lag krank im Bette. Der Vater, Tagelöhner Benjamin, pflegte sie. Dieser ist ein verständiger, rüstiger und gewiß braver Mann. Bisweilen verdient er zweieinhalb Taler in der Woche; dann muß er aber wieder mehrere Tage müßig gehen. Eigene Krankheit und Krankheit der Familie hat ihn in die größte Armut gebracht. Von der Armendirektion erhielt er einmal drei, ein andermal zwei Taler Unterstützung. Dessenungeachtet mußte er Kleider und Bettzeug verkaufen. Er führte mich zum Bette der Kranken und zeigte mir, wie die Bettanzüge nur mit Stroh angefüllt waren. Seine Kleider sind so schlecht, daß er Sonntags nicht ausgehen darf. Es muß einen vernünftigen Mann tief schmerzen, auf solche Weise ins Zimmer gebannt zu sein. –


92 a, Stube Nr. 35. Tischler Krellenberg. – Ich mußte einigemal anklopfen, bis die Stube aufgeschlossen wurde. Die Frau entschuldigte sich damit, daß sie ihre dürftige Lage vor den Leuten im Hause geheimhalten möchte. Es ist leider jetzt so, daß sich die Armen, anstatt der Reichen, der Armut schämen. Die außergewöhnliche Reinlichkeit überraschte mich angenehm: der Fußboden war frisch gescheuert, das Küchengeschirr blank, die hellen Fenster machten das Zimmer freundlich. – In der Wiege lag ein Kind von zwei Jahren, an der Gehirnentzündung krank. Die Mutter pflegte es mit der größten Zärtlichkeit. Ich zog sie nicht gerne ab von ihrem Geschäfte, mußte es aber doch, weil Krellenberg nicht zu Hause war. Ich erfuhr, daß dieser von 1822 bis 1841 als Tischlergeselle bei einem Meister gearbeitet habe, und sah aus dem schriftlichen Zeugnis, daß er wegen Mangel an Arbeit entlassen werden mußte. Seit zwei Jahren wohnt er im Familienhause. Tischlerarbeit[244] kam ihm wenig zu. Überdies sieht er nicht mehr gut, so daß er keine feinen Arbeiten annehmen kann. Seit acht Tagen arbeitet er im Taglohn als Farbenreiber. Diese Arbeit strengt ihn sehr an, denn er ist schon vierundfünfzig Jahr alt und durch Alter und Mangel geschwächt. Im letzten Winter kam er wegen Mangel an Verdienst so weit ökonomisch zurück, daß er Kleider, Betten und Werkzeug verkaufen mußte. Es stehen drei Bettgestelle im Zimmer; in allen ist nichts als Stroh, beim einen nicht einmal mit einem Tuche bedeckt. Von acht Kindern leben sieben. Eine achtzehnjährige Tochter und ein dreizehnjähriger Knabe lagen achtzehn Wochen krank am Nervenfieber. Ein siebenzehnjähriger Sohn lernt das Tischlerhandwerk. Gestern hat er dem Vater fünfzehn Silbergroschen geschickt, die er aus Trinkgeldern zusammengespart hatte, um auf Ostern eine neue Weste zu kaufen. Vier Kinder von vier bis zehn Jahren besuchen die Schule. Alle sehen gescheit und hübsch aus und sind ordentlich gekleidet. Die Mutter hat bis auf einen Rock alles zur Bekleidung der Kinder hergegeben. – Weinend sagte mir diese, wie oft die Kleinen umsonst nach Brot rufen und daß der Vater diesen Morgen hungrig an die schwere Arbeit gegangen sei; der Hauswirt wolle bezahlt sein; sooft sie am Komptoir des Verwalters vorbei zum Brunnen gehe, werde sie an die vier Taler Miete erinnert; jeden Tag könne man die ganze Familie aus dem Hause werfen. – K. habe sich zweimal um Unterstützung beworben bei der Armendirektion und zur Stunde noch nichts empfangen als die Armensuppe, die oft für die ganze Familie das einzige Nahrungsmittel gewesen sei.


92, Stube 91. Der Hausverwalter hatte mir den Strumpfweber Ehrike als einen sehr armen Mann bezeichnet. Ohne dies hätte ich mich beim einmaligen Besuche leicht über die Lage desselben getäuscht. Der Alte arbeitete munter an seinem Webstuhle und rauchte dazu. Bei seiner erwachsenen Tochter war eine junge Nachbarin mit dem Spulrade auf Besuch. Die Mädchen suchten so geschickt und angelegentlich den letzten Schein von dem zu retten, was nun einmal die Stellung in der Gesellschaft zu bestimmen pflegt, daß ich den Vater nicht veranlassen durfte, mir seine Armut zu schildern. Ich leitete das Gespräch auf die Strumpffabrikation und gelangte dadurch zu einem Maßstabe für die Berechnung der Einnahme. – Ein fleißiger Weber macht in einem Tage zwei Paar Strümpfe. Siebeneinhalb Silbergroschen kostet ihn die Baumwolle, vom Handelsmann erhält er für die ausgemachten Strümpfe fünfzehn Silbergroschen; der tägliche Verdienst ist also siebeneinhalb Silbergroschen. Ein auffallendes Mißverhältnis liegt darin, daß der Handelsmann jene Ware für zweiundzwanzigeinhalb Silbergroschen verkauft und also an derselben ebensoviel verdient als der Arbeiter. Will dieser nicht in der Arbeit aufgehalten werden, so muß er die Fabrikate dem Kaufmann liefern, und es kommt ihm von dem, was die Ware mehr gilt als der rohe Stoff, nur so viel zu, als der Handelsmann willkürlich[245] bestimmt. Wenn auch im allgemeinen nichts gegen dieses Verhältnis anzuheben ist, so dürfte doch von Seite der Armenbehörde dahin gewirkt werden, daß sehr armen Arbeitern der volle Arbeitslohn zukäme. Jene würde doch leichter Bestellungen besorgen, als Almosen eintreiben. – Ehrike beklagte sich darüber, daß die Sachsen wohlfeilere Arbeiten liefern und den Preis der Strümpfe herabdrücken; dies können sie, weil die Arbeiter auf dem Lande mit wenig Geld auskommen. Viele Arbeiter, welche ihr Gewerbe besser auf dem Lande betreiben könnten, sind an die teuern Wohnungen in der Stadt dadurch gebunden, daß ihnen die Mittel zur Einrichtung eines ordentlichen Haushaltes fehlen. Wer nur für einen Tag sorgen kann, muß in der Nähe der Kramläden wohnen.


Stube 92. Witwe Keßler ist eine muntere, gescheite Frau. Sie hat fünf Kinder. Für die drei kleinsten erhält sie drei Taler Pflegegeld. Die älteste Tochter dient in der Stadt, kann aber die Mutter nicht unterstützen, weil sie den geringen Lohn ganz auf die Kleider verwenden muß. Die armen Mädchen müssen durch ihren Staat der Herrschaft Ehre machen. Der älteste Knabe wird bald eingesegnet. Nur ungern will sich die Mutter bei der Waisenbehörde um das Einsegnungskleid verwenden, weil die Kleider, welche man den Armen spendet, durch Schnitt und Farbe sich von andern auszeichnen. Einem sechzehnjährigen Burschen ist es nicht übel zu nehmen, wenn er lieber zerlumpt einhergeht, als seine Abhängigkeit von der Armenbehörde zur Schau trägt. Warum unterstützt man die Armen nicht, ohne sie vor aller Welt zu demütigen? – Was Frau K. zu jenen drei Talern durch Waschen und Scheuern verdient, ist unbestimmt. Die Kinder bekommen oft mehrere Tage kein Brot zu Gesicht. –


Stube 101. Weber Würth ist aus Biberach, seit vierundfünfzig Jahren in Berlin, jetzt sechsundsiebenzig Jahr alt und so nervenschwach, daß er kaum stehen und die Tasse nicht mit der Hand zum Munde bringen kann. Er lebt mit seiner fünften Frau, die einundsechzig Jahr alt ist, zusammen. Von der Armendirektion erhält er monatlich drei Taler, davon sind zwei Taler für Miete auszugeben. Da er wie ein Kind gepflegt werden muß, so kann die Frau kaum anderthalb Taler verdienen im Monat. Diese alten Leute müssen also von zweieinhalb Silbergroschen im Tage leben. Es hat mich ganz ergriffen, als die Frau ihren höchsten Wunsch dahin richtete, daß der Mann ins Hospital aufgenommen werden möchte; was aber nicht zu erwarten sei, weil man Eheleute nicht trenne. »Sehen Sie, mein Herr,« sagte sie, »so hülflos sitzt mein Mann, und er kann noch recht lange leben, wenn ihn der Hunger nicht umbringt.« Der Alte schaute mich mit großen Augen an und schien ganz damit zufrieden, daß ihm seine Gefährtin den Tod wünschte. Nachher erzählte er mir begeistert von den guten Einrichtungen[246] im Spitalamt Biberach und wies dann die Unmöglichkeit, je noch dorthin zu kommen, nach: alle seine Verwandten seien wahrscheinlich tot und überdies heiße es: »Wo das Fleisch geblieben ist, können die Knochen auch bleiben.« –

Der Witwer Lottes ist dreiundsechzig Jahr alt. Seit vielen Jahren leidet er an Leberkrankheit und Bandwurm. Jedes Jahr muß er einige Wochen in der Charité zubringen. Sonst hat er das Brot mit Weben verdient; jetzt ist er zu dieser Arbeit untauglich. Er sucht bei den benachbarten Webern das unbrauchbare Garn zusammen und macht daraus Schürzenschnüre. Diese muß er auf geheimen Wegen verkaufen. Ein Hausierpatent würde ihn zwölf Taler kosten, die er auf keine Weise zusammenbrächte. Würde er beim Verkaufe seiner Waren ertappt, so käme er nach dem »Ochsenkopf«. Da er von der Armendirektion monatlich nur zwanzig Silbergroschen erhält, so ist es mir jetzt noch rätselhaft, wie er sich durchbringt. Er wünscht sehr, ins Hospital aufgenommen zu werden; was aber nicht geschehe, bis er hülflos auf der Straße gefunden werde. Von seinen vier erwachsenen Kindern hat er keine Unterstützung zu hoffen: die Mädchen sind Dienstmägde und brauchen das Ersparte für Kleider; die Söhne haben Weben gelernt, sind brotlos und leiden selbst Hunger. Den unglücklichen Vater drückt die Besorgnis, daß seine Knaben zum unrechtmäßigen Erwerbe gezwungen werden möchten.


In Nr. 92, Stube 27 wohnte der Arbeitsmann Weber. Seine Frau ist auf einige Jahre wegen Betteln eingesperrt, die Familie also von der Polizei auseinandergerissen. – (Wer einmal beim Betteln ertappt wird, kommt auf vier Wochen ins Arbeitshaus. Den ersten Rückfall straft man mit acht Wochen, den zweiten mit einem Jahre Arrest usf. bis auf vier Jahre.) Solche Strenge gegen das Betteln ist unmenschlich, wo man den Klagen der Armen nicht durch genaue Untersuchung und Abhülfe der Lage dürftiger Familien zuvorkommt. Vor einigen Tagen ging Weber, durch Hunger getrieben, mit einem sechsjährigen Knaben in die Stadt. Dieser mußte im Hause betteln und der Vater wartete vor der Türe. Jener wurde von den Polizeidienern erwischt, und dieser wollte ihn nicht verlassen. Man hat beide nach dem Arbeitshause gebracht. Ein Mädchen von zwölf Jahren und ein Knabe von acht Jahren sind unter Aufsicht des Verwalters der Familienhäuser gestellt und treiben sich bei guten Bekannten herum, bis der Vater losgelassen wird.


Nr. 92, Stube 94. Urbich und sein Sohn machen Schlafrockzeug. Für sechsundsechzig Ellen, die einer in vierzehn Tagen webt, werden zweieinhalb Taler bezahlt. Der Sohn arbeitet für sich und kann den Vater nicht unterstützen. Dieser versicherte mich, daß er mit dem größten Fleiß nur so viel[247] verdiene, als Miete und Lebensunterhalt kosten; er könne sich kein Hemd anschaffen. Übrigens sei er noch im Vorteile gegen andere Weber: mit Rücksicht auf sein hohes Alter gebe ihm ein Fabrikant, dem er schon zweiundvierzig Jahre gearbeitet habe, regelmäßig zu verdienen, obschon er die Ware wohlfeiler auf mechanischen Webstühlen verfertigen lasse. –


Nr. 92, Stube 74. Der Weber Matthes und seine Frau scheinen recht ordentliche Leute zu sein. Der Sohn ist sechsundzwanzig Jahre alt, leidet an Krämpfen und ist oft zur Arbeit unfähig. Schon vier Monate lang wird gar nichts verdient. Die Mietschuld beträgt zwölf Taler. Der Hausbesitzer hält die Klage zurück, weil M. schon dreizehn Jahre im Familienhause gewohnt und immer regelmäßig bezahlt hat. Das meiste Küchengeschirr, Betten und Kleider sind verkauft oder versetzt. Was mehr als ein Jahr zum Unterpfande gelassen worden ist, wird vom Gläubiger versteigert, und der Vorerlös kommt nicht dem Schuldner zu. So muß M. diesmal zwölf Taler, welche die versetzten Effekten mehr wert sind als das entlehnte Geld, rein verlieren. – Würden ihm fünf Taler vorgestreckt zur Anschaffung der ersten Kette (Zettel), so könnte er auf eigene Rechnung fabrizieren und sich aus der Klemme helfen.


92 a, Stube 26. Bergmann ist zweiundachtzig, seine Frau neunundsiebzig Jahr alt. Zwei Söhne sind im letzten Freiheitskriege gefallen. Er ward vom Schlage gerührt, kann seit fünf Wochen das Bett nicht verlassen. Die Frau hat geschwollene Beine. Verdient wird nichts, und die Armendirektion bezahlt nur die Miete. Ohne die Unterstützung der Nachbaren müßten die alten, braven Leute vor Hunger umkommen.


92 a, Stube 53. Der Weber Hambach hat fünf kleine Kinder. Er macht buntgestreiftes Halbtuch und verdient in vierzehn Tagen drei Taler. Er ist mehrere Taler Miete schuldig. Die meisten Kleider sind versetzt. Das neunjährige Mädchen weinte bitterlich, als es der Mutter Halstuch dem Gläubiger bringen mußte. In zwei Tagen hat die ganze Familie nichts als für vier Silbergroschen Brot gegessen. Als ich der Mutter etwas gab, fragte ein dreijähriges Mädchen gleich, ob es jetzt Brot bekomme. Von der Armendirektion hat H. ein Kartoffelfeld in Pacht. Dafür bezahlt er jährlich zwei Taler, fünfzehn Silbergroschen beträgt das Wächtergeld, ebensoviel der Fuhrlohn. Im letzten Herbst hat er für sechs Taler Kartoffeln eingesammelt. Bringt man das Zeitversäumnis in Anschlag, so ist der Pächter im Nachteil. – H. versicherte mich, daß seine Frau das Unglück leichter ertrage als er. –

Zu diesem Besuche ward ich durch Bitten der Hausfrau, die mich aus der Stube des Nachbars kommen sah, veranlaßt. Ich nahm es derselben nicht[248] übel, daß sie mich durchaus in ihre Stube führen wollte und zum voraus einige Groschen erwartete. Wie ich aber die Not der Kinder sah, freute ich mich über das Benehmen der Mutter. Ich konnte dieser in den Augen lesen, daß in ihr die Liebe zu den Kleinen über die weibliche Schüchternheit triumphierte. Die Dreistigkeit der Bettler belästigt oft. Man darf sich aber ja nicht von dem ersten unangenehmen Eindruck bestimmen lassen. Was den Bettler dreist macht, ist gerade das beste an ihm.


92 b, Nr. 68. Der Schlossergeselle Bettin, eines Vergehens gegen einen Beamten verdächtig, sitzt schon einundeinhalbes Jahr in Spandau gefangen. Seine des Ernährers beraubte Familie ist dem größten Elende preisgegeben. Die Armendirektion bestimmte nur für ein Kind ein Pflegegeld von monatlich eineinviertel Taler. Die Mutter konnte als Wäscherin nur wenig verdienen, weil sie durch die Verpflegung der Kinder an der Arbeit gehindert war. Vor einigen Tagen kam sie wieder in die Wochen. Da sich niemand ihrer annehmen wollte, wurde sie vom Hausverwalter nach der Charité befördert. Um die zurückgelassenen Kinder bekümmert sich keine Behörde. Der Hausverwalter hat sie der armen Witwe Lynhold übergeben und läßt dieser jene eineinviertel Taler zukommen. Da Frau Bettin vier Taler Miete schuldig ist, hat man sie ausgeklagt und die Hausgerätschaften weggenommen. Kommt sie nach einigen Tagen aus der Charité zurück, so ist sie mit ihren Kindern auf der Gasse und muß ins Arbeitshaus gebracht werden.


Ich hätte die Untersuchungen gerne noch weiter fortgesetzt. Sowie es aber bekannt war, daß ich das Gesehene notiere und mitunter einige Groschen schenke, verfolgten mich Weiber und Kinder und wollten mich in ihre Wohnung führen. Um nicht das ganze Vogtland in Auflauf zu bringen, blieb ich weg. Es sind indessen die angeführten Beispiele weder ausgesucht noch ausgemalt, so daß sich leicht auf die übrigen Bewohner der Familienhäuser schließen läßt; und für einmal ist deutlich genug nachgewiesen, wie man die Leute durch alle Stufen des Elendes in den Zustand hinabsinken läßt, aus welchem sie sich, selbst mit erlaubten Mitteln, nicht wieder herausarbeiten können; und daß mit den als Almosen hingeworfenen Zinsen der Armengüter keinem aufgeholfen wird.

In den Familienhäusern traf ich auch auf Schulstuben. Ein Privatverein hat daselbst eine Kleinkinderschule, ein anderer drei Primarschulen, zwei für Knaben und eine für Mädchen, gestiftet und bis jetzt unterhalten. Die Zahl der Kinder wird sich auf zirka dreihundertundfünfzig belaufen. Sie sehen im Durchschnitt recht gut aus; viele scheinen mit schönen Anlagen reichlich begabt. In der Kleinkinderschule sind gegen hundertundvierzig Knaben und Mädchen von zwei bis sechs Jahren unter der Leitung eines alten Ehepaars[249] täglich sechs bis acht Stunden beisammen. Solchen, deren Eltern den ganzen Tag abwesend sind, gibt der Lehrer ein Mittagbrot für sechs Pfennig. Die äußere Einrichtung der Schule ist zweckmäßig, die innere hat mich unangenehm überrascht. Die armen Kleinen werden schon mit Schulkenntnissen abgequält, und dies auf die traurigste Weise. Die Haare standen mir zu Berg, als die Kinder folgende Fragen im Chor und taktmäßig beantworteten: Wie heißt das Buch, in welchem Gott mit uns spricht? Was für Teile hat die Bibel? Womit beginnt das Alte, das Neue Testament? Was ist Taufe? Wovon handelt das achte, vierte, sechste, das siebente Gebot? Was für Lehranstalten sind in Berlin? Was für Beamtete? Was für Königreiche sind in Europa? Was für Flüsse in Deutschland, Frankreich, Spanien? – Die vierjährigen Buben und Mädchen, die vom Ehebruch sprachen, kommen mir zeitlebens nicht aus dem Gedächtnis. – Die untere Mädchenschule, wo Kinder von sechs bis zehn Jahren unterrichtet werden, versetzte mich ganz in eine Dorfschule des verflossenen Jahrhunderts. Dreiundvierzig Schüler buchstabierten miteinander aus Hornungs Leselernbüchlein, und der Lehrer schlug mit dem Stock den Takt dazu. Zum Schlusse der Stunde wurden die heiligen zehn Gebot im Chor aufgesagt und einige schwere Lieder auswendig aufs jämmerlichste abgesungen. – Die Privatschulen werden doch auch unter Aufsicht des Staates stehen? Der Lehrer an der Mädchenschule sagte mir wenigstens, daß er von den hohen Erziehungsbehörden examiniert worden sei.


Im Familienhause Nr. 92 b kam ich glücklicherweise zu einer Betstunde (9. April). Um sechs Uhr abends versammelten sich in zwei nebeneinander liegenden Schulstuben ohngefähr zweihundert Personen, darunter mehr Weiber als Männer und eine bedeutende Anzahl von Kindern. Wenn ich nach den Kleidern schließen darf, so bildeten die Bewohner der Familienhäuser die Minderheit, und es waren vornehme Damen aus der Stadt und Umgebung anwesend. Die gefalteten Hände, die seitwärts geneigten Köpfe und die gezwungen niedergeschlagenen Augen brachten mich sogleich ins reine über den Charakter der Gesellschaft. Ich setzte mich zu Weber M., den ich bei der armen Witwe als Opponenten des unzufriedenen Schusters kennengelernt hatte. Nach geschehenem Gebete und Gesange stellte sich der Prediger auf die Schwelle der die beiden Zimmer verbindenden Tür. Im Äußeren dieses jungen Mannes fand ich den Geist der ganzen Versammlung summarisch ausgedrückt. Auf dem blassen Gesicht waren die Züge des geistigen Lebens glatt gestrichen, Zerknirschung und Hochmut kämpften um die letzten Streifen. Die ganze Gestalt schien vor dem Kruzifix einzubrechen. – Ich wußte zum voraus, daß eine Passionspredigt folgen würde, denn die Geistlichen sind in nichts gewissenhafter als in Festhaltung der nach der Lebensgeschichte Christi gemachten Textordnung. Wer fünfzig Jahr den Gottesdienst besucht hat, ward fünfzigmal im gleichen Ideenkreise[250] herumgeführt. Die Wahl des Textes: »Darnach, als Jesus wußte, daß schon alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllet würde, spricht er: Mich dürstet« (Ev. Joh. 19, 28), konnte mich also nicht befremden, wohl aber die Behandlung derselben. Mit einem leichten Sprunge setzte der Prediger über die Worte, »daß schon alles vollbracht war« und »daß die Schrift erfüllet würde« hinweg und arbeitete sich eine volle Stunde müde am Ausrufe »Mich dürstet«. Es war für den Theologen kein leichtes Geschäft, nachzuweisen, wie der Durst überhaupt entstehe, wie sich der leibliche Schmerz im Angesicht des Herrn ausdrückte, wie ihm die Lippen glühten usw. Noch weniger fand er sich zurecht in dem Kollisionsfalle, daß Christus, der Herr, dem die Macht über alles gegeben, der aller Hunger zu stillen, alle Schmerzen zu lindern weiß, Durst litt. Dagegen kam er ganz auf sein Feld, als er den leiblichen Durst auch als Durst des Herzens gefaßt hatte. Mit bewunderungswürdiger Beredsamkeit schilderte er die Schlechtigkeit der Menschen, zeigte, wie auch nicht einer gerecht war, und wie den Herrn darnach dürsten mußte, die Seelen aus des Satans Gewalt zu gewinnen. Mit Begeisterung wurde ausgesprochen, daß Christus seine Seele nicht hoch und teuer gehalten, daß er sie freudig hingegeben habe für die elenden, sündhaftigen Menschen. Schlafend seien wir des höchsten Glückes teilhaftig geworden. Durch die Gnade des Herrn empfangen wir bewußtlos die heilige Taufe und werden gerettet vom Verderbnis des Heidentums. Indessen sei der Durst des Herrn doch zur Stunde noch nicht gelöscht. Groß sei die Zahl derjenigen, die den Durst des Herrn nicht stillen wollen. »Ach, möchten wir doch recht heiß nach dem Herrn dursten; wir, die wir nur Strafe und Zorn verdienen! Doch, wir müssen alles vom Herrn erbitten, selbst, daß wir ihn lieben, daß wir nach ihm dürsten können; denn unser Herz ist so matt, so ohnmächtig, so tot, daß wir alles nur durch die Gnade des Herrn erlangen. Ach, könnten wir doch die Welt ganz aus unserm Herzen stoßen!« So ohngefähr ging es eine Zeitlang fort, dann kam es an den moralischen Teil der Predigt und zwar schnurstracks an den Genuß des Branntweins. Es hieß, im Genusse dieses Giftes vergesse man der Worte des Herrn: »Mich dürstet«; der Genuß geistiger Getränke sei darum ungerecht, weil Christus am Kreuze Durst gelitten; es sei billig, daß man auch dürste, dieweilen der Heiland gedürstet habe, unbillig, diesem allein allen Schmerz zu überlassen und uns die sinnlichen Genüsse zu verschaffen. Mit der dringendsten Bitte, wenigstens in der Karwoche weder Branntwein noch Punsch zu trinken, wurde die Passionspredigt geschlossen. Nachdem der Psalm: »Wie nach einer Wasserquelle« abgesungen war, wurden die Statuten des Enthaltsamkeitsvereins vorgelesen, und der Prediger sprach die Erwartung aus, daß diejenigen, welche das Wort des Herrn: »Mich dürstet« beherzigen, dem Vereine beitreten. Gerührt ging die Versammlung auseinander.

Es werden wöchentlich zwei Betstunden gehalten. Es verdient Anerkennung, daß man den Armen, welche wegen Mangel an Kleidern die Kirchen nicht besuchen können, das Wort Gottes in ihrem Hause predigt, und daß[251] Leute aus höhern Ständen an diesem besondern Gottesdienste teilnehmen und eine christliche Gemeinschaft herzustellen bemüht sind. Doch bringt die Betstunde nur dann Segen ins Armenhaus, wenn sie rein von Heuchelei und Frömmelei ist, und wenn die Teilnehmer aus höhern Ständen nicht zu jenen erbärmlichen Menschen gehören, welche an Kopf und Herz krank sind, und die größte Freude haben, wenn sie andere anstecken können. Wenn es überhaupt lächerlich ist, die schönste Lebenszeit mit Sündenbetrachtungen zu verlieren, so ist es geradezu unmenschlich, die Armen gewaltsam in dieselben zu versenken. Es ist Pflicht, daß man diese im Glauben an den Wert der menschlichen Seele stärke, damit sie sich ermannen und dem Schicksale trotzen. Wer es nicht versteht, den Geist, »der lebendig macht«, zu predigen, der dränge den Armen seine Litaneien nicht auf. Es ist besser, es komme ein Leierkastenmann in den Hof zwischen den Familienhäusern, denn ein pietistischer Pfarrer. Jenen Freunden der Gemeinschaft aber ist zu raten, daß sie Arm und Reich nicht in der Narrheit zu vereinigen suchen, sondern handeln nach Ev. Math. XIX, 21: »Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen« usw. –


Im Vogtlande gibt es auch außer den Familienhäusern des Herrn Heyder noch verschiedene Wohnungen, wo viele Arme beisammen sind. Am bekanntesten ist Nr. 42 in der Langen Gartenstraße. Man wollte mich abhalten von dem Besuche dieses Hauses, indem man sagte, es sei von Leuten bewohnt, die aus dem Zuchthause entlassen seien oder dahin gehören; das schlechteste Gesindel sammle sich dort, ich könne leicht mißhandelt und geplündert werden, die Polizeidiener haben fortwährend dort zu schaffen. Dies zog mich gerade hin. Um die Leute zu Hause zu treffen, wählte ich einen Sonntagabend zu diesem Spaziergange. Das Haus ist ziemlich weit vom Hamburger Tore entfernt. Es sieht besser aus als die Familienhäuser. Vor demselben spielten die Kinder, auf der Treppe saßen viele Weibspersonen, Männer und Jünglinge standen beisammen und plauderten. Ich machte mich auf Neckereien gefaßt, wie man solche etwa von den Berliner Gassenjungen zu ertragen hat. Die jungen Burschen waren aber ganz freundlich gegen mich; die Mädchen, welche mich wahrscheinlich für einen Prediger hielten, lachten etwas unanständig hinter meinem Rücken. So kam ich mitten in das berüchtigte »Gesindel« ohne alle Gefahr. Ich schämte mich, daß ich einen starken Stock als Verteidigungswaffe mitgenommen hatte, und warf in meinem Kopfe die hohlen Definitionen von »Spitzbub, Auswurf der Menschheit« usw. über den Haufen. Ich unterhielt mich recht angenehm mit den Leuten und bestärkte mich in der Ansicht, daß man in den verschiedensten Teilen der menschlichen Gesellschaft das gleiche Licht der Seele wiederfinde, nur in verschiedener Form. Wer dasselbe sehen will, darf das eigene Licht nicht unter den Scheffel stellen. »Das gleiche findet sich stets.«[252]

Wer das Herz freundlich schlagen läßt, dem schlagen die Herzen anderer freundlich entgegen. Wer aber seine Gesinnung in die Paragraphe einer brutalen Polizeiverordnung schnürt, der wird überall auf Brutalität stoßen. Das Haus gehört der Witwe Neumann, welche, obschon sehr alt und fast blind, das Regiment klug zu führen scheint. Der Sohn unterstützt sie dabei und besitzt einen Kramladen, aus welchem die Hausbewohner die meisten Lebensmittel beziehen, und wo sie dagegen absetzen, was sie auf der Straße zusammentreiben. Hausbesitzer und Mietsleute bilden ziemlich eine Familie zusammen. Wenn diese auch das Mietgeld nicht regelmäßig bezahlen, so werden sie deshalb nicht exmittiert; wahrscheinlich, weil sie die Industrie des ganzen unterstützen. Es sind einzelne bis auf fünfzehn Taler schuldig und doch geduldet. Oft kommt es vor, daß die Polizei auf Exmission einzelner Familien dringt und diese von Neumann in Schutz genommen werden. Es ist zu begreifen, wenn der Polizeikommissarius dieser Armengesellschaft nicht grün ist, sie scheint wohl konstituiert und für die Schergen unüberwindlich zu sein. Es wurde mir bereitwillig gestattet, mich in den einzelnen Stuben umzusehen. Das »Mütterchen« begleitete mich aber überall und warf mich durch seine Einmischung ins Gespräch oft aus dem Geleise der Untersuchungen. In zwölf Stuben sind achtundzwanzig ältere Personen und fünfundvierzig unerzogene Kinder beherbergt. Was sich von ihrer Lage sagen läßt, stimmt ganz überein mit den in den Familienhäusern gemachten Beobachtungen.


Der Weber Fechter fand keine Arbeit, wußte Frau und Kinder nicht mehr zu ernähren und verließ diese vor einigen Wochen, damit die Armendirektion, welche jüngere Hausväter nicht unterstützt, genötigt werde, sich der hülflos Zurückgelassenen anzunehmen. Die Frau liegt todkrank in der Charité. Für ein Kind von fünf Monaten, welches einem armen Weber übergeben ist, werden monatlich zwei Taler Pflegegeld bezahlt. Einen vierjährigen Knaben hat Herr Neumann angenommen.


Der Weber Naumann ist schon sieben Wochen für drei Taler fünfzehn Silbergroschen im Schuldarrest. Der Exekutor ging persönlich mit ihm zum Armendirektor und stellte diesem vor, daß der Armendirektion, wenn sie jene Schuld nicht tilge, eine Frau mit sechs kleinen Kindern auf den Hals falle. Doch umsonst: man läßt den armen Mann im Gefängnis sitzen und reicht der brotlosen Familie monatlich vier Taler Unterstützung. Es zeigt sich an diesem Beispiele deutlich, wie ungeschickt die Armenfonds benutzt werden. Anstatt den rechten Augenblick der Unterstützung kennenzulernen und zu benutzen, verwendet man die Gelder auf Almosen, die noch keinem Armen aufgeholfen haben. Aus diesem wird das Mietgeld bestritten, und das übrige genügt nicht, die Familie vor großem Hunger zu sichern.[253]

Die junge Frau des Hausbesitzers erzählte mir, daß die Kinder tagelang hungern und sie das kleinste schon oft an ihrer Brust genährt habe.

Schneider von Hirschlanden bei Zürich hat den russischen Feldzug mitgemacht und wohnt seit 1813 in Berlin. Von neun Kindern hat er die zwei jüngsten bei sich. Er leidet an einem doppelten Bruchschaden. Seine Frau ist alt und kränklich. Beide suchen Knochen und Papier. Heute haben sie auf diesem Wege zwei Silbergroschen vier Pfennig verdient. Vor einem Jahre erhielten sie zwei Taler Unterstützung von der Armendirektion. Vor zwei Jahren hat Schneider jemanden um ein Almosen angesprochen; er bekam drei Pfennig, wurde von einem Polizeidiener erwischt und auf sechs Monat eingesperrt.

In der gleichen Stube wohnt eine alte Witwe, wel che ebenfalls Knochen sucht.


Kornewitz ist ein Soldatenkind und hat in seiner Jugend mehrere Feldzüge mitgemacht. Nachher wurde er bei der Post als Schirrmeister angestellt, vor acht Jahren aber abgesetzt, weil er infolge eines Nervenfiebers wahnsinnig geworden sei. Er und seine Frau behaupten, daß ein gewisser R.-Rat B., welchem Kornewitz einmal das Übergewicht nicht verheimlichen wollte, die Absetzung bewirkt habe. Das Postamt hat ihm monatlich acht Taler Pension ausgesetzt. Von dreizehn Kindern leben sechs, fünf sind noch unerzogen und wohnen bei den Eltern.


Der Weber Weber ist achtundfünfzig Jahre alt, seit Mitte November vorigen Jahres ohne Arbeit. Hausgeräte und Kleider sind verkauft. Die Kinder sind vor Hunger blaß.


Der Weber Beneke ist vierzehn Wochen ohne Arbeit. Er liegt krank im Bette. Die vier Kinder scheinen großen Mangel zu leiden. Die Frau gestand mir, daß sie durch Betteln die Ihrigen ernähre. Von der Armendirektion hat sie einmal zwei Taler bekommen.

Im gleichen Zimmer wohnt unentgeltlich der alte Warich. Er sucht Knochen und Papier. –

Auf die Polizei und die Armendirektion kommen die Leute nicht gut zu sprechen. Jene verlange, daß man die Armen auf die Gasse stelle, damit sie in den »Ochsenkopf« gebracht werden können. Der Armendirektor wolle da nicht angreifen, wo viele Dürftige beisammen wohnen. Es sei merkwürdig, daß sich ein Armendirektor erhängt habe und sein Nachfolger wegen Veruntreuung der Gelder abgesetzt worden sei und nun selbst bettle.[254]

Quelle:
Bettina von Arnim: Werke und Briefe. Bde. 1–5, Band 3, Frechen 1959, S. 227-255.
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