Briefwechsel mit Goethes Mutter

Liebste Frau Rat!

Am 1. März 1807


Ich warte schon lange auf eine besondere Veranlassung, um den Eingang in unsere Korrespondenz zu machen. Seitdem ich aus Ihrem Abrahamsschoß, als dem Hafen stiller Erwartung, abgesegelt bin, hat der Sturmwind noch immer den Atem angehalten, und das Einerleileben hat mich wie ein schleichend Fieber um die schöne Zeit gebracht. Wie sehr bejammere ich die angenehme Aussicht, die ich auf der Schawell zu Ihren Füßen hatte, nicht die auf den Knopf des Katharinenturms, noch auf die Feueresse der rußigen Zyklopen, die den goldnen Brunnen bewachen; nein! die Aussicht in Ihren vielsagenden feurigen Blick, der ausspricht, was der Mund nicht sagen kann. – Ich bin zwar hier mitten auf dem Markt der Abenteuer, aber das köstliche Netz, in dem mich Ihre mütterliche Begeistrung eingefangen, macht mich gleichgültig für alle. Neben mir an, Tür an Tür, wohnt der Adjutant des Königs; er hat rotes Haar, große blaue Augen, ich weiß einen, der ihn für unwiderstehlich hält, der ist er selber. Vorige Nacht weckte er mich mit seiner Flöte aus einem Traum, den ich für mein Leben gern weiter geträumt hätte, am andern Tag bedankt ich mich, daß er mir noch so fromm den Abendsegen vorgeblasen habe; er glaubte, es sei mein Ernst, und sagte, ich sei eine Betschwester, seitdem nennen mich alle Franzosen so und wundern sich, daß ich mich nicht drüber ärgere; – ich kann aber doch die Franzosen gut leiden.

Gestern ist mir ein Abenteuer begegnet. Ich kam vom Spaziergang und fand den Rothschild vor der Tür mit einem schönen Schimmel; er sagte: es sei ein Tier wie ein Lamm, und ob ich mich nicht draufsetzen wolle? – Ich ließ mich gar nicht bitten, kaum war ich aufgestiegen, so nahm das Lamm Reißaus und jagte in vollem Galopp mit mir die Wilhelmshöher Allee hinauf, ebenso kehrte es wieder um. Alle kamen totenblaß mir entgegen, das Lamm blieb plötzlich stehen, und ich sprang ab; nun sprachen alle von ihrem gehabten Schreck; – ich fragte: »Was ist denn passiert?« – »Ei, der Gaul ist ja mit Ihnen durchgegangen!« – »So!« sagt ich, »das hab ich nicht gewußt.« – Rothschild wischte mit seinem seidnen Schnupftuch dem Pferde den Schweiß ab, legte ihm seinen Überrock auf den Rücken, damit es sich nicht erkälten solle, und führte es in Hemdärmel nach Haus; er hatte gefürchtet, es nimmermehr wiederzusehen. – Wie ich am Abend in die Gesellschaft kam, nannten mich die Franzosen nicht mehr Betschwester, sie riefen alle einstimmig: »Ah l'héroïne!«

Leb Sie wohl, ruf ich Ihr aus meiner Traumwelt zu, denn auch über mich[15] verbreitet sich ein wenig diese Gewalt. Ein gar schöner (ja ich müßte blind sein, wenn ich dies nicht fände), nun, ein feiner, schlanker brauner Franzose sieht mich aus weiter Ferne mit scharfen Blicken an, er naht sich bescheiden, er bewahrt die Blume, die meiner Hand entfällt, er spricht von meiner Liebenswürdigkeit; Frau Rat, wie gefällt einem das? – Ich tue zwar sehr kalt und ungläubig, wenn man indessen in meiner Nähe sagt: »Le roi vient«, so befällt mich immer ein kleiner Schreck, denn so heißt mein liebenswürdiger Verehrer.

Ich wünsche Ihr eine gute Nacht, schreib Sie mir bald wieder.

Bettine

Goethes Mutter an Bettine

Am 14. März 1807


Ich habe mir meine Feder frisch abknipsen lassen und das vertrocknete Tintenfaß bis oben vollgegossen, und weil es denn heute so abscheulich Wetter ist, daß man keinen Hund vor die Tür jagt, so sollst Du auch gleich eine Antwort haben. Liebe Bettine, ich vermisse Dich sehr in der bösen Winterzeit; wie bist Du doch im vorigen Jahr so vergnügt dahergesprungen kommen? – Wenn's kreuz und quer schneite, da wußt ich, das war so ein recht Wetter für Dich, ich braucht nicht lange zu warten, so warst Du da. Jetzt guck ich auch immer noch aus alter Gewohnheit nach der Ecke von der Katharinenpfort, aber Du kommst nicht, und weil ich das ganz gewiß weiß, so kümmert's mich. Es kommen Visiten genug, das sind aber nur so Leutevisiten, mit denen ich nichts schwätzen kann.

Die Franzosen hab ich auch gern – das ist immer ein ganz ander Leben, wenn die französische Einquartierung hier auf dem Platz ihr Brot und Fleisch ausgeteilt kriegt, als wenn die preußische oder hessische Holzböck einrücken.

Ich hab recht meine Freud gehabt am Napoleon, wie ich den gesehen hab; er ist doch einmal derjenige, der der ganzen Welt den Traum vorzaubert, und dafür können sich die Menschen bedanken, denn wenn sie nicht träumten, so hätten sie auch nichts davon und schliefen wie die Säck, wie's die ganze Zeit gegangen ist.

Amüsiere Dich recht gut und sei lustig, denn wer lacht, kann keine Todsünd tun.

Deine Freundin

Elisabeth Goethe


Nach dem Wolfgang frägst Du gar nicht; ich hab Dir's ja immer gesagt: wart nur bis einmal ein andrer kommt, so wirst Du schon nicht mehr nach ihm seufzen.[16]

Frau Rat!

Am 20. März 1807


Geh Sie doch mit Ihren Vorwürfen; – das antwort ich Ihr auf Ihre Nachschrift, und sonst nichts.

Jetzt rat Sie einmal, was der Schneider für mich macht. Ein Andrieng? – Nein! Eine Kontusche? – Nein! Einen Joppel? – Nein! Eine Mantille? – Nein! Ein paar Boschen? – Nein! Einen Reifrock? – Nein! Einen Schlepprock? – Nein! Ein Paar Hosen? – Ja! – Vivat – jetzt kommen andre Zeiten angerückt – und auch eine Weste und ein Überrock dazu. Morgen wird alles anprobiert, es wird schon sitzen, denn ich hab mir alles bequem und weit bestellt, und dann werf ich mich in eine Chaise und reise Tag und Nacht Kurier durch die ganzen Armeen zwischen Feind und Freund durch; alle Festungen tun sich vor mir auf, und so geht's fort bis Berlin, wo einige Geschäfte abgemacht werden, die mich nichts angehn. Aber dann geht's eilig zurück und wird nicht eher haltgemacht bis Weimar. O Frau Rat, wie wird's denn dort aussehen? – Mir klopft das Herz gewaltig, obschon ich noch bis zu Ende April reisen kann, ehe ich dort hinkomme. Wird mein Herz auch Mut genug haben, sich ihm hinzugeben? – Ist mir's doch, als ständ er eben vor der Tür! – Alle Adern klopfen mir im Kopf; ach wär ich doch bei Ihr! – Das allein könnt mich ruhig machen, daß ich säh, wie Sie auch vor Freud außer sich wär, oder wollt mir einer einen Schlaftrunk geben, daß ich schlief, bis ich bei ihm erwachte. Was werd ich ihm sagen? – Ach, nicht wahr, er ist nicht hochmütig? – Von Ihr werd ich ihm auch alles erzählen, das wird er doch gewiß gern hören. Adieu, leb Sie wohl und wünsch Sie mir im Herzen eine glückliche Reis. Ich bin ganz schwindlig.

Bettine


Aber das muß ich Ihr doch noch sagen, wie's gekommen ist. Mein Schwager kam und sagte, wenn ich seine Frau überreden könne, in Männerkleidern mit ihm eine weite Geschäftsreise zu machen, so wolle er mich mitnehmen und auf dem Rückweg mir zulieb über Weimar gehen. Denk Sie doch, Weimar schien mir immer so entfernt, als wenn es in einem andern Weltteil läg, und nun ist's vor der Tür.

Liebe Frau Rat!

Am 5. Mai 1807


Eine Schachtel wird Ihr mit dem Postwagen zukommen, beste Frau Mutter, darin sich eine Tasse befindet; es ist das sehnlichste Verlangen, Sie wieder zu sehen, was mich treibt, Ihr solche unwürdige Zeichen meiner Verehrung zu senden. Tue Sie mir den Gefallen, Ihren Tee früh morgens draus zu trinken, und denk Sie meiner dabei. – Ein Schelm gibt's besser, als er's hat.[17]

Den Wolfgang hab ich endlich gesehen; aber ach, was hilft's? Mein Herz ist geschwellt wie das volle Segel eines Schiffs, das fest vom Anker gehalten ist am fremden Boden und doch so gern ins Vaterland zurück möchte.

Adieu, meine liebe gute Frau Mutter, halt Sie mich lieb.

Bettine Brentano

Goethes Mutter an Bettine

Am 11. Mai 1807


Was läßt Du die Flügel hängen? Nach einer so schönen Reise schreibst Du einen so kurzen Brief, und schreibst nichts von meinem Sohn, als daß Du ihn gesehen hast; das hab ich auch schon gewußt, und er hat mir's gestern geschrieben. Was hab ich von Deinem geankerten Schiff? Da weiß ich soviel wie nichts. Schreib doch, was passiert ist. Denk doch, daß ich ihn acht Jahre nicht gesehen hab und ihn vielleicht nie wieder seh, wenn Du mir nichts von ihm erzählen willst, wer soll mir dann erzählen? – Hab ich nicht Deine alberne Geschichten hundertmal angehört, die ich auswendig weiß, und nun, wo Du etwas Neues erfahren hast, etwas Einziges, wo Du weißt, daß Du mir die größte Freud machen könntest, da schreibst Du nichts. Fehlt Dir denn was? – Es ist ja nicht übers Meer bis nach Weimar. Du hast ja jetzt selbst erfahren, daß man dort sein kann, bis die Sonne zweimal aufgeht. – Bist Du traurig? – Liebe, liebe Tochter, mein Sohn soll Dein Freund sein, Dein Bruder, der Dich gewiß liebt, und Du sollst mich Mutter heißen in Zukunft für alle Täg, die mein spätes Alter noch zählt, es ist ja doch der einzige Name, der mein Glück umfaßt.

Deine treue Freundin

Elisabeth Goethe


Vor die Tasse bedank ich mich.

An Goethes Mutter

Am 16. Mai 1807


Ich hab gestern an Ihren Sohn geschrieben; verantwort Sie es bei ihm. – Ich will Ihr auch gern alles schreiben, aber ich hab jetzt immer so viel zu denken, es ist mir fast eine Unmöglichkeit, mich loszureißen, ich bin in Gedanken immer bei ihm; wie soll ich denn sagen, wie es gewesen ist? – Hab Sie Nachsicht und Geduld; ich will die ander Woch nach Frankfurt kommen, da kann Sie mir alles abfragen.

Ihr Kind

Bettine


Ich lieg schon eine Weile im Bett, und da treibt mich's heraus, daß ich Ihr alles schreib von unserer Reise. – Ich hab Ihr ja geschrieben, daß wir[18] in männlicher Kleidung durch die Armeen passierten. Gleich vorm Tor ließ uns der Schwager aussteigen, er wollte sehen, wie die Kleidung uns stehe. Die Lulu sah sehr gut aus, denn sie ist prächtig gewachsen, und die Kleidung war sehr passend gemacht; mir war aber alles zu weit und zu lang, als ob ich's auf dem Grempelmarkt erkauft hätte. Der Schwager lachte über mich und sagte, ich sähe aus wie ein Savoyardenbube, ich könnte gute Dienste leisten. Der Kutscher hatte uns vom Weg abgefahren durch einen Wald, und wie ein Kreuzweg kam, da wußt er nicht wohinaus; obschon es nur der Anfang war von der ganzen vier Wochen langen Reise, so hatt ich doch Angst, wir könnten uns verirren und kämen dann zu spät nach Weimar; ich klettert auf die höchste Tanne, und da sah ich bald, wo die Chaussee lag. Die ganze Reise hab ich auf dem Bock gemacht; ich hatte eine Mütze auf von Fuchspelz, der Fuchsschwanz hing hinten herunter. Wenn wir auf die Station kamen, schirrte ich die Pferde ab und half auch wieder anspannen. Mit den Postillons sprach ich gebrochen Deutsch, als wenn ich ein Franzose wär. Im Anfang war schön Wetter, als wollt es Frühling werden, bald wurd es ganz kalter Winter; wir kamen durch einen Wald von ungeheuren Fichten und Tannen, alles bereift, untadelhaft, nicht eine Menschenseele war des Wegs gefahren, der ganz weiß war; noch obendrein schien der Mond in dieses verödete Silberparadies, eine Totenstille – nur die Räder pfiffen von der Kälte. Ich saß auf dem Kutschersitz und hatte gar nicht kalt; die Winterkält schlägt Funken aus mir; – wie's nah an die Mitternacht rückte, da hörten wir pfeifen im Walde; mein Schwager reichte mir ein Pistol aus dem Wagen und fragte, ob ich Mut habe loszuschießen, wenn die Spitzbuben kommen, ich sagte: »Ja.« Er sagte: »Schießen Sie nur nicht zu früh.« Die Lulu hatte große Angst im Wagen, ich aber unter freiem Himmel, mit der gespannten Pistole, den Säbel umgeschnallt, unzählige funkelnde Sterne über mir, die blitzenden Bäume, die ihren Riesenschatten auf den breiten mondbeschienenen Weg warfen – das alles machte mich kühn auf meinem erhabenen Sitz. – Da dacht ich an ihn, wenn der mich in seinen Jugendjahren so begegnet hätte, ob das nicht einen poetischen Eindruck auf ihn gemacht haben würde, daß er Lieder auf mich gemacht hätte und mich nimmermehr vergessen. Jetzt mag er anders denken, – er wird erhaben sein über einen magischen Eindruck; höhere Eigenschaften (wie soll ich die erwerben?) werden ein Recht über ihn behaupten. Wenn nicht Treue – ewige, an seine Schwelle gebannt, mir endlich ihn erwirbt! So war ich in jener kalten hellen Winternacht gestimmt, in der ich keine Gelegenheit fand, mein Gewehr loszuschießen, erst wie der Tag anbrach, erhielt ich Erlaubnis loszudrücken; der Wagen hielt, und ich lief in den Wald und schoß in die dichte Einsamkeit Ihrem Sohn zu Ehren mutig los, indessen war die Achse gebrochen; wir fällten einen Baum mit dem Beil, das wir bei uns hatten, und knebelten ihn mit Stricken fest; da fand denn mein Schwager, daß ich sehr anstellig war, und lobte mich. So ging's fort bis Magdeburg;[19] präzis sieben Uhr abends wird die Festung gesperrt, wir kamen eine Minute nachher und mußten bis den andern Morgen um sieben halten; es war nicht sehr kalt, die beiden im Wagen schliefen. In der Nacht fing's an zu schneien, ich hatte den Mantel über den Kopf genommen und blieb ruhig sitzen auf meinem freien Sitz; am Morgen guckten sie aus dem Wagen, da hatte ich mich in einen Schneemann verwandelt, aber noch eh sie recht erschrecken konnten, warf ich den Mantel ab, unter dem ich recht warm gesessen hatte. In Berlin war ich wie ein Blinder unter vielen Menschen, und auch geistesabwesend war ich, an nichts konnt ich teilnehmen, ich sehnte mich nur immer nach dem Dunkel, um von nichts zerstreut zu sein, um an die Zukunft denken zu können, die so nah gerückt war. Ach, wie oft schlug es da Alarm! – plötzlich, unversehens, mitten in die stille Ruhe, ich wußte nicht von was. Schneller, als ich's denken konnte, hatte mich ein süßer Schrecken erfaßt. O Mutter, Mutter! denk Sie an Ihren Sohn, wenn Sie wüßte, sie sollte ihn in kurzer Zeit sehen, sie wär auch wie ein Blitzableiter, in den alle Gewitter einschlügen. – Wie wir nur noch wenig Meilen von Weimar waren, da sagte mein Schwager, er wünsche nicht den Umweg über Weimar zu machen und lieber eine andre Straße zu fahren. Ich schwieg stille, aber die Lulu litt es nicht; sie sagte: »Einmal wär mir's versprochen und er müßte mir Wort halten.« – Ach Mutter! – das Schwert hing an einem Haar über meinem Haupt, aber ich kam glücklich drunter weg.

In Weimar kamen wir um zwölf Uhr an; wir aßen zu Mittag, ich aber nicht. Die beiden legten sich aufs Sofa und schliefen; drei Nächte hatten wir durchwacht. »Ich rate Ihnen,« sagte mein Schwager, »auch auszuruhen; der Goethe wird sich nicht viel draus machen, ob Sie zu ihm kommen oder nicht, und was Besondres wird auch nicht an ihm zu sehen sein.« Kann Sie denken, daß mir diese Rede allen Mut benahm? – Ach, ich wußte nicht, was ich tun sollte, ich war ganz allein in der fremden Stadt; ich hatte mich anders angekleidet; ich stand am Fenster und sah nach der Turmuhr, eben schlug es halb drei. – Es war mir auch so, als ob sich Goethe nichts draus machen werde, mich zu sehen; es fiel mir ein, daß ihn die Leute stolz nennen; ich drückte mein Herz fest zusammen, daß es nicht begehren solle; – auf einmal schlug es drei Uhr. Und da war's doch auch grad, als hätte er mich gerufen, ich lief hinunter nach dem Lohnbedienten, kein Wagen war da, eine Portechaise? Nein, sagt ich, das ist eine Equipage fürs Lazarett. Wir gingen zu Fuß. Es war ein wahrer Schokoladenbrei auf der Straße, über den dicksten Morast mußte ich mich tragen lassen, und so kam ich zu Wieland, nicht zu Ihrem Sohn. Den Wieland hatte ich nie gesehen, ich tat, als sei ich eine alte Bekanntschaft von ihm, er besann sich hin und her und sagte: »Ja, ein lieber bekannter Engel sind Sie gewiß, aber ich kann mich nur nicht besinnen, wann und wo ich Sie gesehen habe.« Ich scherzte mit ihm und sagte: »Jetzt hab ich's herausgekriegt, daß Sie von mir träumen, denn anderswo können Sie mich[20] unmöglich gesehen haben.« Von ihm ließ ich mir ein Billett an Ihren Sohn geben, ich hab es mir nachher mitgenommen und zum Andenken aufbewahrt; und hier schreib ich's Ihr ab. »Bettina Brentano, Sophiens Schwester, Maximilianens Tochter, Sophie La Roches Enkelin wünscht Dich zu sehen, l. Br., und gibt vor, sie fürchte sich vor Dir, und ein Zettelchen, das ich ihr mitgebe, würde ein Talisman sein, der ihr Mut gäbe. Wiewohl ich ziemlich gewiß bin, daß sie nur ihren Spaß mit mir treibt, so muß ich doch tun, was sie haben will, und es soll mich wundern, wenn Dir's nicht ebenso wie mir geht. Den 23. April 1807

W.«


Mit diesem Billett ging ich hin, das Haus liegt dem Brunnen gegenüber; wie rauschte mir das Wasser so betäubend – ich kam die einfache Treppe hinauf, in der Mauer stehen Statuen von Gips, sie gebieten Stille. Zum wenigsten ich könnte nicht laut werden auf diesem heiligen Hausflur. Alles ist freundlich und doch feierlich. In den Zimmern ist die höchste Einfachheit zu Hause, ach so einladend! »Fürchte dich nicht«, sagten mir die bescheidnen Wände, »er wird kommen und wird sein, und nicht mehr sein wollen wie Du «, – und da ging die Tür auf, und da stand er feierlich ernst und sah mich unverwandten Blickes an; ich streckte die Hände nach ihm, glaub ich, – bald wußt ich nichts mehr, Goethe fing mich rasch auf an sein Herz. »Armes Kind, hab ich Sie erschreckt«, das waren die ersten Worte, mit denen seine Stimme mir ins Herz drang; er führte mich in sein Zimmer und setzte mich auf den Sofa gegen sich über. Da waren wir beide stumm, endlich unterbrach er das Schweigen: »Sie haben wohl in der Zeitung gelesen, daß wir einen großen Verlust vor wenig Tagen erlitten haben durch den Tod der Herzogin Amalie.» »Ach!« sagt ich, »ich lese die Zeitung nicht.« – »So! – Ich habe geglaubt, alles interessiere Sie, was in Weimar vorgehe.« – »Nein, nichts interessiert mich als nur Sie, und da bin ich viel zu ungeduldig, in der Zeitung zu blättern.« – »Sie sind ein freundliches Kind.« – Lange Pause – ich auf das fatale Sofa gebannt, so ängstlich. Sie weiß, daß es mir unmöglich ist, so wohlerzogen da zu sitzen. – Ach Mutter! Kann man sich selbst so überspringen? – Ich sagte plötzlich: »Hier auf dem Sofa kann ich nicht bleiben,« und sprang auf. – »Nun!« sagte er, »machen Sie sich's bequem;« nun flog ich ihm an den Hals, er zog mich aufs Knie und schloß mich ans Herz. – Still, ganz still war's, alles verging. Ich hatte so lange nicht geschlafen; Jahre waren vergangen in Sehnsucht nach ihm – ich schlief an seiner Brust ein; und da ich aufgewacht war, begann ein neues Leben. Und mehr will ich Ihr diesmal nicht schreiben.

Bettine
[21]

September 1807


Frau Rat, so oft mir was Komisches begegnet, so denk ich an Sie, und was das für ein Jubel und für eine Erzählung sein würde, wenn Sie es selbst erlebt hätte. Hier, in dem traubenreichen Mildeberg, sitze ich bei meinem Herrn Schwab, der ehmals bei unserm Vater Schreiber war und uns Kinder alle mit seinen Märchen großgezogen hat. Er kann zum wenigsten so gut erzählen wie Sie, aber er schneidet auf und verbraucht Juden- und Heidentum, die entdeckte und unentdeckte Welt zur Dekoration seiner Abenteuer; Sie aber bleibt bei der Wahrheit, aber mit so freudigen Ausrufungszeichen, daß man wunder denkt, was passiert ist. Ich habe das Eichhörnchen, was Sie mir mitgab, im großen Eichenwald ins Freie gesetzt, es war Zeit – die fünf Meilen, die es im Wagen fuhr, hat es großen Schaden gemacht, und im Wirtshaus hat es über Nacht dem Bürgermeister die Pantoffel zerfressen. Ich weiß gar nicht, wie Sie es gemacht hat, daß es Ihr nicht alle Gläser umgeworfen, alle Möbel angenagt und alle Hauben und Tocken beschmutzt hat. Mich hat's gebissen, aber im Andenken an den schönen stolzen Franzosen, der es auf seinem Helm vom südlichen Frankreich bis nach Frankfurt in Ihr Haus gebracht hat, hab ich ihm verziehen. Im Wald setzte ich's auf die Erde, wie ich wegging, sprang es wieder auf meine Schulter und wollte von der Freiheit nichts profitieren, und ich hätt's gern wieder mitgenommen, weil mich's lieber hatte als die schönen grünen Eichbäume. Wie ich aber in den Wagen kam, machten die andern so großen Lärm und schimpften so sehr auf unsern lieben Stubenkameraden, daß ich's in den Wald tragen mußte. Ich ließ dafür auch lange warten; ich suchte mir den schönsten Eichbaum im ganzen Wald und kletterte hinauf. Da oben ließ ich's aus seinem Beutel, – es sprang gleich lustig von Ast zu Ast und machte sich an die Eicheln, unterdessen kletterte ich hinunter. Wie ich unten ankam, hatte ich die Richtung nach dem Wagen verloren, und obschon ich nach mir rufen hörte, konnte ich gar nicht unterscheiden, wo die Stimmen herkamen. Ich blieb stehen, bis sie herbeikamen, um mich zu holen; sie zankten alle auf mich, ich schwieg still, legte mich im Wagen auf drei Selterskrüge unten am Boden und schlief einen herrlichen Schlaf, bis bei Mondschein, wo der Wagen umfiel, ganz sanft, daß niemand beschädigt ward. Eine nußbraune Kammerjungfer flog vom Bock und legte sich am flachen Mainufer in romantischer Unordnung grade vor das Mondantlitz in Ohnmacht; zwei Schachteln mit Blonden und Bändern flogen etwas weiter und schwammen ganz anständig den Main hinab; ich lief nach, immer im Wasser, das jetzt bei der großen Hitze sehr flach ist, alles rief mir nach, ob ich toll sei, – ich hörte nicht, und ich glaub, ich wär in Frankfurt wieder mitsamt den Schachteln angeschwommen, wenn nicht ein Nachen hervorgeragt hätte, an dem sie haltmachten. Ich packte sie unter beide Ärme und spazierte in den klaren Wellen wieder zurück. Der Bruder Franz sagte: »Du bist unsinnig, Mädchen,« und wollte[22] mit seiner sanften Stimme immer zanken; ich zog die nassen Kleider aus, wurde in einen weichen Mantel gewickelt und in den zugemachten Wagen gepackt. –

In Aschaffenburg legte man mich mit Gewalt ins Bett und kochte mir Kamillentee. Um ihn nicht zu trinken, tat ich, als ob ich fest schlafe. Da wurde von meinen Verdiensten verhandelt, wie ich doch gar ein zu gutes Herz habe, daß ich voll Gefälligkeit sei und mich selber nie bedenke, wie ich gleich den Schachteln nachgeschwommen, und wenn ich die nicht wiedergefischt hätte, so würde man morgen nicht haben mit der Toilette fertig werden können, um beim Fürst Primas zu Mittag zu essen. Ach! sie wußten nicht, was ich wußte, – daß nämlich unter dem Wust von falschen Locken, von goldnen Kämmen, Blonden, in rotsamtner Tasche ein Schatz verborgen war, um den ich beide Schachteln ins Wasser geworfen haben würde mit allem, was mein und nicht mein gehörte, und daß, wenn diese nicht drin gewesen wär, so würde ich mich über die Rückfahrt der Schachteln gefreut haben. In dieser Tasche liegt verborgen ein Veilchenstrauß, den Ihr Herr Sohn, in Weimar in Gesellschaft bei Wieland, mir heimlich im Vorübergehen zuwarf. – Frau Mutter, damals war ich eifersüchtig auf den Wolfgang und glaubte, die Veilchen seien ihm von Frauenhand geschenkt; er aber sagte: kannst du nicht zufrieden sein, daß ich sie dir gebe? – Ich nahm heimlich seine Hand und zog sie an mein Herz, er trank aus seinem Glas und stellte es vor mich, daß ich auch draus trinken sollte; ich nahm es mit der linken Hand und trank und lachte ihn aus, denn ich wußte, daß er es hier hingestellt hatte, damit ich seine Hand loslassen sollte. Er sagte: »Hast du solche List, so wirst du auch wohl mich zu fesseln wissen mein Leben lang.« Ich sag Ihr, mach Sie sich nicht breit, daß ich Ihr mein heimlichstes Herz vertraue; – ich muß wohl jemand haben, dem ich's mitteile. Wer ein schön Gesicht hat, der will es im Spiegel sehen, Sie ist der Spiegel meines Glücks, und das ist grade jetzt in seiner schönsten Blüte, und da muß es denn der Spiegel oft in sich aufnehmen. Ich bitte Sie, klatsch Sie ihrem Herrn Sohn im nächsten Brief, den Sie gleich morgen schreiben kann und nicht erst eine Gelegenheit abzuwarten braucht, daß ich dem Veilchenstrauß in der Schachtel in kühler Mondnacht nachgeschwommen bin, wohl eine Viertelstunde lang, so lang war es aber nicht, und daß die Wellen mich wie eine Wassergöttin dahingetragen haben, – es waren aber keine Wellen, es war nur seichtes Wasser, das kaum die leichten Schachteln hob; und daß mein Gewand aufgebauscht war um mich her wir ein Ballon. Was sind denn die Reifröcke seiner Jugendliebschaften alle gegen mein dahinschwimmendes Gewand! Sag Sie doch nicht, Ihr Herr Sohn sei zu gut für mich, um einen Veilchenstrauß solche Lebensgefahr zu laufen! Ich schließ mich an die Epoche der empfindsamen Romane und komme glücklich im Werther an, wo ich denn gleich die Lotte zur Tür hinauswerfen möchte. Ihr Herr Sohn hat einen schlechten Geschmack an dem weißen Kleide mit Rosaschleifen. Ich will[23] gewiß in meinem Leben kein weißes Gewand anziehen; grün, grün sind alle meine Kleider.

Apropos, guck Sie doch einmal hinter Ihren Ofenschirm, wo Sie immer die schön bemalte Seite gegen die Wand stellt, damit die Sonne ihn nicht ausbleicht; da wird Sie entdecken, daß das Eichhörnchen der Ofengöttin großen Schaden getan hat, und daß es ihr das ganze Angesicht blaß gemacht hat. Ich wollt Ihr nichts sagen, weil ich doch das Eichhörnchen gegen Ihren Befehl an den Ofenschirm gebunden hatte, und da fürchtete ich, Sie könnte bös werden, drum hab ich's Ihr schreiben wollen, damit Sie in meiner Abwesenheit Ihren Zorn kann austoben lassen. Morgen geht's nach Aschaffenburg, da schreib ich Ihr mehr. Mein Schawellchen soll die Lieschen ausklopfen, damit die Motten nicht hineinkommen, lasse Sie ja keinen andern drauf sitzen, adje, Fr. Rat, ich bin Ihre untertänige Magd. –

An Frau Rat Goethe

Frau Rat, Sie hat eine recht garstige Hand, eine wahre Katzenpfote, nicht die, mit der Sie im Theater klatscht, wenn der Schauspieler Werdi wie ein Mülleresel dahertrappst und tragisches Schicksal spielen will, nein, sondern die geschriebene Hand ist häßlich und unleserlich. Mir kann Sie zwar immer so undeutlich, wie Sie will, schreiben, daß ich ein albernes Ding bin; ich kann's doch lesen, gleich am ersten großen A. Denn was sollte es sonst heißen? Sie hat mir's ja oft genug gesagt; aber wenn Sie an Ihren Herrn Sohn schreibt von mir, befleißige Sie sich der Deutlichkeit; die Mildeberger Trauben hab ich noch herausgekriegt, die Sie in chaldäischen und hebräischen Buchstaben verzeichnet hat, ich werde Ihr eine ganze Schachtel voll bestellen, das hätt ich auch ohnedem getan. Der Herr Schlosser hat mir übrigens nichts Besondres in Ihrem Brief geschrieben. Ich kann das auch nicht leiden, daß Sie sich die Zeit von ihm vertreiben läßt, wenn ich nicht da bin, und ich sag Ihr: lasse Sie ihn nicht auf meiner Schawelle sitzen, er ist auch so einer, der Laute spielen will und glaubt, er könne auf meiner Schawelle sitzen, und Sie auch, wenn Sie ihn so oft sieht, so bild't Sie sich ein, er wär besser als ich; Sie hat so schon einmal geglaubt, er wär ein wahrer Apoll von Schönheit, bis ich Ihr die Augen aufgetan habe, und die Fr. Rat Schlosser hat gesagt, daß, wie er neugeboren war, so habe man ihn auf ein grünes Billard gelegt, da habe er so schön abgestochen und habe ausgesehen wie ein glänzender Engel; ist denn Abstechen eine so große Schönheit? Adieu, ich sitze in einer Raufe, wo die Kuh den Klee herausfrißt, und schreibe; schreib Sie das nicht an Ihren Sohn; das könnte ihm zu toll vorkommen, denn ich selbst, wenn ich denke: ich fände meinen Schatz im Kuhstall sitzen und zärtliche Briefe an mich schreiben, ich weiß auch nicht, wie ich mich benehmen sollte. Doch[24] sitze ich hier oben aus lauter Verzweiflung, und weil ich mich versteckt habe, und weil ich allein sein möchte, um an ihn zu denken. Adieu Fr. Rat.


Wir haben gestern beim Primas zu Mittag gegessen, es war Fasttag; da waren wunderliche Speisen, die Fleisch vorstellten und doch keins waren. Da wir ihm vorgestellt wurden, faßte er mich am Kinn und nannte mich kleiner Engel, liebliches Kind; ich fragte, wie alt er denn glaubt, daß ich sei? »Nun, zwölf Jahre allenfalls.« »Nein, dreizehn«, sagte ich. »Ja«, sagte er, »das ist schon alt, da müssen Sie bald regieren.«


(Die Antwort fehlt)


Winckel


Liebe Frau Rat! – Alles, was ich aufgeschrieben habe, das will ich Ihr vorlesen; Sie kann selbst sich überzeugen, daß ich nichts hinzugesetzt habe und das bloß geschrieben, was meine Augen Ihr aus dem Mund gesogen haben, nur das kann ich nicht begreifen, daß es aus Ihrem Mund so gescheit lautet, und daß meine Feder es so dumm wiedergibt; daß ich nicht sehr klug bin, davon geb ich häufige Beweise. Also das kann ich wohl zugeben, daß Sie zu den Leuten sagt, Sie wünscht, sie wären alle so närrisch wie ich; aber sag Sie ja nicht, ich sei klug, sonst kompromittiert Sie sich, und der Wirt in Kassel an der großen Rheinbrücke kann den Gegenbeweis führen. Es war so langweilig, bis unsere ganze Bagage an der Douane untersucht war, ich nahm den Mückenplätscher und verfolgte ein paar Mücken, sie setzten sich an die Fensterscheiben, ich schlug zu, die Scheibe flog hinaus und mit ihr die Mücken in die goldne Freiheit, über den großen stolzen Rhein hinüber; der Wirt sagte, das war dumm; und ich war sehr beschämt.

Ach Fr. Mutter! Was ist hier in dem Langenwinkel für ein wunderlich Leben; das soll schöne Natur sein und ist es auch gewiß, ich hab nur keinen Verstand, es zu erkennen. Eh meine Augen hinüber auf den Johannisberg schweifen, werden sie von ein paar schmutzigen Gassen in Beschlag genommen und von einem langen Feld raupenfräßiger Zwetschen- und Birnbäume. Aus jedem Gaubloch hängen Perlenschnüre von getrockneten Schnitzeln und Hutzeln; der Lohgerber gegen uns über durchdampft alle Wohlgerüche der Luft; alle fünf Sinne gehören dazu, um etwas in seiner Schönheit zu empfinden, und wenn auch die ganze Natur noch so sehr entzückend wär und ihr Duft führte nicht auch den Beweis, so wär der Prozeß verloren.

Die Orgel klingt auch ganz falsch hier in der Kirche. Man mußte von Fr. bis Winckel reisen, um eine so grobe Disharmonie zu Ehren Gottes aufführen zu hören.

Leb Sie recht wohl.

Bettine
[25]

Unser Kutscher wird Ihr eine Schachtel mit Pfirsich bringen, verderb Sie sich nicht den Magen, denn der ist nicht göttlich und läßt sich leicht verführen.

Wir waren am letzten Donnerstag mit den beiden Schlossers bis Lorch. Man fuhr auf dem Wasser, Christian Schlosser glaubte die Wasserfahrt nicht vertragen zu können und ging den Weg zu Fuß; ich ging mit ihm, um ihm die Zeit zu vertreiben, aber ich hab's bereut. Zum erstenmal hab ich über den Wolfgang mit einem andern gesprochen wie mit Ihr, und das war eine Sünde. Alles kann ich wohl vertragen von ihm zu hören, aber kein Lob und keine Liebe; Sie hat Ihren Sohn lieb und hat ihn geboren, das ist keine Sünde, und ich lasse mir's gefallen: aber mehr nicht; die andern sollen nur keine weitere Prätensionen machen. Sie frägt zwar, ob ich ihn allein gepachtet habe? – Ja, Fr. Rat, darauf kann ich Ihr antworten. Ich glaub, daß es eine Art und Weise gibt, jemand zu besitzen, die niemand streitig machen kann; diese üb ich an Wolfgang, keiner hat es vor mir gekonnt, das weiß ich, trotz allen seinen Liebschaften, von denen sie mir erzählt. – Vor ihm tu ich zwar sehr demütig, aber hinter seinem Rücken halte ich ihn fest, und da müßte er stark zappeln, wenn er los will.

Fr. Rat! – Ich kenne die Prinzen und Prinzessinnen nur aus der Zauberwelt der Feenmärchen und aus Ihren Beschreibungen, und die geben einander nichts nach; dort sind zwar die schönsten Prinzessinnen in Katzen verwandelt, und gewöhnlich werden sie durch einen Schneider erlöst und geheiratet. Das überleg Sie doch auch, wenn Sie wieder ein Märchen erfindet, und geb Sie diesem Umstand eine moralische Erläuterung.

Bettine


(Die Antwort fehlt)


Ich habe freilich einen Brief vom Wolfgang hier im Rheingau erhalten, er schreibt: »Halte meine Mutter warm und behalte mich lieb.« Diese lieben Zeilen sind in mich eingedrungen wie ein erster Frühlingsregen; ich bin sehr vergnügt, daß er verlangt, ich soll ihn lieb behalten; ich weiß es wohl, daß er die ganze Welt umfaßt; ich weiß, daß ihn die Menschen sehen wollen und sprechen, daß ganz Deutschland sagt: unser Goethe. Ich aber kann Ihr sagen, daß mir bis heute die allgemeine Begeistrung für seine Größe, für seinen Namen noch nicht aufgegangen ist. Meine Liebe zu ihm beschränkt sich auf das Stübchen mit weißen Wänden, wo ich ihn zuerst gesehen, wo am Fenster der Weinstock, von seiner Hand geordnet hinaufwächst, wo er auf dem Strohsessel sitzt und mich in seinen Armen hält; da läßt er keinen Fremden ein, und da weiß er auch von nichts als nur von mir allein. Frau Rat! Sie ist seine Mutter, und Ihr sag ich's: wie ich ihn zum erstenmal gesehen hatte, und ich kam nach Haus, da fand ich, daß ein Haar von seinem Haupt auf meine Schulter gefallen[26] war. Ich verbrannte es am Licht, und mein Herz war ergriffen, daß es auch in Flammen ausschlug, aber so heiter, so lustig wie die Flammen in blauer, sonnenheller Luft, die man kaum gewahr wird, und die ohne Rauch ihr Opfer verzehrt. So wird mir's auch gehen: mein Leben lang werde ich lustig in die Lüfte flackern, und die Leute werden nicht wissen, woher sich diese Lust schreibt; es ist nur, weil ich weiß, daß, wenn ich zu ihm komme, er allein mit mir sein will und alle Lorbeerkränze vergißt.

Leb Sie wohl und schreib Sie ihm von mir.

Goethes Mutter an Bettine

Frankfurt, am 12. Mai 1808


Liebe Bettine! Deine Briefe machen mir Freude, und die Jungfer Lieschen, die sie schon an der Adresse erkennt, sagt: »Fr. Rat, da bringt der Briefträger ein Pläsier.« – Sei aber nicht gar zu toll mit meinem Sohn, alles muß in seiner Ordnung bleiben. Das braune Zimmer ist neu tapeziert mit der Tapete, die Du ausgesucht hast, die Farbe mischt sich besonders schön mit dem Morgenrot, das überm Katharinenturm heraufsteigt und mir bis in die Stube scheint. Gestern sah unsre Stadt recht wie ein Feiertag aus in dem unbefleckten Licht der Alba.

Sonst ist noch alles auf dem alten Fleck. Um Deinen Schemmel habe keine Not, die Liese leidet's nicht, daß jemand drauf sitzt.

Schreib recht viel, und wenn's alle Tag wär, Deiner wohlgeneigten Freundin

Goethe

Frau Rat!

Schlangenbad


Wir sind gestern auf Müllereseln geritten, weit ins Land hinaus über Rauenthal hinweg. Da geht's durch bewaldete Felswege, links die Aussicht in die Talschlucht und rechts die waldige emporsteigende Felswand. Da haben mich dann die Erdbeeren sehr verlockt, daß ich schier um meinen Posten gekommen wär, denn mein Esel ist der Leitesel. Weil ich aber immer Halt machte, um die Erdbeeren zu pflücken, so drängte die ganze Gesellschaft auf mich ein und ich mußte tausend rote Beeren am Wege stehen lassen. Heute sind's acht Tage, aber ich schmachte noch danach, die gespeisten sind vergessen, die ungepflückten brennen mich noch auf der Seele. Eben drum würde ich's ewig bereuen, wenn ich versäumte, was ich das Recht habe zu genießen, und da braucht Sie nicht zu fürchten, daß ich die Ordnung umstoße. Ich häng mich nicht wie Blei an meinen Schatz, ich bin wie der Mond, der ihm ins Zimmer scheint, wenn die geputzten Leute da sind und die vielen Lichter angezünd't, dann wird er wenig bemerkt, wenn die aber weg sind und das Geräusch ist vorüber,[27] dann hat die Seele um so größere Sehnsucht, sein Licht zu trinken. So wird auch er sich zu mir wenden und meiner gedenken, wenn er allein ist. – Ich bin erzürnt über alle Menschen, die mit ihm zu tun haben, doch ist mir keiner gefährlich bei ihm, aber das geht Sie alles nichts an. Ich werde doch nicht die Mutter fürchten sollen, wenn ich den Sohn lieb hab? –

An Bettine

Frankfurt, am 25. Mai


Ei Mädchen, Du bist ja ganz toll, was bild'st Du Dir ein? – Ei, wer ist denn Dein Schatz, der an Dich denken soll bei Nacht im Mondschein? – Meinst Du, der hätt nichts Bessers zu tun? – Ja proste Mahlzeit. Ich sag Dir noch einmal: alles in der Ordnung, und schreib ordentliche Briefe, in denen was zu lesen steht. – Dummes Zeug nach Weimar schreiben; – schreib, was Euch begegnet, alles ordentlich hinter einander. Erst wer da ist, und wie Dir jeder gefällt, und was jeder an hat, und ob die Sonne scheint, oder ob's regnet, das gehört auch zur Sach.

Mein Sohn hat mir's wieder geschrieben, ich soll Dir sagen, daß Du ihm schreibst. Schreib ihm aber ordentlich, Du wirst Dir sonst das ganze Spiel verderben.

Am Freitag war ich im Konzert, da wurde Violoncell gespielt, da dacht ich an Dich, es klang so recht wie Deine braune Augen. Adieu, Mädchen, Du fehlst überall Deiner Frau Rat.

Frau Rat!

Ich will Ihr gern den Gefallen tun und einmal einen recht langen deutlichen Brief schreiben, meinen ganzen Lebensaufenthalt in Winckel.

Erst ein ganzes Haus voll Frauen, kein einziger Mann, nicht einmal ein Bedienter. Alle Läden im Haus sind zu, damit uns die Sonne nicht wie unreife Weinstöcke behandelt und garkocht. Das Stockwerk, in dem wir wohnen, besteht aus einem großen Saal, an das lauter kleine Kabinette stoßen, die auf den Rhein sehen, in deren jedem ein Pärchen von unserer Gesellschaft wohnt. Die liebe Marie mit den blonden Haaren ist Hausfrau und läßt für uns backen und sieden. Morgens kommen wir alle aus unseren Gemächern im Saal zusammen. Es ist ein besondres Pläsier zu sehen, wie einer nach dem andern griechisch drapiert hervorkommt. Der Tag geht vorüber in launigem Geschwätz, dazwischen kommen Bruchstücke von Gesang und Harpegge auf der Gitarre. Am Abend spazieren wir an den Ufern des Rheins entlang, da lagern wir uns auf dem Zimmerplatz; ich[28] lese den Homer vor, die Bauern kommen alle heran und hören zu; der Mond steigt zwischen den Bergen herauf und leuchtet statt der Sonne. In der Ferne liegt das schwarze Schiff, da brennt ein Feuer, der kleine Spitzhund auf dem Verdeck schlägt von Zeit zu Zeit an. Wenn wir das Buch zumachen, so ist ein wahres politisches Verhandeln; die Götter gelten nicht mehr und nicht weniger als andre Staatsmächte, und die Meinungen werden so hitzig behauptet, daß man denken sollte, alles wär gestern geschehen, und es wär manches noch zu ändern. Einen Vorteil hab ich davon: hätt ich den Bauern nicht den Homer vorgelesen, so wüßte ich heut noch nicht, was drin steht, die haben mir's durch ihre Bemerkungen und Fragen erst beigebracht. – Wenn wir nach Hause kommen, so steigt einer nach dem andern, wenn er müde ist, zu Bette. Ich sitze dann noch am Klavier, und da fallen mir Melodien ein, auf denen ich die Lieder, die mir lieb sind, gen Himmel trage. Wie ist Natur so hold und gut. Im Bett richte ich meine Gedanken dahin, wo mir's lieb ist, und so schlafe ich ein. Sollte das Leben immer so fortgehen? – Gewiß nicht.

Am Samstag waren die Brüder hier, bis zum Montag. Da haben wir die Nächte am Rhein verschwärmt. George mit der Flöte, wir sangen dazu, so ging's von Dorf zu Dorf, bis uns der aufgehende Tag nach Hause trieb. – Fr. Mutter, auf dem prächtigen Rheinspiegel in Mondnächten dahingleiten und singen, wie das Herz eben aufjauchzt, allerlei lustige Abenteuer bestehen in freundlicher Gesellschaft, ohne Sorge aufstehen, ohne Harm zu Bette gehen, das ist so eine Lebensperiode, in der ich mitten inne stehe. Warum lasse ich mir das gefallen? – weiß ich's nicht besser? – und ist die Welt nicht groß und mancherlei in ihr, was bloß des Menschengeistes harrt, um in ihm lebendig zu werden? – Und soll das alles mich unberührt lassen? – Ach Gott das Philistertum ist eine harte Nuß, nicht leicht aufzubeißen, und mancher Kern vertrocknet unter dieser harten Schale. Ja, der Mensch hat ein Gewissen, es mahnt ihn, er soll nichts fürchten, und soll nichts versäumen, was das Herz von ihm fordert. Die Leidenschaft ist ja der einzige Schlüssel zur Welt, durch die lernt der Geist alles kennen und fühlen, wie soll er denn sonst in sie hineinkommen? – Und da fühl ich, daß ich durch die Liebe zu Ihm erst in den Geist geboren bin, daß durch Ihn die Welt sich mir erst aufschließt, da mir die Sonne scheint, und der Tag sich von der Nacht scheidet. Was ich durch diese Liebe nicht lerne, das werde ich nie begreifen. Ich wollt, ich säß an seiner Tür ein armes Bettelkind, und nähm ein Stückchen Brot von ihm, und er erkennte dann an meinem Blick, wes Geistes Kind ich bin, da zög er mich an sich und hüllte mich in seinen Mantel, damit ich warm würde. Gewiß er hieß mich nicht wieder gehen, ich dürfte fort und fort im Haus herumwandeln, und so vergingen die Jahre und keiner wüßte, wer ich wäre, und niemand wüßte, wo ich hingekommen wär, und so vergingen die Jahre und das Leben, und in seinem Antlitz spiegelte sich mir die ganze Welt, ich brauchte nichts andres mehr zu lernen. Warum tu ich's denn nicht? – Es kommt ja nur[29] darauf an, daß ich Mut fasse, so kann ich in den Hafen meines Glückes einlaufen.

Weiß Sie noch, wie ich den Winter durch Schnee und Regen gesprungen kam, und Sie fragt: »Wie läufst Du doch über die Gasse?« Und ich sagte, wenn ich die alte Stadt Frankfurt nicht wie einen Hühnerhof traktieren sollte, so würd ich nicht weit in der Welt kommen, und da meinte Sie, mir sei gewiß kein Wasser zu tief und kein Berg zu hoch; und ich dachte damals schon: ja, wenn Weimar der höchste Berg und das tiefste Wasser ist. Jetzt kann ich's Ihr noch besser sagen, daß mein Herz schwer ist und bleiben wird, so lang ich nicht bei ihm bin, und das mag Sie nun in der Ordnung finden oder nicht.

Adieu leb Sie recht wohl. Ich werd nächstens bei Ihr angerutscht kommen.

An Goethes Mutter

Winckel, am 12. Juni


Ein Brief von Ihr macht immer groß Aufsehen unter den Leuten; die möchten gern wissen, was wir uns zu sagen haben, da ich ihnen so unklug vorkomme. Sie kann getrost glauben, ich werd auch nie klug werden. Wie soll ich Klugheit erwerben, mein einsamer Lebenslauf führt nicht dazu. Was hab ich dies Jahr erlebt? – Im Winter war ich krank; dann macht ich ein Schattenspiel von Pappendeckel, da hatten die Katze und der Ritter die Hauptrollen, da hab ich nah an sechs Wochen die Rolle der Katze studiert, sie war keine Philosophin, sonst hätt ich vielleicht profitiert. Im Frühjahr blühte der Orangenbaum in meinem Zimmer; ich ließ mir einen Tisch drum zimmern und eine Bank, und in seinem duftenden Schatten hab ich an meinen Freund geschrieben. Das war eine Lust, die keine Weisheit mir ersetzen konnte. Im Spiegel gegenüber sah ich den Baum noch einmal und wie die Sonnenstrahlen durch sein Laub brachen; ich sah sie drüben sitzen die Braune, Vermessene; an den größten Dichter, an den Erhabenen über alle zu schreiben. Im April bin ich früh drauß gewesen auf dem Wall und hab die ersten Veilchen gesucht und botanisiert, im Mai hab ich fahren gelernt mit zwei Pferd, morgens mit Sonnenaufgang fuhr ich hinaus nach Oberrad, ich spaziert in die Gemüsfelder und half dem Gärtner alles nach der Schnur pflanzen, bei der Milchfrau hab ich mir einen Nelkenflor angelegt, die dunkelroten Nelken sind meine Lieblingsblumen. – Bei solcher Lebensweise, was soll ich da lernen, woher soll ich klug werden? – Was ich Ihrem Sohn schreib, das gefällt ihm, er verlangt immer mehr, und mich macht das selig, denn ich schwelge in einem Überfluß von Gedanken, die meine Liebe, mein Glück ausdrücken, wie es Ihm erquicklich ist. Was ist nun Geist und Klugheit, da der seligste Mensch, wie ich, ihrer nicht bedarf? –

Es war voriges Jahr im Eingang Mai, da ich ihn sah zum erstenmal, da[30] brach er ein junges Blatt von den Reben, die an seinem Fenster hinaufwachsen, und legt's an meine Wange und sagte: »Das Blatt und deine Wange sind beide wollig«; ich saß auf dem Schemel zu seinen Füßen und lehnte mich an ihn, und die Zeit verging im stillen. – Nun, was hätten wir Kluges einander sagen können, was diesem verborgnen Glück nicht Eintrag getan hätte; welch Geisterwort hätte diesen stillen Frieden ersetzt, der in uns blühte? – O wie oft hab ich an dieses Blatt gedacht, und wie er damit mir die Stirne und das Gesicht streichelte, und wie er meine Haare durch die Finger zog und sagte: »Ich bin nicht klug; man kann mich leicht betrügen, du hast keine Ehre davon, wenn du mir was weismachst mit deiner Liebe.« – Da fiel ich ihm um den Hals. – Das alles war kein Geist, und doch hab ich's tausendmal in Gedanken durchlebt und werde mein Leben lang dran trinken wie das Aug das Licht trinkt; – es war kein Geist, und doch überstrahlt es mir alle Weisheit der Welt; – was kann mir sein freundliches Spielen ersetzen? – was den feinen durchdringenden Strahl seines Blicks, der in mein Auge leuchtet? – Ich achte die Klugheit nichts, ich habe das Glück unter anderer Gestalt kennen lernen, und auch was andern weh tut, das kann mir nicht Leid tun, und meine Schmerzen, das wird keiner verstehen.

So hell wie diese Nacht ist! Glanzverhüllt liegen die Berg da mit ihren Rebstöcken und saugen schlaftrunken das nahrhafte Mondlicht. – Schreib Sie bald; ich hab keinen Menschen, dem ich so gern vertraue, denn weil ich weiß, daß Sie mit keinem andern mehr anbindet und abgeschlossen für mich da ist, und daß Sie mit niemand über mich spricht. – Wenn Sie wüßt, wie tief es schon in der Nacht ist! Der Mond geht unter, das betrübt mich. Schreib Sie mir recht bald.

Bettine


Winckel, am 25. Juni


Frau Rat, ich war mit dem Franz auf einer Eisenschmelze, zwei Tag mußt ich in der engen Talschlucht aushalten, es regnete oder vielmehr näßte fortwährend, die Leute sagten: »Ja das sind wir gewohnt, wir leben wie die Fisch, immer naß, und wenn einmal ein paar trockne Tage sind, so juckt einem die Haut, man möchte wieder naß sein.« Ich muß mich besinnen, wie ich Ihr das wunderliche Erdloch beschreibe, wo unter dunklen gewaltigen Eichen die Glut hervorleuchtet, wo an den Bergwänden hinan einzelne Hütten hängen und wo im Dunkel die einzelnen Lichter herüberleuchten und der lange Abend durch eine ferne Schalmei, die immer dasselbe Stückchen hören läßt, recht an den Tag gibt, daß die Einsamkeit hier zu Haus ist, die durch keine Geselligkeit unterbrochen wird. Warum ist denn der Ton einer einsamen Hausflöte, die so vor sich hinbläst, so melancholisch langweilig, daß einem das Herz zerspringen möcht vor Grimm, daß man nicht weiß, wo aus noch ein; ach wie gern möcht man da das Erdenkleid[31] abstreifen und hochfliegen weit in die Lüfte; ja, so eine Schwalbe in den Lüften, die mit ihren Flügeln wie mit einem scharfen Bogen den Äther durchschneidet, die hebt sich weit über die Sklavenkette der Gedanken, ins Unendliche, das der Gedanke nicht faßt. –

Wir wurden in gewaltig große Betten logiert, ich und der Bruder Franz, ich hab viel mit ihm gescherzt und geplaudert, er ist mein liebster Bruder. Am Morgen sagte er ganz mystisch: »Geb einmal acht, der Herr vom Eisenhammer hat ein Hochgericht im Ohr«; ich konnt's nicht erraten; wie sich aber Gelegenheit ergab ins Ohr zu sehen, da entdeckt ich's gleich, eine Spinne hatte ihr Netz ins Ohr aufgestellt, eine Fliege war drin gefangen und verzehrt, und ihre Reste hingen noch im unverletzten Gewebe; daraus wollte der Franz das versteinerte langweilige Leben recht deutlich erkennen, ich aber erkannte es auch am Tintefaß, das so pelzig war und so wenig Flüssiges enthielt. Das ist aber nur die eine Hälfte dieses Lochs der Einsamkeit. Man sollt's nicht meinen, aber geht man langsam in die Runde, so kommt man an eine Schlucht. Am Morgen, wie eben die Sonne aufgegangen war, entdeckte ich sie, ich ging hindurch, da befand ich mich plötzlich auf dem steilen höchsten Rand eines noch tieferen und weiteren Talkessels, sein samtner Boden schmiegt sich sanft an die ebenmäßigen Bergwände, die es rund umgeben und ganz besäet sind mit Lämmer und Schafen; in der Mitte steht das Schäferhaus und dabei die Mühle, die vom Bach, der mitten durchbraust, getrieben wird. Die Gebäude sind hinter uralten himmelhohen Linden versteckt, die grade jetzt blühen, und deren Duft zu mir heraufdampfte und zwischen deren dichtem Laub der Rauch des Schornsteins sich durchdrängte. Der reine blaue Himmel, der goldne Sonnenschein hatte das ganze Tal erfüllt. Ach lieber Gott, säß ich hier und hütete die Schafe und wüßte, daß am Abend einer käm, der meiner eingedenk ist, und ich wartete den ganzen Tag, und die sonneglänzenden Stunden gingen vorüber, und die Schattenstunden mit der silbernen Mondsichel und dem Stern brächten den Freund, der fänd mich an Bergesrand ihm entgegenstürzend in die offne Arme, daß er mich plötzlich am Herzen fühlte mit der heißen Liebe, was wär dann nachher noch zu erleben? Grüß Sie Ihren Sohn und sag Sie ihm, daß zwar mein Leben friedlich und von Sonnenglanz erleuchtet ist, daß ich aber der goldnen Zeit nicht achte, weil ich mich immer nach der Zukunft sehne, wo ich den Freund erwarte. Adieu leb Sie wohl. Bei Ihr ist Mitternacht eine Stunde der Geister, in der Sie es für eine Sünde hält, die Augen offen zu haben, damit Sie keine sieht; ich aber ging eben noch allein in den Garten durch die langen Traubengänge, wo Traube an Traube hängt vom Mondlicht beschienen, und über die Mauer hab ich mich gelehnt und hab hinausgesehen in den Rhein, da war alles still. Aber weiße Schaumwellen zischten, und es patschte immer ans Ufer, und die Wellen lallten wie Kinder. Wenn man so einsam nachts in der freien Natur steht, da ist's, als ob sie ein Geist wär, die den Menschen um Erlösung bäte. Soll vielleicht der[32] Mensch die Natur erlösen? Ich muß einmal darüber nachdenken; schon gar zu oft hab ich diese Empfindung gehabt, als ob die Natur mich jammernd wehmütig um etwas bäte, daß es mir das Herz durchschnitt, nicht zu verstehen, was sie verlangte. Ich muß einmal recht lang dran denken, vielleicht entdeck ich etwas, was über das ganze Erdenleben hinaushebt. Adieu, Fr. Rat, und wenn Sie mich nicht versteht, so denk Sie nur, wie Ihr noch immer in Ihren jetzigen Tagen ein Posthorn, das Sie in der Ferne hört, einen wunderlichen Eindruck macht, ungefähr so ist mir's auch heute.

Bettine

An Bettine

Frankfurt, am 28. Juli


Gestern war Feuer am hellen Tag hier auf der Hauptwach, grad mir gegenüber, es brannte wie ein Blumenstrauß aus dem Gaubloch an der Kathrinenpfort. Da war mein best Pläsier die Gassenbuben mit ihren Reffs auf dem Buckel, die wollten alle retten helfen, der Hausbesitzer wollt nichts retten lassen, denn weil das Feuer gleich aus war, da wollten sie ein Trinkgeld haben, das hat er nicht geben, da tanzten sie und wurden von der Polizei weggejagt. – Es ist viel Gesellschaft zu mir kommen, die wollten alle fragen, wie ich mich befind auf den Schreck, und da mußt ich ihnen immer von vorne erzählen, und das ist jetzt schon drei Täg, daß mich die Leut besuchen und sehen, ob ich nicht schwarz geworden bin vom Rauch. Dein Melinchen war auch da und hat mir ein Brief gebracht von Dir, der ist so klein geschrieben, daß ich ihn hab müssen vorlesen lassen, rat einmal von wem? –

Die Meline ist aber einmal schön, ich hab gesagt, die Stadt sollt sie malen lassen und sollt sie auf dem Ratsaal hängen, da könnten die Kaiser sehen, was ihre gute Stadt für Schönheiten hat. Deine Brüder sind aber auch so schön, ich hab meiner Lebtag keine so schöne Menschen gesehen als den George, der sieht aus wie ein Herzog von Mailand, und alle andern Menschen müssen sich schämen mit ihren Fratzengesichtern neben ihm. – Adieu und grüß auch die Geschwister von Deiner Freundin

Goethe

An Bettine

Da kommt der Fritz Schlosser aus dem Rheingau und bringt nur drei geschnittne Federn von Dir und sagt: er hätt geschworen, daß er mir keine Ruh lassen will, ich müßt schreiben, wer's gewesen ist, der Deinen Brief gelesen hat. – Was hat's denn für Not, wer sollt's denn gewesen sein? – In Weimar ist alles ruhig und auf dem alten Fleck. Das schreiben die Zeitungen schon allemal voraus, lang eh es wahr ist, wenn mein[33] Sohn zu einer Reis Anstalt macht, der kommt einem nicht mit der Tür ins Haus gefallen. Da sieht man aber doch recht, daß Dein Herz Deinem Kopf was weismacht. Herz, was verlangst du? – Das ist ein Sprichwort, und wenn es sagt, was es will, so geht's wie in einem schlechten Wirtshaus, da haben sie alles, nur keine frische Eier, die man grad haben will. Adieu, das hab ich bei der Nachtlamp geschrieben.

Ich bin Dir gut

Katharina Goethe


Das hätt ich bald vergessen zu schreiben, wer mir Deinen Brief gelesen hat, das war der Pfarrer Hufnagel, der wollt auch sehen, was ich mach nach dem Schreck mit dem Feuer, ich sagt: »Ei, Herr Pfarrer, ist denn der Kathrine-Turm grad so groß, daß er mir auf die Nas fällt, wenn er umstürzt?« – Da hat er gesessen mit seinem dicken Bauch im schwarzen Talar mit dem runden weißen Kragen in doppelten Falten, mit der runden Stutzperück und den Schnallenschuh auf Deiner Schawell, und hat den Brief gelesen, hätt's mein Sohn gesehen, er hätt gelacht.

Katharina Goethe


Frau Mutter, ich danke Ihr für die zwei Brief hintereinander, das war einmal gepflügt, recht durch schweres Erdreich, man sieht's, die Schollen liegen nebenan, wie dick; gewiß, das sind der Lieschen ihre Finger gewesen, mit denen Sie die Furchen gezogen hat, die sind recht krumm, was mich wundert, das ist, daß ich Ihr so gern schreib, daß ich keine Gelegenheit versäum, und alles, was mir begegnet, prüf ich, ob es nicht schön wär ihr zu schreiben, das ist weil ich doch nicht alles und fortwährend an den Wolfgang schreiben kann, ich hab ihm gesagt in Weimar: wenn ich dort wohnte, so wollt ich als nur die Sonn- und Feiertäg zu ihm kommen und nicht alle Tag, das hat ihn gefreut; so mein ich, daß ich auch nicht alle Tag an ihn schreiben darf, aber er hat mir gesagt: »Schreib alle Tag, und wenn's Folianten wären, es ist mir nicht zu viel«, aber ich selbst bin nicht alle Tag in der Stimmung, manchmal denke ich so geschwind, daß ich's gar nicht schreiben kann, und die Gedanken sind so süß, daß ich gar nicht abbrechen kann, um zu schreiben, noch dazu mag ich gern grade Linien und schöne Buchstaben machen, und das hält im Denken auf, auch hab ich ihm manches zu sagen, was schwer auszusprechen ist, und manches hab ich ihm mitzuteilen, was nie ausgesprochen werden kann; da sitz ich oft Stunden und seh in mich hinein und kann's nicht sagen, was ich seh, aber weil ich im Geist mich mit ihm zusammen fühl, so bleib ich gern dabei, und ich komme mir vor wie eine Sonnenuhr, die grad nur die Zeit angibt, solang die Sonne sie bescheint. Wenn meine Sonne mich nicht mehr anlächelt, dann wird man auch die Zeit nicht mehr an mir erkennen;[34] es sollte einer sagen ich leb, wenn er mich nicht mehr lieb hat; das Leben, was ich jetzt führ, davon hat keiner Verstand, an der Hand führt mich der Geist einsame Straßen, er setzt sich mit mir nieder am Wassersrand, da ruht er mit mir aus, dann führt er mich auf hohe Berge; da ist es Nacht, da schauen wir in die Nebeltale, da sieht man den Pfad kaum vor den Füßen, aber ich geh mit, ich fühl, daß er da ist, wenn er auch vor meinen leiblichen Augen verschwindet, und wo ich geh und steh, da spür ich sein heimlich Wandeln um mich, und in der Nacht ist er die Decke, in die ich mich einhülle, und am Morgen ist er es, vor dem ich mich verhülle, wenn ich mich ankleide, niemals mehr bin ich allein, in meiner einsamen Stube fühl ich mich verstanden und erkannt von diesem Geist; ich kann nicht mit lachen, ich kann nicht mit Komödie spielen, die Kunst und die Wissenschaft, die lasse ich fahren; noch vor einem halben Jahr, da wollt ich Geschichte studieren und Geographie, es war Narrheit. Wenn die Zeit, in der wir leben, erst recht erfüllt wär mit der Geschichte, so daß einer alle Hände voll zu tun hätt, um nur der Geschichte den Willen zu tun, so hätt er keine Zeit, um nach den vermoderten Königen zu fragen, so geht mir's, ich hab keine Zeit, ich muß jeden Augenblick mit meiner Liebe verleben. Was aber die Geographie anbelangt, so hab ich einen Strich gemacht mit roter Tinte auf die Landkart. Der geht von wo ich bin bis dahin, wo es mich hinzieht, das ist der rechte Weg, alles andre sind Irr- und Umwege. Das ganze Firmament mit Sonne, Mond und Sterne gehören bloß zur Aussicht meiner Heimat. Dort ist der fruchtbare Boden, in den mein Herz die harte Rinde sprengt und ins Licht hinaufblüht.

Die Leute sagen: Was bist du traurig, sollt ich vergnügt sein? – Oder dies oder jenes? – Wie paßt das zu meinem innern Leben? Ein jedes Betragen hat seine Ursache, das Wasser wird nicht lustig dahin tanzen und singen, wenn sein Bett nicht dazu gemacht ist. So werd ich nicht lachen, wenn nicht eine geheime Lust der Grund dazu ist; ja ich habe Lust im Herzen, aber sie ist so groß, so mächtig, daß sie sich nicht ins Lachen fügen kann, wenn es mich aus dem Bett aufruft vor Tag und ich zwischen den schlafenden Pflanzen bergauf wandle, wenn der Tau meine Füße wäscht und ich denk demütig, daß es der Herr der Welten ist, der meine Füße wäscht, weil er will, ich soll rein sein von Herzen, wie er meine Füße vom Staub reinigt; wenn ich dann auf des Berges Spitze komme und übersehe alle Lande im ersten Strahl der Sonne, dann fühl ich diese mächtige Lust in meiner Brust sich ausdehnen, dann seufz ich auf und hauch die Sonne an zum Dank, daß sie mir in einem Bild erleuchte, was der Reichtum, der Schmuck meines Lebens ist, denn was ich sehe, was ich verstehe, es ist alles nur Widerhall meines Glückes.

Adieu, läßt Sie sich den Brief auch vom Pfarrer vorstudieren? – Ich hab ihn doch mit ziemlich großen Buchstaben geschrieben. Hat dann in meinem letzten Brief etwas gestanden, daß ich so einen heißen Durst hab, und daß ich mondsüchtig bin, oder so was? – Wie kann Sie ihm denn das[35] lesen lassen? Sie wirft ihm ja seinen gepolsterten Betschemel um, in seinem Kopf. Die Bettine hat Kopfweh schon seit drei Tage, und heut liegt sie im Bett und küßt ihrer Frau Rat die Hand.

An Bettine

Werd mir nicht krank, Mädchen, steh auf aus Deinem Bett und nimm's, und wandle. So hat der Herr Christus gesagt zum Kranken, das sag ich Dir auch, Dein Bett ist Deine Liebe, in der Du krank liegst, nimm sie zusammen und erst am Abend breite sie aus, und ruhe in ihr, wenn Du des Tages Last und Hitze ausgestanden hast. – Da hat mein Sohn ein paar Zeilen geschrieben, die schenk ich Dir, sie gehören dem Inhalt nach Dein.

Der Prediger hat mir Deinen Brief vorgerumpelt wie ein schlechter Postwagen auf holperigem Weg, da schmeißt alles Passagiergut durcheinander; Du hast auch Deine Gedanken so schlecht gepackt, ohne Komma, ohne Punkt, daß, wenn es Passagiergut wär, keiner könnt das seinige herausfinden; ich hab den Schnupfen und bin nicht aufgelegt, hätt ich Dich nicht so lieb, so hätt ich nicht geschrieben, wahr Deine Gesundheit.

Ich sag allemal, wenn die Leut fragen, was Du machst: sie fängt Grillen, und das wird Dir auch gar nicht sauer, bald ist's ein Nachtvogel, der Dir an der Nas vorbeifliegt, dann hast Du um Mitternacht, wo alle ehrliche Leute schlafen, etwas zu bedenken, und marschierst durch den Garten an den Rhein in der kalten feuchten Nachtluft, Du hast eine Natur von Eisen und eine Einbildung wie eine Rakett, wie die ein Funken berührt, so platzt sie los. Mach, daß Du bald wieder nach Haus kommst. Mir ist nicht heuer wie's vorige Jahr, manchmal krieg ich Angst um Dich, und an den Wolfgang muß ich stundenlang denken, immer wie er ein klein Kind war und mir unter den Füßen spielte, und dann wie er mit seinem Bruder Jacob so schön gespielt hat, und hat ihm Geschichten gemacht; ich muß einen haben, dem ich's erzähl, die andern hören mir alle nicht so zu wie Du; ich wollt wirklich wünschen, die Zeit wär vorbei und Du wärst wieder da.

Adieu, mach, daß Du kommst, ich hab alles so hell im Gedächtnis, als ob's gestern passiert wär, jetzt kann ich Dir die schönsten Geschichten vom Wolfgang erzählen, und ich glaub, Du hast mich angesteckt, ich mein immer, das wär kein rechter Tag, an dem ich nichts von ihm gesprochen hab.

Deine Freundin Goethe

Liebe Frau Rat!

Ich war in Köln, da hab ich den schönen Krug gekauft, schenk Sie ihn Ihrem Sohn von sich, das wird ihr besser Freud machen, als wenn ich Ihr[36] ihn schenkte. Ich selbst mag ihm nichts schenken, ich will nur von ihm nehmen.

Köln ist recht wunderlich, alle Augenblick hört man eine andre Glocke läuten, das klingt hoch und tief, dumpf und hell von allen Seiten untereinander. Da spazieren Franziskaner, Minoriten, Kapuziner, Dominikaner, Benediktiner aneinander vorbei, die einen singen, die andern brummen eine Litanei, und wenn sie aneinander vorbeikommen, da begrüßen sie sich mit ihren Fahnen und Heiligtümern und verschwinden in ihren Klöstern. Im Dom war ich grade bei Sonnenuntergang, da malten sich die bunten Fensterscheiben durch die Sonn auf dem Boden ab, ich kletterte überall in dem Bauwerk herum und wiegte mich in den gesprengten Bögen.

Fr. Rat, das wär Ihr recht gefährlich vorgekommen, wenn Sie mich vom Rhein aus in einer solchen gotischen Rose hätte sitzen sehen; es war auch gar kein Spaß; ein paarmal wollte mich Schwindel antreten, aber ich dachte: sollte der stärker sein wollen wie ich? – Und expreß wagt ich mich noch weiter. Wie die Dämmerung eintrat, da sah ich in Deutz eine Kirche mit bunten Scheiben von innen illuminiert, da tönte das Geläut herüber, der Mond trat hervor und einzelne Sterne. Da war ich so allein, rund um mich zwitscherte es in den Schwalbennestern, deren wohl Tausende in den Gesimsen sind, auf dem Wasser sah ich einzelne Segel sich blähen. Die andern hatten unterdessen den ganzen Kirchbau examiniert, alle Monumente und Merkwürdigkeiten sich zeigen lassen. Ich hatte dafür einen stillen Augenblick, in dem meine Seele gesammelt war, und die Natur, auch alles, was Menschenhände gemacht haben und mich mit, in die feierliche Stimmung des im Abendrot glühenden Himmels einschmolz. – Versteh Sie das oder versteh Sie es nicht, es ist mir einerlei. Ich muß Sie freilich mit meinen übersichtigen Grillen behelligen, wem sollt ich sie sonst mitteilen!

Das ist auch noch eine Merkwürdigkeit von Köln; die Betten, die so hoch sind, daß man einen Anlauf nehmen muß, um hineinzukommen; man kann immer zwei, drei Versuche machen, ehe einer glückt; ist man erst drin, wie soll man da wieder herauskommen? Ich dachte, hier ist gut sein, denn ich war müde, und hatte mich schon den ganzen Tag auf meine Träume gefreut, was mir die bescheren würden; da kam mir auch auf ihrem goldnen Strom ein Kahn beladen und geschmückt mit Blumen aus dem Paradies entgegen, und ein Apfel, den mir der Geliebte schickte, den hab ich auch gleich verzehrt.

Wir haben am Sonntag so viel Rumpelkammern durchsucht, Altertümer, Kunstschätze betrachtet, ich hab alles mit großem Interesse gesehen. Ein Humpen, aus dem die Kurfürsten gezecht, ist schön, mit vier Henkel, auf denen sitzen Nymphen, die ihre Füße im Wein baden, mit goldnen Kronen auf dem Kopf, die mit Edelsteinen geziert sind; um den Fuß windet sich ein Drache mit vier Köpfen, die die vier Füße bilden, worauf das[37] Ganze steht; die Köpfe haben aufgesperrte Rachen, die inwendig vergoldet sind, auf dem Deckel ist Bacchus von zwei Satyrn getragen, er ist von Gold und die Satyrn von Silber. So haben auch die Nymphen emaillierte Gewande an. Der Trinkbecher ist von Rubinglas, und das Laubwerk, was zwischen den Figuren sich durchwindet, ist sehr schön von Silber und Gold durcheinander geflochten. – Dergleichen Dinge sind viel, ich wollt Ihr bloß den einen beschreiben, weil er so prächtig ist, und weil Ihr die Pracht wohlgefällt.

Adieu, Frau Rat! – Zu Schiff kamen wir herab, und zu Wagen fuhren wir wieder zurück nach Bonn.

Bettine

Frau Rat!

Winckel


Ich will nicht lügen: wenn Sie die Mutter nicht wär, die Sie ist, so würd ich auch nicht bei Ihr schreiben lernen. Er hat gesagt, ich soll ihn vertreten bei Ihr und soll Ihr alles Liebe tun, was er nicht kann, und soll sein gegen Sie, als ob mir all die Liebe von Ihr angetan war, die er nimmer vergißt. – Wie ich bei ihm war, da war ich so dumm und fragte, ob er Sie liebhabe, da nahm er mich in seinen Arm und drückte mich ans Herz und sagte: »Berühr eine Saite und sie klingt, und wenn sie auch in langer Zeit keinen Ton gegeben hätte.« Da waren wir still und sprachen nichts mehr hiervon, aber jetzt hab ich sieben Briefe von ihm, und in allen mahnt er mich an Sie; in einem sagt er: »Du bist immer bei der Mutter, das freut mich; es ist, als ob der Zugwind von daher geblasen habe, und jetzt fühl ich mich gesichert und warm, wenn ich Deiner und der Mutter gedenke;« ich hab ihm dagegen erzählt, daß ich Ihr mit der Schere das Wachstuch auf dem Tisch zerschnitten hab, und daß Sie mir auf die Hand geschlagen hat und hat gesagt: »Grad wie mein Sohn – auch alle Unarten hast du von ihm!« –

Von Bonn kann ich nichts erzählen, da war's wieder einmal so, daß man alles empfindet, aber nichts dabei denkt; wenn ich mich recht besinne, so waren wir im botanischen Garten, grad wie die Sonn unterging; alle Pflanzen waren schon schlaftrunken, die Siebenberg waren vom Abendrot angehaucht, es war kühl, ich wickelte mich in den Mantel und setzt mich auf die Mauer, mein Gesicht war vom letzten Sonnenstrahl vergoldet, besinnen mocht ich mich nicht, das hätt mich traurig gemacht in der gewaltigen verstummten Natur. Da schlief ich ein, und da ich erwachte (ein großer Käfer hat mich geweckt), da war's Nacht und recht kalt. Am andern Tag sind wir wieder hier eingetroffen.

Adieu, Fr. Rat, es ist schon so spät in der Nacht, und ich kann gar nicht schlafen.

Bettine[38]

An Bettine

21. September


Das kann ich nicht von Dir leiden, daß Du die Nachte verschreibst und nicht verschläfst, das macht Dich melancholisch und empfindsam, wollt ich drauf antworten, bis mein Brief ankäm da ist schon wieder ander Wetter. Mein Sohn hat gesagt: was einem drückt, das muß man verarbeiten, und wenn er ein Leid gehabt hat, da hat er ein Gedicht draus gemacht. – Ich hab Dir gesagt, Du sollst die Geschichte von der Günderode aufschreiben, und schick sie nach Weimar, mein Sohn will es gern haben, der hebt sie auf, dann drückt sie Dich nicht mehr.

Der Mensch wird begraben in geweihter Erde, so soll man auch große und seltne Begebenheiten begraben in einem schönen Sarg der Erinnerung, an den ein jeder hintreten kann und dessen Andenken feiern. Das hat der Wolfgang gesagt, wie er den Werther geschrieben hat; tu es ihm zulieb und schreib's auf.

Ich will Dir gern schreiben, was meine arme Feder vermag, weil ich Dir Dank schuldig bin; eine Frau in meinem Alter, und ein junges feuriges Mädchen, das lieber bei mir bleibt und nach nichts anderm frägt, ja das ist dankenswert; ich hab's nach Weimar geschrieben. Wann ich ihm von Dir schreib, da antwortet er immer auf der Stell; er sagt, daß Du bei mir aushältst, das sei ihm ein Trost. – Adieu, bleib nicht zu lang im Rheingau; die schwarzen Felswände, an denen die Sonne abprallt, und die alten Mauern, die machen Dich melancholisch.

Deine Freundin Elisabeth


Der Moritz Bethmann hat mir gesagt, daß die Staël mich besuchen will; sie war in Weimar, da wollt ich, Du wärst hier, da werd ich mein Französisch recht zusammennehmen müssen.

An Goethes Mutter

Diesmal hat Sie mir's nicht recht gemacht, Frau Rat; warum schickt Sie mir Goethes Brief nicht? – Ich hab seit dem 13. August nichts von ihm, und jetzt haben wir schon Ausgang September. Die Staël mag ihm die Zeit verkürzt haben, da hat er nicht an mich gedacht. Eine berühmte Frau ist was Kurioses, keine andre kann sich mit ihr messen, sie ist wie Branntwein, mit dem kann sich das Korn auch nicht vergleichen, aus dem er gemacht ist. So Branntwein bitzelt auf der Zung' und steigt in den Kopf, das tut eine berühmte Frau auch; aber der reine Weizen ist mir doch lieber, den säet der Säemann in die gelockerte Erd, die liebe Sonne und der fruchtbare Gewitterregen locken ihn wieder heraus, und dann übergrünt er die Felder und trägt goldne Ähren, da gibt's zuletzt noch ein[39] lustig Erntefest; ich will doch lieber ein einfaches Weizenkorn sein als eine berühmte Frau, und will auch lieber, daß Er mich als tägliches Brot breche, als daß ich ihm wie ein Schnaps durch den Kopf fahre. – Jetzt will ich Ihr nur sagen, daß ich gestern mit der Staël zu Nacht gegessen hab in Mainz; keine Frau wollt neben ihr sitzen bei Tisch, da hab ich mich neben sie gesetzt; es war unbequem genug, die Herren standen um den Tisch und hatten sich alle hinter uns gepflanzt, und einer drückte auf den andern, um mit ihr zu sprechen und ihr ins Gesicht zu sehen; sie bogen sich weit über mich; ich sagte: »Vos adorateurs me suffoquent«, sie lachte. – Sie sagte, Goethe habe mit ihr von mir gesprochen; ich blieb gern sitzen, denn ich hätte gern gewußt, was er gesagt hat, und doch war mir's unrecht, denn ich wollt lieber, er spräch mit niemand von mir; und ich glaub's auch nicht, – sie mag nur so gesagt haben; – es kamen zuletzt so viele, die alle über mich hinaus mit ihr sprechen wollten, daß ich's gar nicht länger konnte aushalten; ich sagt ihr: »Vos lauriers me pèsent trop fort sur les épaules.« Und ich stand auf und drängt mich zwischen den Liebhabern durch; da kam der Sismondi, ihr Begleiter, und küßt mir die Hand, und sagte, ich hätte viel Geist, und sagt's den andern, und sie repetierten es wohl zwanzigmal, als wenn ich ein Prinz wär, von denen findet man auch immer alles so gescheit, wenn es auch das Gewöhnlichste wär. – Nachher hört ich ihr zu, wie sie von Goethe sprach; sie sagte, sie habe erwartet, einen zweiten Werther zu finden, allein sie habe sich geirrt, sowohl sein Benehmen wie auch seine Figur passe nicht dazu, und sie bedauerte sehr, daß er ihn ganz verfehle; Fr. Rat, ich wurd zornig über diese Reden (»das war überflüssig«, wird Sie sagen), ich wendt mich an Schlegel und sagt ihm auf deutsch: »Die Frau Staël hat sich doppelt geirrt, ein mal in der Erwartung, und dann in der Meinung; wir Deutschen erwarten, daß Goethe zwanzig Helden aus dem Ärmel schütteln kann, die den Franzosen so imponieren; wir meinen, daß er selbst aber noch ein ganz andrer Held ist.« – Der Schlegel hat unrecht, daß er ihr keinen bessern Verstand hierüber beigebracht hat. Sie warf ein Lorbeerblatt, womit sie gespielt hatte, auf die Erde; ich trat drauf und schubste es mit dem Fuß auf die Seite und ging fort. – Das war die Geschicht mit der berühmten Frau; hab Sie keine Not mit ihrem Französisch, sprech Sie die Fingersprach mit ihr und mache Sie den Kommentar dazu mit ihren großen Augen, das wird imponieren; die Staël hat ja einen ganzen Ameisenhaufen Gedanken im Kopf, was soll man ihr noch zu sagen haben? Bald komm' ich nach Frankfurt, da können wir's besser besprechen.

Hier ist's sehr voll von Rheingästen; wenn ich morgens durch den dicken Nebel einen Nachen hervorstechen seh, da lauf ich ans Ufer und wink mit dem Schnupftuch, immer sind's Freunde oder Bekannte; vor ein paar Tagen waren wir in Notgottes, da war eine große Wallfahrt, der ganze Rhein war voll Nachen, und wenn sie anlandeten, ward eine Prozession draus und wanderten singend, eine jede ihr eigen Lied, nebeneinander[40] hin; das war ein Schariwari, mir war angst, es möcht unserm Herrgott zu viel werden; so kam's auch: er setzte ein Gewitter dagegen und donnerte laut genug, sie haben ihn übertäubt, aber der gewaltige Regenguß hat die lieben Wallfahrer auseinandergejagt, die da im Gras lagen, wohl Tausende, und zechten; – ich hab grad keinen empfindsamen Respekt vor der Natur, aber ich kann's doch nicht leiden, wenn sie so beschmutzt wird mit Papier und Wurstzipfel und zerbrochnen Tellern und Flaschen, wie hier auf dem großen grünen Plan, wo das Kreuz zwischen Linden aufgerichtet steht, wo der Wandrer, den die Nacht überrascht, gern Nachtruhe hält und sich geschützt glaubt durch den geweihten Ort. – Ich kann Ihr sagen, mir war ganz unheimlich; ich bin heut noch kaputt. Ich seh lieber die Lämmer auf dem Kirchhof weiden als die Menschen in der Kirch; und die Lilien auf dem Feld, die, ohne zu spinnen, doch vom Tau genährt sind, – als die langen Prozessionen drüber stolpern und sie im schönsten Flor zertreten. Ich sag Ihr gute Nacht, heut hab ich bei Tag geschrieben.

Bettine

Kostbare Pracht- und Kunstwerke, in Köln und auf der Reise dahin gesehen und für meine liebste Fr. Rat beschrieben

Geb Sie Achtung, damit Sie es recht versteht, denn ich hab schon zweimal vergeblich versucht, eine gutgeordnete Darstellung davon zu machen.

Ein großer Tafelaufsatz, der mir die ganze Zeit im Kopf herumspukt, und den mir deucht im großen Bankettsaal der kurfürstlichen Residenz gesehen zu haben; er besteht aus einer ovalen, fünf bis sechs Fuß langen kristallenen Platte, einen See vorstellend, in Wellen sanft geschliffen, die sich gegen die Mitte hin mehr und mehr heben und endlich ganz hoch steigen, wo sie einen silbernen Fels mit einem Throne umgeben, auf welchem die Venus sitzt; sie hat ihren Fuß auf den Rücken eines Tritonen gestemmt, der einen kleinen Amor auf den Händen balanciert; rundum spritzt silberner Schaum, auf den höchsten Wellen umher reiten mutige Nymphen, sie haben Ruder in Händen, um die Wellen zu peitschen, ihre Gewande sind emailliert, meistens blaßblau oder seegrün, auch gelblich; sie scheinen in einem übermütigen jauchzenden Wassertanz begriffen; etwas tiefer silberne Seepferde, von Tritonen gebändigt und zum Teil beritten; alles in Silber und Gold getrieben mit emaillierten Verzierungen. Wenn man in den hohlen Fels Wein tut, so spritzt er aus Röhrchen in regelmäßigen feinen Strahlen rund um die Venus empor und fließt in ein verborgenes Becken unter dem Fels; das ist die hohe Mittelgruppe. Näher am Ufer liegen bunte Muscheln zwischen den Wellen und emaillierte Wasserlilien; aus ihren Kelchen steigen kleine Amoretten empor, die mit gespanntem Bogen einander beschießen, zwischendurch flüchten Seeweibchen mit Fischschweifen, von Seemännchen mit spitzen[41] Bärten verfolgt und an ihren Schilfkränzen erhascht oder mit Netzen eingefangen. Auf der andern Seite sind Seeweibchen, die einen kleinen Amor in der Luft gefangen halten und ihn unter die Wellen ziehen wollen, er wehrt sich und stemmt sein Füßchen der einen auf die Brust, während die andere ihn an den bunten Flügeln hält; diese Gruppe ist ganz köstlich und sehr lustig; der Amor ist schwarz von Ambra, die Nymphen sind von Gold mit emaillierten Kränzen. Die Gruppen sind verteilt in beiden Halbovalen, alles emailliert mit blau, grün, rot, gelb, lauter helle Farben; viele Seeungeheuer gucken zwischen den kristallnen Wellen hervor mit aufgesperrten Rachen; sie schnappen nach den fliehenden Nymphen, und so ist ein buntes Gewirr von lustiger glitzernder Pracht über das Ganze verbreitet, aus dessen Mitte der Fels mit der Venus emporsteigt; am einen Ende der Platte, wo sonst gewöhnlich die Hand habe ist, sitzt etwas erhaben gegen den Zuschauer der berühmte Zyklop Polyphem, der die Galatee in seinen Armen gefangen hält; er hat ein großes Aug auf der Stirn, sie sieht schüchtern herab auf die Schafherde, die zu beiden Seiten gelagert ist, wodurch die Gruppe sich in einen sanften Bogen mit zwei Lämmern, welche an beiden Enden liegen und schlafen, abschließt. Jenseits sitzt Orpheus, auch gegen die Zuschauer gewendet; er spielt die Leier, ein Lorbeerbaum hinter ihm, auf dessen ausgebreiteten goldnen Zweigen Vögel sitzen; Nymphen haben sich herbeigeschlichen mit Rudern in der Hand, sie lauschen; dann sind noch allerlei Seetiere bis auf zwei Delphine, die auf beiden Seiten die Gruppe wie jenseits in einem sanften Bogen abschließen; sehr hübsch ist ein kleiner Affe, der sich einen Sonnenschirm von einem Blatt gemacht hat, zu Orpheus Füßen sitzt und ihm zuhört. – Das ist, wie Sie leicht denken kann, ein wunderbares Prachtstück; es ist sehr reich und doch erhaben; und ich könnte Ihr noch eine halbe Stunde über die Schönheit der einzelnen Figuren vorschwätzen. Gold und Silber macht mir den Eindruck von etwas Heiligem; ob dies daher kommt, weil ich im Kloster immer die goldnen und silbernen Meßgeschirre und den Kelch gewaschen habe, den Weihrauchkessel geputzt und die Altarleuchter vom abträufelnden Wachs gereinigt, alles mit einer Art Ehrfurcht berührt habe? Ich kann Ihr nur sagen, daß uns beim Betrachten dieses reichen und künstlichen Werkes eine feierliche Stimmung befiel.

Jetzt beschreib ich Ihr aber noch etwas Schönes, das gefällt mir in der Erinnerung noch besser, und die Kunstkenner sagen auch, es habe mehr Stil; das ist so ein Wort, wenn ich frage, was es bedeutet, sagt man: »Wissen Sie nicht, was Stil ist?« – Und damit muß ich mich zufrieden geben, hierbei hab ich's aber doch ausgedacht. Alles große Edle muß einen Grund haben, warum es edel ist: wenn dieser Grund rein ohne Vorurteil, ohne Pfuscherei von Nebendingen und Absichten, die einzige Basis des Kunstwerks ist: das ist der reine Stil. Das Kunstwerk muß grade nur das ausdrücken, was die Seele erhebt und edel ergötzt und nicht mehr. Die Empfindung[42] des Künstlers muß allein darauf gerichtet sein, das übrige ist falsch. In den kleinen Gedichten vom Wolfgang ist die Empfindung aus einem Guß, und was er da ausspricht, das erfüllt reichlich eines jeden Seele mit derselben edlen Stimmung. In allen liegt es, ich will Ihr aber nur dies kleinste zitieren, das ich so oft mit hohem Genuß in den einsamen Wäldern gesungen habe, wenn ich allein von weitem Spazierwege nach Hause ging.


Der du von dem Himmel bist,

Alles Leid und Schmerzen stillest,

Den, der doppelt elend ist,

Doppelt mit Erquickung füllest:

Ach, ich bin des Treibens müde,

Was soll all der Schmerz und Lust? –

Süßer Friede!

Komm, ach komm in meine Brust.


Im Kloster hab ich viel predigen hören, über den Weltgeist und die Eitelkeit aller Dinge, ich habe selbst den Nonnen die Legende jahraus jahrein vorgelesen, weder der Teufel noch die Heiligen haben bei mir Eindruck gemacht, ich glaub, sie waren nicht vom reinen Stil; ein solches Lied aber erfüllt meine Seele mit der lieblichsten Stimmung, keine Mahnung, keine weise Lehren könnten mir je so viel Gutes einflößen; es befreit mich von aller Selbstsucht, ich kann andern alles geben und gönne ihnen das beste Glück, ohne für mich selbst etwas zu verlangen; das macht, weil es vom reinen edlen Stil ist. So könnte ich noch manches seiner Lieder hersetzen, die mich über alles erheben und mir einen Genuß schenken, der mich in mir selber reich macht. Das Lied: Die schöne Nacht, hab ich wohl hundertmal dies Jahr auf spätem Heimweg gesungen:


Luna bricht durch Busch und Eichen,

Zephyr meldet ihren Lauf,

Und die Birken streun mit Neigen

Ihr den schönsten Weihrauch auf.


Wie war ich da glücklich und heiter in diesem Frühjahr, wie die Birken während meinem Gesang rund um mich her der eilenden Luna wirklich ihren duftenden Weihrauch streuten. Es soll mir keiner sagen, daß reiner Genuß nicht Gebet ist. Aber in der Kirche ist's mir noch nimmer gelungen, da hab ich geseufzt vor schwerer Langenweile, die Predigt war wie Blei auf meinen Augenlidern. O je, wie war mir leicht, wenn ich aus der Klosterkirche in den schönen Garten springen konnte, da war mir der geringste Sonnenstrahl eine bessre Erleuchtung als die ganze Kirchengeschichte.

Das zweite Kunstwerk, welches ich Ihr beschreibe, ist ein Delphin aus einem großen Elefantenzahn gemacht; er sperrt seinen Rachen auf, in den ihm zwei Amoretten das Gebiß einlegen; ein andrer, der auf dem Nacken des Delphins sitzt, nimmt von beiden Seiten den Zaum; auf der Mitte des[43] Rückens liegt ein goldner Sattel mit einem Sitz von getriebener Arbeit, welches Laubwerk von Weinreben vorstellt; inmitten desselben steht Bacchus von Elfenbein; ein schöner, zarter, schlanker Jüngling mit goldnen Haaren und einer phrygischen Mütze auf; er hat die eine Hand in die Seite gestemmt, mit der andern hält er einen goldnen Rebstock, der unter dem Sattel hervorkommt und ihn mit schönem, feinem Laub überdacht; auf beiden Seiten des Sattels sind zwei Muscheln angebracht wie Tragkörbe, darin sitzen zwei Nymphen von Elfenbein in jedem und blasen auf Muscheln; die breiten Floßfedern, so wie der Schwanz des Fisches sind von Gold und Silber gearbeitet; unmittelbar hinter dem Sattel schlängelt sich der Leib des Fisches aufwärts, als ob er mit dem Schweif in die Lüfte schnalze; auf dem Bug desselben sitzt ein zierliches Nymphchen und klatscht in die Hände; dieses kommt etwas höher zu stehen und sieht über die Gruppe des Bacchus herüber; die Floßfedern des Schweifes bilden ein zierliches Schattendach über der Nymphe; der Rachen des Fisches ist inwendig von Gold; man kann ihn auch mit Wein füllen, der dann in zwei Strahlen aus seinen Nüstern emporspringt; man stellte dieses Kunstwerk bei großen Festen in einem goldnen Becken auf den Nebentischen auf. Dieses ist nun ein Kunstwerk vom erhabenen Stil, und ich kann auch sagen, daß es mich ganz mit stummer heiliger Ehrfurcht erfüllte. Noch viele dergleichen sind da; alles hat Bezug auf den Rhein, unter andern ein Schiff von Zedernholz, so fein gemacht, mit schönen Arabesken; ein Basrelief umgibt den Oberteil des Schiffes, auf dessen Verdeck die drei Kurfürsten von Köln, Mainz und Trier sitzen und zechen; Knappen stehen hinter ihnen mit Henkelkrügen. Dies hat mir nicht so viel Freud gemacht, obschon viel Schönes daran ist, besonders die Glücksgöttin, die am Vorderteil des Schiffes angebracht ist.

Ich beschreib Ihr noch einen Humpen, das ist ein wahres Meisterstück und stellt eine Kelter vor. In der Mitte steht ein hohes Faß, das ist der eigentliche Humpen; auf beiden Seiten klettern in zierlichen Verschlingungen Knaben hinauf mit Butten voll Trauben über die Schultern von Männern, um an den Rand zu gelangen und ihre Trauben auszuschütten; in der Mitte, als Knopf des Deckels, der etwas tief in den Rand des Humpens paßt, steht Bacchus mit zwei Tigern, die an ihm hinanspringen; er ist im Begriff, die Trauben, deren gehäufte Menge mit einzelnen Ranken dazwischen, den Deckel bilden, mit den Füßen zu keltern. Die Knaben, die von allen Seiten herüberreichen, um ihre Gefäße mit Trauben auszuleeren, bilden einen wunderschönen Rand; die starken Männer am Fuß der Kelter, die die kleinen Knaben auf ihre Schultern heben und auf mannigfache Weise heraufhelfen, sind ganz außerordentlich herrlich, nackt, einem oder dem andern hängt ein Tigerfell über dem Rücken, sonst ganz ungeniert. Am Humpen sieht man auf einer Seite das Mainzer Wappen, auf der andern das von Köln.

Der ganze Humpen steht auf einem Aufsatz, der wie ein sanfter Hügel gestaltet[44] ist; auf diesem sitzen und liegen Nymphen im Kreis; sie spielen mit Tamburinen, Becken, Triangel, andre liegen und balgen sich mit Leoparden, die ihnen über die Köpfe springen; es ist gar zu schön. – Das hab ich Ihr nun beschrieben, aber hätte Sie es erst gesehen, Sie würde vor Verwunderung laut aufgeschrieen haben. Was überfällt einem nur, wenn man so etwas von Menschenhänden gemacht sieht? Mir rauchte der Kopf, und ich meinte in der trunkenen Begeistrung, ich werde keine Ruhe finden, wenn ich nicht auch solche schöne Sachen erfinden und machen könne. Aber wie ich hinauskam und es war Abend geworden und die Sonne ging so schön unter, da vergaß ich alles, bloß um mit den letzten Strahlen der Sonne meine Sinne in dem kühlen Rhein zu baden.

Eine Mutter gibt sich alle erdenkliche Mühe, ihr kleines unverständiges Kindchen zufriedenzustellen, sie kommt seinen Bedürfnissen zuvor und macht ihm aus allem ein Spielwerk; wenn es nun auf nichts hören will und mit nichts sich befriedigen läßt, so läßt sie es seine Unart ausschreien, bis es müde ist, und dann sucht sie es wieder von neuem mit dem Spielwerk vertraut zu machen. Das ist grade, wie es Gott mit den Menschen macht, er gibt das Schönste, um den Menschen zur Lust, zur Freude zu reizen und ihm den Verstand dafür zu schärfen. – Die Kunst ist ein so schönes Spielwerk, um den unruhigen, ewig begehrenden Menschengeist auf sich selbst zurückzuführen, um ihn denken zu lehren und sehen; um Geschicklichkeit zu erwerben, die seine Kräfte weckt und steigert. Er soll lernen, ganz der Unschuld solcher Erfindung sich hingeben und vertrauen auf die Lust und das Spiel der Phantasie, die ihn zum Höchsten auszubilden und zu reifen vermag. Gewiß liegen in der Kunst große Geheimnisse höherer Entwicklung verborgen; ja ich glaub sogar, daß alle Neigungen, von denen die Philister sagen, daß sie keinen nützlichen Zweck haben, zu jenen mystischen gehören, die den Keim zu großen, in diesem Leben noch unverständlichen Eigenschaften in unsre Seele legen; welche dann im nächsten Leben als ein höherer Instinkt aus uns hervorbrechen, der einem geistigeren Element angemessen ist. –

Die Art, wie jene in Gold und Silber getriebene Kunstwerke aufgestellt sind, ist auch zu bewundern und trägt sehr dazu bei, dieselben sowohl in ihrer Pracht mit einem Blick zu überschauen, als auch ein jedes einzelne bequem zu betrachten. Es ist eine Wand von schwarzem Ebenholz mit tiefen Kassetten, in der Mitte der Wand eine große, in welcher das Hauptstück steht, auf beiden Seiten kleinere, in denen die anderen Kunstwerke, als: Humpen, Becher usw. usw. stehen. An jeder Kassette hebt sich durch den Druck einer Feder der Boden heraus und läßt das Kunstwerk von allen Seiten sehen.

Noch eines Bechers gedenke ich von Bronze, eine echte Antike, wie man behauptet: und man muß es wohl glauben, weil er so einfach ist und doch so majestätisch. Ein Jüngling: wahrscheinlich Ganymed, sitzt nachlässig auf einem Stein, der Adler auf der Erde zwischen seinen Knieen breitet[45] beide Flügel aus, als wolle er ihn damit schlagen, und legt den ausgestreckten Kopf auf des Jünglings Brust, der auf den Adler herabsieht, während er die Ärme emporhebt und mit beiden Händen ein herrliches Trinkgefäß hält, was den Becher bildet. Kann man sich was Schöneres denken? – Nein! Der wilde Adler, der ganz leidenschaftlich den ruhigen Jüngling gleichsam anfällt und doch an ihm ausruht, und jener, der so spielend den Becher emporhebt, ist gar zu schön, und ich hab allerlei dabei gedacht. Eine andre Wand will ich Ihr noch beschreiben und dann zu Bette gehn, denn ich bin müde; stell Sie sich ein goldnes Honigwaben vor, aus dem die ganze Wand besteht, lauter achteckige goldne Zellen, in jeder ein andrer Heiliger, zierlich, ja wahrhaft reizend in Holz geschnitzt mit schönen Kleidern angetan, in bunter Farbe gemalt; in der Mitte, wo die Zelle für den Bienenweisel ist, da ist Christus, auf beiden Seiten die vier Evangelisten, dann rund umher die Apostel, dann die Erzväter, endlich die Märtyrer, zuletzt die Einsiedler. Diese Wand habe ich in Oberwesel als Hauptaltar in der Kirche aufgestellt gesehen; es ist keine Figur, die man nicht gleich als schönes naives, in seiner Art eigentümliches Bild abmalen könnte. Adieu, Frau Rat, ich muß abbrechen, sonst könnte der Tag herankommen über meinem Extemporieren.

Bettine

An Bettine

Fr. 7. Oktober 1808


Die Beschreibung von Deinen Prachtstücken und Kostbarkeiten hat mir recht viel Pläsier gemacht; wenn's nur auch wahr ist, daß Du sie gesehen hast, denn in solchen Stücken kann man Dir nicht wenig genug trauen. Du hast mir ja schon manchmal hier auf Deinem Schemel die Unmöglichkeiten vorerzählt, denn wenn Du, mit Ehren zu melden, ins Erfinden gerätst, dann hält Dich kein Gebiß und kein Zaum. – Ei, mich wundert's, daß Du noch ein End finden kannst und nicht in einem Stück fortschwätzst, bloß um selbst zu erfahren, was alles noch in Deinem Kopf steckt. Manchmal mein ich aber doch, es müßt wahr sein, weil Du alles so natürlich vorbringen kannst. Wo solltest Du auch alles herwissen? – Es ist aber doch kurios, daß die Kurfürsten immer mit Fisch und Wassernymphen zu tun haben; auf der Krönung hab ich in den Silberkammern auch solche Sachen gesehen, da war ein Springbrunnen von Silber mit schönen Figuren, da sprang Wein heraus, der wurde zur Pracht auf die Tafel gestellt. Und einmal hat der Kurfürst von der Pfalz ein Fischballett aufführen lassen, da tanzten die Karpfen, prächtig in Gold und Silberschuppen angetan, aufrecht einen Menuett. Nun, Du hast das alles allein gesehen, solche Sachen, die man im Kopf sieht, die sind auch da und gehören ins himmlische Reich, wo nichts einen Körper hat, sondern nur alles im Geist da ist.

Mach doch, daß Du bald wieder herkommst. Du hast den ganzen Sommer[46] verschwärmt, mir ist es gar nicht mehr drum zu tun mit dem Schreiben, und ich hab Dich auch solange nicht gesehen, es verlangt mich recht nach Dir.

Deine wahre Herzensfreundin

Goethe

An Goethes Mutter

Frau Rat, den ganzen Tag bin ich nicht zu Haus, aber wenn ich an Sie schreib, dann weiß ich, daß ich eine Heimat habe; es ist die Zeit, daß die Leut Feldgötter im Weinberg aufstellen, um die Sperlinge von den Trauben zu scheuchen; heut morgen konnt ich nicht begreifen, was für ein wunderbarer Besuch sich so früh im Weingarten aufhalte, der mir durch den dicken Nebel schimmerte; ich dachte erst, es wär der Teufel, denn er hat einen scharlachroten Rock und schwarze Unterkleider und goldpapierne Mütze; und am Abend in der Dämmerung fürchtete ich mich dran vorbeizugehen und zwar so sehr, daß ich wieder umkehrte und nicht bis ans Wasser ging, wie ich jeden Abend tue; und wie ich wieder im Zimmer war, da dachte ich, wenn mich jemand Liebes dort hinbestellt hätte, so würd ich wohl nichts von Furcht gespürt haben; ich ging also noch einmal und glücklich an dem Lumpengespenst vorbei, denn dort wartet ja wohl etwas Liebes auf mich; die stille weit verbreitete Ruhe über dem breiten Rhein, über den brütenden Weinbergen, wem vergleiche ich die wohl als dem stillen ruhigen Abend, in dem mein Andenken ihm einen freundlichen Besuch macht und er sich's gefallen läßt, daß das Schifflein mit meinen kindischen Gedanken bei ihm anlande. Was ich in so einsamer Abendstunde, wo die Dämmerung mit der Nacht tauscht, denke, das kann Sie sich am besten vorstellen, da wir es tausendmal miteinander besprochen haben, und haben so viel Ergötzen dabei gehabt. Wenn wir miteinander zu ihm gereist kämen, das denk ich mir immer noch aus. – Damals hatte ich ihn noch nicht gesehen, wie Sie meiner heißen Sehnsucht die Zeit damit vertrieb, daß Sie mir seine freudige Überraschung malte und unser Erscheinen unter tausenderlei Veränderungen; – jetzt kenne ich ihn und weiß, wie er lächelt und den Ton seiner Stimme, wie die so ruhig ist und doch voll Liebe, und seine Ausrufungen, wie die so aus dem tiefen Herzen anschwellen, wie der Ton im Gesang; und wie er so freundlich beschwichtigt und bejaht, was man im Herzensdrang unordentlich herausstürmt; – wie ich im vorigen Jahr so unverhofft wieder mit ihm zusammentraf, da war ich so außer mir und wollte sprechen und konnte mich nicht zurechtfinden; da legt er mir die Hand auf den Mund und sagt: »Sprech mit den Augen, ich versteh alles;« und wie er sah, daß die voll Tränen standen, so drückt er mir die Augen zu und sagte: »Ruhe, Ruhe, die bekommt uns beiden am besten;« – ja, liebe Mutter, die Ruhe war gleich über mich hingegossen, ich hatte ja alles, wonach ich seit Jahren mich einzig gesehnt habe. – O Mutter, ich dank es Ihr ewig, daß Sie mir den Freund in die Welt geboren, – wo sollt[47] ich ihn sonst finden! Lach Sie nicht darüber, und denk Sie doch, daß ich ihn geliebt hab, eh ich das Geringste von ihm gewußt, und hätt Sie ihn nicht geboren, wo er dann geblieben wär, das ist doch die Frage, die Sie nicht beantworten kann.

Über die Günderode ist mir am Rhein unmöglich zu schreiben, ich bin nicht so empfindlich, aber ich bin hier am Platz nicht weit genug von dem Gegenstand ab, um ihn ganz zu übersehen; – gestern war ich da unten, wo sie lag; die Weiden sind so gewachsen, daß sie den Ort ganz zudecken, und wie ich mir so dachte, wie sie voll Verzweiflung hier herlief und so rasch das gewaltige Messer sich in die Brust stieß, und wie das tagelang in ihr gekocht hatte, und ich, die so nah mit ihr stand, jetzt an demselben Ort, gehe hin und her an demselben Ufer, in süßem Überlegen meines Glückes, und alles und das Geringste, was mir begegnet, scheint mir mit zu dem Reichtum meiner Seligkeit zu gehören; da bin ich wohl nicht geeignet, jetzt alles zu ordnen und den einfachen Faden unseres Freundelebens, von dem ich doch nur alles anspinnen könnte, zu verfolgen. – Nein, es kränkt mich und ich mache ihr Vorwürfe, wie ich ihr damals in Träumen machte, daß sie die schöne Erde verlassen hat; sie hätt noch lernen müssen, daß die Natur Geist und Seele hat und mit dem Menschen verkehrt und sich seiner und seines Geschickes annimmt, und daß Lebensverheißungen in den Lüften uns umwehen; ja, sie hat's bös mit mir gemacht, sie ist mir geflüchtet, grade wie ich mit ihr teilen wollte alle Genüsse. Sie war so zaghaft; eine junge Stiftsdame, die sich fürchtete, das Tischgebet laut herzusagen; sie sagte mir oft, daß sie sich fürchtete, weil die Reihe an ihr war; sie wollte vor den Stiftsdamen das Benedicite nicht laut hersagen; unser Zusammenleben war schön, es war die erste Epoche, in der ich mich gewahr ward; – sie hatte mich zuerst aufgesucht in Offenbach, sie nahm mich bei der Hand und forderte, ich solle sie in der Stadt besuchen; nachher waren wir alle Tage beisammen, bei ihr lernte ich die ersten Bücher mit Verstand lesen, sie wollte mich Geschichte lehren, sie merkte aber bald, daß ich zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt war, als daß mich die Vergangenheit hätte lange fesseln können; – wie gern ging ich zu ihr! Ich konnte sie keinen Tag mehr missen, ich lief alle Nachmittag zu ihr; wenn ich an die Tür des Stifts kam, da sah ich durch das Schlüsselloch bis nach ihrer Tür, bis mir aufgetan ward; – ihre kleine Wohnung war ebner Erde nach dem Garten; vor dem Fenster stand eine Silberpappel, auf die kletterte ich während dem Vorlesen; bei jedem Kapitel erstieg ich einen höheren Ast und las von oben herunter; – sie stand am Fenster und hörte zu und sprach zu mir hinauf, und dann und wann sagte sie: »Bettine, fall nicht«; jetzt weiß ich erst, wie glücklich ich in der damaligen Zeit war, denn weil alles, auch das Geringste, sich als Erinnerung von Genuß in mich geprägt hat; – sie war so sanft und weich in allen Zügen wie eine Blondine. Sie hatte braunes Haar, aber blaue Augen, die waren gedeckt mit langen Augenwimpern; wenn sie lachte, so war es nicht laut, es war vielmehr ein sanftes gedämpftes Girren,[48] in dem sich Lust und Heiterkeit sehr vernehmlich aussprach; – sie ging nicht, sie wandelte, wenn man verstehen will, was ich damit auszusprechen meine; – ihr Kleid war ein Gewand, was sie in schmeichelnden Falten umgab, das kam von ihren weichen Bewegungen her; – ihr Wuchs war hoch, ihre Gestalt war zu fließend, als daß man es mit dem Wort schlank ausdrücken könnte; sie war schüchtern-freundlich und viel zu willenlos, als daß sie in der Gesellschaft sich bemerkbar gemacht hätte. Einmal aß sie bei dem Fürst Primas mit allen Stiftsdamen zu Mittag; sie war im schwarzen Ordenskleid mit langer Schleppe und weißem Kragen mit dem Ordenskreuz; da machte jemand die Bemerkung, sie sähe aus wie eine Scheingestalt unter den andern Damen, als ob sie ein Geist sei, der eben in die Luft zerfließen werde. – Sie las mir ihre Gedichte vor und freute sich meines Beifalls, als wenn ich ein großes Publikum wär; ich war aber auch voll lebendiger Begierde es anzuhören; nicht als ob ich mit dem Verstand das Gehörte gefaßt habe, – es war vielmehr ein mir unbekanntes Element, und die weichen Verse wirkten auf mich wie der Wohllaut einer fremden Sprache, die einem schmeichelt, ohne daß man sie übersetzen kann. – Wir lasen zusammen den Werther und sprachen viel über den Selbstmord; sie sagte: »Recht viel lernen, recht viel fassen mit dem Geist, und dann früh sterben; ich mag's nicht erleben, daß mich die Jugend verläßt.« Wir lasen vom Jupiter Olymp des Phidias, daß die Griechen von dem sagten, der Sterbliche sei um das Herrlichste betrogen, der die Erde verlasse, ohne ihn gesehen zu haben. Die Günderode sagte, wir müssen ihn sehen, wir wollen nicht zu den Unseligen gehören, die so die Erde verlassen. Wir machten ein Reiseprojekt, wir erdachten unsre Wege und Abenteuer, wir schrieben alles auf, wir malten alles aus, unsre Einbildung war so geschäftig, daß wir's in der Wirklichkeit nicht besser hätten erleben können; oft lasen wir in dem erfundenen Reisejournal und freuten uns der allerliebsten Abenteuer, die wir drin erlebt hatten, und die Erfindung wurde gleichsam zur Erinnerung, deren Beziehungen sich noch in der Gegenwart fortsetzten. Von dem, was sich in der Wirklichkeit ereignete, machten wir uns keine Mitteilungen; das Reich, in dem wir zusammentrafen, senkte sich herab wie eine Wolke, die sich öffnete, um uns in ein verborgenes Paradies aufzunehmen; da war alles neu, überraschend, aber passend für Geist und Herz; und so vergingen die Tage. Sie wollte mir Philosophie lehren, was sie mir mitteilte, verlangte sie von mir aufgefaßt und dann auf meine Art schriftlich wiedergegeben; die Aufsätze, die ich ihr hierüber brachte, las sie mit Staunen; es war nie auch eine entfernte Ahnung von dem, was sie mir mitgeteilt hatte; ich behauptete im Gegenteil, so hätt ich es verstanden; – sie nannte diese Aufsätze Offenbarungen, gehöht durch die süßesten Farben einer entzückten Imagination; sie sammelte sie sorgfältig, sie schrieb mir einmal: «Jetzt verstehst Du nicht, wie tief diese Eingänge in das Bergwerk des Geistes führen, aber einst wird es Dir sehr wichtig sein, denn der Mensch geht oft öde Straßen; je mehr er Anlage hat durchzudringen,[49] je schauerlicher ist die Einsamkeit seiner Wege, je endloser die Wüste. Wenn Du aber gewahr wirst, wie tief Du Dich hier in den Brunnen des Denkens niedergelassen hast und wie Du da unten ein neues Morgenrot findest und mit Lust wieder heraufkömmst und von Deiner tieferen Welt sprichst, dann wird Dich's trösten, denn die Welt wird nie mit Dir zusammenhängen. Du wirst keinen andern Ausweg haben als zurück durch diesen Brunnen in den Zaubergarten Deiner Phantasie; es ist aber keine Phantasie, es ist eine Wahrheit, die sich nur in ihr spiegelt. Der Genius benutzt die Phantasie, um unter ihren Formen das Göttliche, was der Menschengeist in seiner idealen Erscheinung nicht fassen könnte, mitzuteilen oder einzuflößen; ja Du wirst keinen andern Weg des Genusses in Deinem Leben haben, als den sich die Kinder versprechen von Zauberhöhlen, von tiefen Brunnen; wenn man durch sie gekommen, so findet man blühende Gärten, Wunderfrüchte, kristallne Paläste, wo eine noch unbegriffne Musik erschallt und die Sonne mit ihren Strahlen Brücken baut, auf denen man festen Fußes in ihr Zentrum spazieren kann; – das alles wird sich Dir in diesen Blättern zu einem Schlüssel bilden, mit dem Du vielleicht tief versunkene Reiche wieder aufschließen kannst, drum verliere mir nichts und wehre auch nicht solchen Reiz, der Dich zum Schreiben treibt, sondern lerne mit Schmerzen denken, ohne welche nie der Genius in den Geist geboren wird; – wenn er erst in Dich eingefleischt ist, dann wirst Du Dich der Begeistrung freuen, wie der Tänzer sich der Musik freut.

Mit solchen wunderbaren Lehren hat die Günderode die Unmündigkeit meines Geistes genährt. Ich war damals bei der Großmutter in Offenbach, um auf vier Wochen wegen meiner schwankenden Gesundheit die Landluft zu genießen; auf welche Weise berührten mich denn solche Briefe? – Verstand ich ihren Inhalt? – Hatte ich einen Begriff von dem, was ich geschrieben hatte? Nein; ich wußte mir so wenig den Text meiner schriftlichen Begeistrungen auszulegen, als sich der Komponist den Text seiner Erfindungen begreiflich machen kann; er wirft sich in ein Element, was höher ist als er; es trägt ihn, es nährt ihn, seine Nahrung wird Inspiration, sie reizt, sie beglückt, ohne daß man sie sinnlich auszulegen vermöchte, obschon die Fähigkeiten durch sie gesteigert, der Geist gereinigt, die Seele gerührt wird. So war es auch zwischen mir und der Freundin: die Melodien entströmten meiner gereizten Phantasie, sie lauschte und fühlte unendlichen Genuß dabei und bewahrte, was, wenn es mir geblieben wär, nur störend auf mich gewirkt haben würde; – sie nannte mich oft die Sibylle, die ihre Weissagungen nicht bewahren dürfe; ihre Aufforderungen reizten mich, und doch hatte ich eine Art Furcht; mein Geist war kühn und mein Herz war zaghaft; ja ich hatte ein wahres Ringen in mir; – ich wollte schreiben, ich sah in ein unermeßliches Dunkel, ich mußte mich auch äußerlich vom Licht entfernen; am liebsten war mir, wenn ich die Fenster verhing und doch durchsah, daß draußen die Sonne schien; ein Blumenstrauß, dessen Farben sich durch die Dämmerung stahlen, der konnte mich[50] fesseln und von der innern Angst befreien, so daß ich mich vergaß, während ich in die schattigflammenden Blumenkelche sah und Duft und Farbe und Formen gleichsam ein Ganzes bildeten; Wahrheiten hab ich da erfahren, von denen ich ausging in meinen Träumereien und die mir plötzlich den gebundenen Geist lösten, daß ich ruhig und gelassen das, was mir ahndete, fassen und aussprechen konnte; – indem ich den Blumenstrauß, der nur durch eine Spalte im Fensterladen erleuchtet war, betrachtete, erkannte ich die Schönheit der Farbe, das Übermächtige der Schönheit; die Farbe war selbst ein Geist, der mich anredete wie der Duft und die Form der Blumen; – das erste, was ich durch sie vernahm, war, daß alles in den Naturgebilden durch das Göttliche erzeugt sei, daß Schönheit der göttliche Geist sei im Mutterschoß der Natur erzeugt; daß die Schönheit größer sei wie der Mensch, daß aber die Erkenntnis allein die Schönheit des freien Menschengeistes sei, die höher ist als alle leibliche Schönheit. – O ich brauchte mich hier nur in den Brunnen niederzulassen, so könnte ich vielleicht wieder sagen alles, was ich durch die Gespräche mit der Farbe und den Formen und dem Duft des Blumenstraußes erfuhr; ich könnte auch noch mehr sagen, was wunderlich und wunderbar genug klingt; ich müßte fürchten, es würde nicht geglaubt oder für Wahnsinn und Unsinn geachtet; – warum soll ich's aber hier verhehlen? Der's lesen wird, dem wird es einleuchten, er hat oft die wunderbaren Phänomene des Lichtes beobachtet, wie sie durch Farbe und zufällige oder besondere Formen neue Erscheinungen bildeten. – So war's in meiner Seele damals, so ist es auch jetzt. Das große und scharfe Auge des Geistes war vom innern Lichtstrahl gefangen genommen, es mußte ihn einsaugen, ohne sich durch selbstische Reflexion davon ablösen zu können; der Freund weiß ja, was dieses Gebanntsein im Blick auf einen Lichtstrahl – Farbengeist – für Zauberei hervorbringt, und er weiß auch, daß der Schein hier kein Schein ist, sondern Wahrheit. –

Trat ich aus dieser innern Anschauung hervor, so war ich geblendet; ich sah Träume, ich ging ihren Verhältnissen nach, das machte im gewöhnlichen Leben keinen Unterschied, in dies paßte ich ohne Anstoß, weil ich mich in ihm nicht bewegte; aber ohne Scheu sag ich es meinem Herrn, der den Segen hier über sein Kind sprechen möge: ich hatte eine innre Welt und geheime Fähigkeiten, Sinne, mit denen ich in ihr lebte; mein Auge sah deutlich große Erscheinungen, so wie ich es zumachte; – ich sah die Himmelskugel, sie drehte sich vor mir in unermeßlicher Größe um, so daß ich ihre Grenze nicht sah, aber doch eine Empfindung von ihrer Rundung hatte; das Sternenheer zog auf dunklem Grund an mir vorüber, die Sterne tanzten in reinen geistigen Figuren, die ich als Geist begriff; es stellten sich Monumente auf von Säulen und Gestalten, hinter denen die Sterne wegzogen; die Sterne tauchten unter in einem Meer von Farben; es blühten Blumen auf, sie wuchsen empor bis in die Höhe; ferne goldne Schatten deckten sie vor einem höheren weißen Licht, und so zog in dieser Innenwelt eine Erscheinung nach der anderen herauf; dabei fühlten meine Ohren[51] ein feines silbernes Klingen, allmählich wurde es ein Schall, der größer war und gewaltiger, je länger ich ihm lauschte, ich freute mich, denn es stärkte mich, es stärkte meinen Geist, diesen großen Ton in meinem Gehör zu beherbergen; öffnete ich die Augen, so war alles nichts, so war alles ruhig, und ich empfand keine Störung, nur konnte ich die sogenannte wirkliche Welt, in der die andern Menschen sich auch zu befinden behaupten, nicht mehr von dieser Traum- oder Phantasiewelt unterscheiden; ich wußte nicht, welche Wachen oder Schlafen war, ja zuletzt glaubte ich immer mehr, daß ich das gewöhnliche Leben nur träume, und ich muß es noch heute unentschieden lassen und werde nach Jahren noch daran zweifeln; dieses Schweben und Fliegen war mir gar zu gewiß; ich war innerlich stolz darauf und freute mich dieses Bewußtseins; ein einziger elastischer Druck mit der Spitze der Fußzehen – und ich war in Lüften; ich schwebte leise und anmutig zwei, drei Fuß über der Erde, aber ich berührte sie gleich wieder und flog wieder auf, – und schwebte auf die Seite, von da wieder zurück; so tanzte ich im Garten im Mondschein hin und her, zu meinem unaussprechlichen Vergnügen; ich schwebte über die Treppen herab oder herauf, zuweilen hob ich mich zur Höhe der niedern Baumäste und schwirrte zwischen den Zweigen dahin; morgens erwachte ich in meinem Bett mit dem Bewußtsein, daß ich fliegen könne, am Tag aber vergaß ich's. – Ich schrieb an die Günderode, ich weiß nicht was, sie kam heraus nach Offenbach, sah mich zweifelhaft an, tat befremdende Fragen über mein Befinden, ich sah im Spiegel: schwärzer waren die Augen wie je, die Züge hatten sich unendlich verfeinert, die Nase so schmal und fein, der Mund geschwungen, eine äußerst weiße Farbe; ich freute mich und sah mit Genuß meine Gestalt, die Günderode sagte, ich sollte nicht so lang mehr allein bleiben, und nahm mich mit in die Stadt; da waren wenig Tage verflossen, so hatte ich das Fieber; ich legte mich zu Bett und schlief, und weiß auch nichts, als daß ich nur schlief: endlich erwachte ich und es war am vierzehnten Tag, nachdem ich mich gelegt hatte; indem ich die Augen öffnete, sah ich ihre schwanke Gestalt im Zimmer auf- und abgehen und die Hände ringen; »aber Günderode«, sagt ich, »warum weinst Du?« »Gott sei ewig gelobt«, sagte sie, und kam an mein Bett, »bist Du endlich wieder wach, bist Du endlich wieder ins Bewußtsein gekommen?« – Von der Zeit an wollte sie mich nichts Philosophisches lesen lassen, und auch keine Aufsätze sollte ich mehr machen; sie war fest überzeugt, meine Krankheit sei davon hergekommen; ich hatte großes Wohlgefallen an meiner Gestalt, die Blässe, die von meiner Krankheit zurückgeblieben war, gefiel mir unendlich; meine Züge erschienen mir sehr bedeutend, die großgewordenen Augen herrschten, und die anderen Gesichsteile verhielten sich geistig leidend; ich fragte die Günderode, ob nicht darin schon die ersten Spuren einer Verklärung sich zeigten.

Hier hab ich abgebrochen und hab viele Tage nicht geschrieben; es stieg so ernst und schwer herauf, der Schmerz ließ sich nicht vom Denken bemeistern;[52] ich bin noch jung, ich kann's nicht durchsetzen, das Ungeheure. Unterdessen hat man den Herbst eingetan, der Most wurde vom laubbekränzten Winzervolk unter Jubelgesang die Berge herabgefahren und getragen, und sie gingen mit der Schalmei voran und tanzten. O Du – der Du dieses liest, Du hast keinen Mantel so weich, um die verwundete Seele drin einzuhüllen. Was bist Du mir schuldig? – Dem ich Opfer bringe wie dies, daß ich Dich die Hand in die Wunden legen lasse. – Wie kannst Du mir vergelten? – Du wirst mir nimmer vergelten; Du wirst mich nicht locken und an Dich ziehen, und weil ich kein Obdach in der Liebe habe, wirst Du mich nicht herbergen, und der Sehnsucht wirst Du keine Linderung gewähren; ich weiß es schon im voraus, ich werd allein sein mit mir selber, wie ich heut allein stand am Ufer bei den düstern Weiden, wo die Todesschauer noch wehen über den Platz, da kein Gras mehr wächst; dort hat sie den schönen Leib verwundet, grad an der Stelle, wo sie's gelernt hatte, daß man da das Herz am sichersten trifft; o Jesus Maria! –

Du! Mein Herr! – Du! – Flammender Genius über mir! Ich hab geweint; nicht über sie, die ich verloren habe, die wie warme frühlingbrütende Lüfte mich umgab; die mich schützte, die mich begeisterte, die mir die Höhe meiner eignen Natur als Ziel vertraute; ich hab geweint um mich, mit mir; hart muß ich werden wie Stahl, gegen mich, gegen das eigne Herz; ich darf es nicht beklagen, daß ich nicht geliebt werde, ich muß streng sein gegen dies leidenschaftliche Herz; es hat kein Recht zu fordern, nein, es hat kein Recht; – Du bist mild und lächelst mir, und Deine kühle Hand mildert die Glut meiner Wangen, das soll mir genügen.

Gestern waren wir im laubbekränzten Nachen den Rhein hinabgefahren, um die hundertfältige Feier des Weinfestes an beiden Bergufern mitanzusehen; auf unserem Schiff waren lustige Leute, sie schrieben weinbegeisterte Lieder und Sprüche, steckten sie in die geleerten Flaschen und ließen diese unter währendem Schießen den Rhein hinabschwimmen; auf allen Ruinen waren große Tannen aufgepflanzt, die bei einbrechender Dämmerung angezündet wurden; auf dem Mäuseturm, mitten im stolzen Rhein ragten zwei mächtige Tannen empor, ihre flammenden durchbrannten Äste fielen herab in die zischende Flut, von allen Seiten donnerten sie und warfen Raketen, und schöne Sträußer von Leuchtkugeln stiegen jungfräulich in die Lüfte, und auf den Nachen sang man Lieder, und im Vorbeifahren warf man sich Kränze zu und Trauben; da wir nach Hause kamen, so war's spät, aber der Mond leuchtete hell; ich sah zum Fenster hinaus und hörte noch jenseits das Toben und Jauchzen der Heimkehrenden, und diesseits, nach der Seite, wo sie tot am Ufer gelegen hatte, war alles still, ich dacht, da ist keiner mehr, der nach ihr frägt, und ich ging hin, nicht ohne Grausen, nein, mir war bang, wie ich von weitem die Nebel über den Weidenbüschen wogen sah, da wär ich bald wieder umgekehrt, es war mir, als sei sie es selbst, die da schwebte und wogte und sich ausdehnte; ich ging hin, aber ich betete unterwegs, daß mich Gott doch schützen möge; – schützen?[53] – Vor was? Vor einem Geist, dessen Herz voll liebendem Willen gewesen war gegen mich im Leben; und nun er des irdischen Leibs entledigt ist, soll ich ihn fürchtend fliehen? – Ach, sie hat vielleicht einen bessren Teil ihres geistigen Vermögens auf mich vererbt seit ihrem Tod. Vererben doch die Voreltern auf ihre Nachkommen, warum nicht die Freunde? – Ich weiß nicht, wie weh mir ist! – Sie, die freundlich Klare, hat meinen Geist vielleicht beschenkt. Wie ich von ihrem Grab zurückkam, da fand ich Leute, die nach ihrer Kuh suchten, die sich verlaufen hatte, ich ging mit ihnen; sie ahndeten gleich, daß ich von dort her kam, sie wußten viel von der Günderode zu erzählen, die oft freundlich bei ihnen eingesprochen und ihnen Almosen gegeben hatte; sie sagten, sooft sie dort vorbeigehen, beten sie ein Vaterunser; ich hab auch dort gebetet zu und um ihre Seele, und hab mich vom Mondlicht reinwaschen lassen, und hab es ihr laut gesagt, daß ich mich nach ihr sehne, nach jenen Stunden, in denen wir Gefühl und Gedanken harmlos gegeneinander austauschten.

Sie erzählte mir wenig von ihren sonstigen Angelegenheiten, ich wußte nicht, in welchen Verbindungen sie noch außer mir war; sie hatte mir zwar von Daub in Heidelberg gesprochen und auch von Creuzer, aber ich wußte von keinem, ob er ihr lieber sei als der andre; einmal hatte ich von andern davon gehört, ich glaubte es nicht, einmal kam sie mir freudig entgegen und sagte: »Gestern hab ich einen Chirurg gesprochen, der hat mir gesagt, daß es sehr leicht ist, sich umzubringen«, sie öffnete hastig ihr Kleid und zeigte mir unter der schönen Brust den Fleck; ihre Augen funkelten freudig; ich starrte sie an, es ward mir zum erstenmal unheimlich, ich fragte: »Nun! – Und was soll ich denn tun, wenn Du tot bist?« – »O«, sagte sie, »dann ist Dir nichts mehr an mir gelegen, bis dahin sind wir nicht mehr so eng verbunden, ich werd mich erst mit Dir entzweien.« – Ich wendete mich nach dem Fenster, um meine Tränen, mein vor Zorn klopfendes Herz zu verbergen, sie hatte sich nach dem andern Fenster gewendet und schwieg; – ich sah sie von der Seite an, ihr Auge war gen Himmel gewendet, aber der Strahl war gebrochen, als ob sich sein ganzes Feuer nach innen gewendet habe; – nachdem ich sie eine Weile beobachtet hatte, konnt ich mich nicht mehr fassen, – ich brach in lautes Schreien aus, ich fiel ihr um den Hals und riß sie nieder auf den Sitz und setzte mich auf ihre Knie und weinte viel Tränen und küßte sie zum erstenmal an ihren Mund und riß ihr das Kleid auf und küßte sie an die Stelle, wo sie gelernt hatte das Herz treffen; und ich bat mit schmerzlichen Tränen, daß sie sich meiner erbarme, fiel ihr wieder um den Hals und küßte ihre Hände, die waren kalt und zitterten, ihre Lippen zuckten, sie war ganz kalt, starr und totenblaß und konnte die Stimme nicht erheben; sie sagte leise: »Bettine, brich mir das Herz nicht«; – ach, da wollte ich mich aufreißen und wollte ihr nicht wehtun; ich lächelte, weinte und schluchzte laut, ihr schien immer banger zu werden, sie legte sich aufs Sofa; da wollt ich scherzen und wollte ihr beweisen, daß ich alles für Scherz nehme; da sprachen wir von ihrem Testament;[54] sie vermachte einem jeden etwas; mir vermachte sie einen kleinen Apoll unter einer Glasglocke, dem sie einen Lorbeerkranz umgehängt hatte; ich schrieb alles auf; im Nachhausegehen machte ich mir Vorwürfe, daß ich so aufgeregt gewesen war; ich fühlte, daß es doch nur Scherz gewesen war oder auch Phantasie, die in ein Reich gehört, welches nicht in der Wirklichkeit seine Wahrheit behauptet; ich fühlte, daß ich Unrecht gehabt hatte und nicht sie, die ja oft auf diese Weise mit mir gesprochen hatte. Am andern Tag führte ich ihr einen jungen französischen Husarenoffizier zu mit hoher Bärenmütze; es war der Wilhelm von Türkheim, der schönste aller Jünglinge, das wahre Kind voll Anmut und Scherz; er war unvermutet angekommen; ich sagte: »Da hab ich Dir einen Liebhaber gebracht, der soll Dir das Leben wieder lieb machen.« Er vertrieb uns allen die Melancholie; wir scherzten und machten Verse, und da der schöne Wilhelm die schönsten gemacht zu haben behauptete, so wollte die Günderode, ich sollte ihm den Lorbeerkranz schenken; ich wollte mein Erbteil nicht geschmälert wissen, doch mußt ich ihm endlich die Hälfte des Kranzes lassen; so hab ich denn nur die eine Hälfte. Einmal kam ich zu ihr, da zeigte sie mir einen Dolch mit silbernem Griff, den sie auf der Messe gekauft hatte, sie freute sich über den schönen Stahl und über seine Schärfe; ich nahm das Messer in die Hand und probte es am Finger, da floß gleich Blut, sie erschrak, ich sagte: »O Günderode, Du bist so zaghaft und kannst kein Blut sehen, und gehest immer mit einer Idee um, die den höchsten Mut voraussetzt, ich hab doch noch das Bewußtsein, daß ich eher vermögend wär, etwas zu wagen, obschon ich mich nie umbringen würde; aber mich und Dich in einer Gefahr zu verteidigen, dazu hab ich Mut; und wenn ich jetzt mit dem Messer auf Dich eindringe – siehst Du, wie Du Dich fürchtest?« – Sie zog sich ängstlich zurück; der alte Zorn regte sich wieder in mir unter der Decke des glühendsten Mutwills; ich ging immer ernstlicher auf sie ein, sie lief in ihr Schlafzimmer hinter einen ledernen Sessel, um sich zu sichern; ich stach in den Sessel, ich riß ihn mit vielen Stichen in Stücke, das Roßhaar flog hier und dahin in der Stube, sie stand flehend hinter dem Sessel und bat, ihr nichts zu tun; – ich sagte: »Eh ich dulde, daß Du Dich umbringst, tu ich's lieber selbst.« »Mein armer Stuhl!« rief sie. »Ja was, dein Stuhl, der soll den Dolch stumpf machen.« Ich gab ihm ohne Barmherzigkeit Stich auf Stich, das ganze Zimmer wurde eine Staubwolke; so warf ich den Dolch weit in die Stube, daß er prasselnd unter das Sofa fuhr; ich nahm sie bei der Hand und führte sie in den Garten in die Weinlaube, ich riß die jungen Weinreben ab und warf sie ihr vor die Füße; ich trat darauf und sagte: »So mißhandelst Du unsre Freundschaft.« – Ich zeigte ihr die Vögel auf den Zweigen, und daß wir wie jene, spielend, aber treu gegeneinander bisher zusammengelebt hätten. Ich sagte: »Du kannst sicher auf mich bauen, es ist keine Stunde in der Nacht, die, wenn Du mir Deinen Willen kund tust, mich nur einen Augenblick besinnen machte; – komm vor mein Fenster und pfeif um Mitternacht, und ich geh ohne Vorbereitung mit Dir um die[55] Welt. Und was ich für mich nicht wagte, das wag ich für Dich; – aber Du? – Was berechtigt Dich mich aufzugeben? – Wie kannst Du solche Treue verraten, und versprich mir, daß Du nicht mehr Deine zaghafte Natur hinter so grausenhafte prahlerische Ideen verschanzen willst.« – Ich sah sie an, sie war beschämt und senkte den Kopf und sah auf die Seite und war blaß; wir waren beide still, lange Zeit. »Günderode«, sagte ich, »wenn es ernst ist, dann gib mir ein Zeichen«; – sie nickte. – Sie reiste ins Rheingau; von dort aus schrieb sie mir ein paarmal, wenig Zeilen; – ich hab sie verloren, sonst würde ich sie hier einschalten. Einmal schrieb sie: »Ist man allein am Rhein, so wird man ganz traurig, aber mit mehreren zusammen, da sind grade die schauerlichsten Plätze am lustaufreizendsten: mir aber ist doch lieb, den weiten gedehnten Purpurhimmel am Abend allein zu begrüßen, da dichte ich im Wandeln an einem Märchen, das will ich Dir vorlesen; ich bin jeden Abend begierig, wie es weiter geht, es wird manchmal recht schaurig und dann taucht es wieder auf.« Da sie wieder zurückkam und ich das Märchen lesen wollte, sagte sie: »Es ist so traurig geworden, daß ich's nicht lesen kann; ich darf nichts mehr davon hören, ich kann es nicht mehr weiter schreiben: ich werde krank davon.« Sie legte sich zu Bett und blieb mehrere Tage liegen, der Dolch lag an ihrem Bett; ich achtete nicht darauf, die Nachtlampe stand dabei, ich kam herein: »Bettine, mir ist vor drei Wochen eine Schwester gestorben; sie war jünger als ich, Du hast sie nie gesehen; sie starb an der schnellen Auszehrung.« – »Warum sagst Du mir dies heute erst«, fragte ich. – »Nun, was könnte Dich dies interessieren? Du hast sie nicht gekannt, ich muß so was allein tragen«, sagte sie mit trocknen Augen. Mir war dies doch etwas sonderbar, mir jungen Natur waren alle Geschwister so lieb, daß ich glaubte, ich würde verzweifeln müssen, wenn einer stürbe, und daß ich mein Leben für jeden gelassen hätte. Sie fuhr fort: »Nun denk'! Vor drei Nächten ist mir diese Schwester erschienen; ich lag im Bett und die Nachtlampe brannte auf jenem Tisch; sie kam herein in weißem Gewand, langsam, und blieb an dem Tisch stehen; sie wendete den Kopf nach mir, senkte ihn und sah mich an; erst war ich erschrocken, aber bald war ich ganz ruhig, ich setzte mich im Bett auf, um mich zu überzeugen, daß ich nicht schlafe. Ich sah sie auch an und es war, als ob sie etwas bejahend nickte; sie nahm dort den Dolch, hob ihn gen Himmel mit der rechten Hand, als ob sie mir ihn zeigen wolle, legte ihn wieder sanft und klanglos nieder; dann nahm sie die Nachtlampe, hob sie auch in die Höhe und zeigte sie mir, und als ob sie mir bezeichnen wolle, daß ich sie verstehe, nickte sie sanft, führte die Lampe zu ihren Lippen und hauchte sie aus; denk nur«, sagte sie voll Schauder, »ausgeblasen; – im Dunkel hatte mein Auge noch das Gefühl von ihrer Gestalt; da hat mich plötzlich eine Angst befallen, die ärger sein muß, als wenn man mit dem Tod ringt; ja, denn ich wär lieber gestorben, als noch länger diese Angst zu tragen.«

Ich war gekommen, um Abschied zu nehmen, weil ich mit Savigny nach[56] Marburg reisen wollte, aber nun wollte ich bei ihr bleiben. »Reise nur fort«, sagte sie, »denn ich reise auch übermorgen wieder ins Rheingau.« – So ging ich denn weg. – »Bettine «, rief sie mir in der Tür zu, »behalt diese Geschichte, sie ist doch merkwürdig!« Das waren ihre letzten Worte. In Marburg schrieb ich ihr oft ins Rheingau von meinem wunderlichen Leben; – ich wohnte einen ganzen Winter am Berg dicht unter dem alten Schloß, der Garten war mit der Festungsmauer umgeben, aus den Fenstern hatt ich eine weite Aussicht über die Stadt und das reich bebaute Hessenland; überall ragten die gotischen Türme aus den Schneedecken hervor; aus meinem Schlafzimmer ging ich in den Berggarten, ich kletterte über die Festungsmauer und stieg durch die verödeten Gärten; – wo sich die Pförtchen nicht aufzwingen ließen, da brach ich durch die Hecken, – da saß ich auf der Steintreppe, die Sonne schmolz den Schnee zu meinen Füßen, ich suchte die Moose und trug sie mitsamt der angefrornen Erde nach Haus; – so hatt ich an dreißig bis vierzig Moosarten gesammelt, die alle in meiner kalten Schlafkammer in irdnen Schüsselchen auf Eis gelegt mein Bett umblühten; ich schrieb ihr davon, ohne zu sagen, was es sei; ich schrieb in Versen: mein Bett steht mitten im kalten Land, umgeben von viel Hainen, die blühen in allen Farben, und da sind silberne Haine uralter Stämme, wie der Hain auf der Insel Cypros; die Bäume stehen dicht gereiht und verflechten ihre gewaltigen Äste; der Rasen, aus dem sie hervorwachsen, ist rosenrot und blaßgrün; ich trug den ganzen Hain heut auf meiner erstarrten Hand in mein kaltes Eisbeetland; – da antwortet sie wieder in Versen: »Das sind Moose ewiger Zeiten, die den Teppich unterbreiten, ob die Herrn zur Jagd drauf reiten, ob die Lämmer drüber weiden, ob der Winterschnee sie decket, oder Frühling Blumen wecket; in dem Haine schallt es wieder, summen Mückchen ihre Lieder; an der Silberbäume Wipfel, hängen Tröpfchen Tau am Gipfel; in dem klaren Tröpfchen Taue, spiegelt sich die ganze Aue; du mußt andre Rätsel machen, will dein Witz des meinen lachen!«

Nun waren wir ins Rätsel geben und lösen geraten; alle Augenblick hatt ich ein kleines Abenteuer auf meinen Spazierwegen, was ich ihr verbrämt zu erraten gab; meistens löste sie es auf eine kindlich-lustige Weise auf. Einmal hatte ich ihr ein Häschen, was mir auf wildem einsamen Waldweg begegnet war, als einen zierlichen Ritter beschrieben, ich nannte es la petite perfection und daß es mir mein Herz eingenommen habe; – sie antwortete gleich: »Auf einem schönen grünen Rasen, da ließ ein Held zur Mahlzeit blasen, da flüchteten sich alle Hasen; so hoff ich, wird ein Held einst kommen. Dein Herz, von Hasen eingenommen, von diesen Wichten zu befreien und seine Gluten zu erneuen;« – dies waren Anspielungen auf kleine Liebesabenteuer. – So verging ein Teil des Winters; ich war in einer sehr glücklichen Geistesverfassung, andre würden sie Überspannung nennen, aber mir war sie eigen. An der Festungsmauer, die den großen Garten umgab, war eine Turmwarte, eine zerbrochne Leiter stand drin; –[57] dicht bei uns war eingebrochen worden, man konnte den Spitzbuben nicht auf die Spur kommen, man glaubte, sie versteckten sich auf jenem Turm; ich hatte ihn bei Tag in Augenschein genommen und erkannt, daß es für einen starken Mann unmöglich war, an dieser morschen, beinah stufenlosen himmelhohen Leiter hinaufzuklimmen; ich versuchte es, gleitete aber wieder herunter, nachdem ich eine Strecke hinaufgekommen war; in der Nacht, nachdem ich schon eine Weile im Bett gelegen hatte und Meline schlief, ließ es mir keine Ruhe; ich warf ein Überkleid um, stieg zum Fenster hinaus und ging an dem alten Marburger Schloß vorbei, da guckte der Kurfürst Philipp mit der Elisabeth lachend zum Fenster heraus; ich hatte diese Steingruppe, die beide Arm in Arm sich weit aus dem Fenster lehnen, als wollten sie ihre Lande übersehen, schon oft bei Tage betrachtet, aber jetzt bei Nacht fürchtete ich mich so davor, daß ich in hohen Sprüngen davoneilte in den Turm; dort ergriff ich eine Leiterstange und half mir, Gott weiß wie, daran hinauf; was mir bei Tage nicht möglich war, gelang mir bei Nacht in der schwebenden Angst meines Herzens; wie ich beinah oben war, machte ich Halt; ich überlegte, wie die Spitzbuben wirklich oben sein könnten und da mich überfallen und von der Warte hinunterstürzen; da hing ich und wußte nicht hinunter oder herauf, aber die frische Luft, die ich witterte, lockte mich nach oben; – wie war mir da, wie ich plötzlich durch Schnee und Mondlicht die weitverbreitete Natur überschaute, allein und gesichert, das große Heer der Sterne über mir! – So ist es nach dem Tod, die freiheitstrebende Seele, der der Leib am angstvollsten lastet, im Augenblick, da sie ihn abwerfen will; sie siegt endlich und ist der Angst erledigt; – da hatte ich bloß das Gefühl, allein zu sein, da war kein Gegenstand, der mir näher war als meine Einsamkeit, und alles mußte vor dieser Beseligung zusammensinken; – ich schrieb der Günderode, daß wieder einmal mein ganzes Glück von der Laune dieser Grille abhänge; ich schrieb ihr jeden Tag, was ich auf der freien Warte mache und denke, ich setzte mich auf die Brustmauer und hing die Beine hinab. – Sie wollte immer mehr von diesen Turmbegeistrungen, sie sagte: »Es ist mein Labsal, Du sprichst wie ein auferstandner Prophet!« – Wie ich ihr aber schrieb, daß ich auf der Mauer, die kaum zwei Fuß breit war, im Kreis herumlaufe und lustig nach den Sternen sehe, und daß mir zwar am Anfang geschwindelt habe, daß ich jetzt aber ganz keck und wie am Boden mich da oben befinde, – da schrieb sie: »Um Gotteswillen falle nicht, ich hab's noch nicht herauskriegen können, ob Du das Spiel böser oder guter Dämonen bist«. – »Falle nicht,« schrieb sie mir wieder, »obschon es mir wohltätig war, Deine Stimme von oben herab über den Tod zu vernehmen, so fürchtete ich nichts mehr, als daß Du elend und unwillkürlich zerschmettert ins Grab stürzest;« – ihre Vermahnungen aber erregten mir keine Furcht und keinen Schwindel, im Gegenteil war ich tollkühn; ich wußte Bescheid, ich hatte die triumphierende Überzeugung, daß ich von Geistern geschützt sei. Das Seltsame war, daß ich's oft vergaß, daß es mich oft mitten aus dem Schlaf[58] weckte und ich noch in unbestimmter Nachtzeit hineilte, daß ich auf dem Hinweg immer Angst hatte und auf der Leiter jeden Abend wie den ersten, daß ich oben allemal die Beseligung einer von schwerem Druck befreiten Brust empfand; – oben, wenn Schnee lag, schrieb ich der Günderode ihren Namen hinein und: Jesus nazarenus rex judaeorum als schützenden Talisman darüber, da war mir, als sei sie gesichert gegen böse Eingebungen.

Jetzt kam Creuzer nach Marburg, um Savigny zu besuchen. Häßlich wie er war, war es zugleich unbegreiflich, daß er ein Weib interessieren könne; ich hörte, daß er von der Günderode sprach, in Ausdrücken, als ob er ein Recht an ihre Liebe habe; ich hatte in meinem von allem äußeren Einfluß abgeschiednen Verhältnis zu ihr früher nichts davon geahndet und war im Augenblick aufs heftigste eifersüchtig; er nahm in meiner Gegenwart ein kleines Kind auf den Schoß und sagte: »Wie heißt Du?« – »Sophie«. »Nun, Du sollst, solange ich hier bin, Karoline heißen; Karoline gib mir einen Kuß.« Da ward ich zornig, ich riß ihm das Kind vom Schoß und trug es hinaus, fort durch den Garten auf den Turm; da oben stellte ich es in den Schnee neben ihren Namen, und legte mich mit dem glühenden Gesicht hinein und weinte laut, und das Kind weinte mit, und da ich herunter kam, begegnete mir Creuzer; ich sagte: »Weg aus meinem Weg, fort.« Der Philolog konnte sich einbilden, daß Ganymed ihm die Schale des Jupiters reichen werde. – Es war in der Neujahrsnacht; ich saß auf meiner Warte und schaute in die Tiefe; alles war so still – kein Laut bis in die weiteste Ferne, und ich war betrübt um die Günderode, die mir keine Antwort gab; die Stadt lag unter mir, auf einmal schlug es Mitternacht, – da stürmte es herauf, die Trommeln rührten sich, die Posthörner schmetterten, sie lösten ihre Flinten, sie jauchzten, die Studentenlieder tönten von allen Seiten, es stieg der Jubellärm, daß er mich beinah wie ein Meer umbrauste; – das vergesse ich nie, aber sagen kann ich auch nicht, wie mir so wunderlich war da oben auf schwindelnder Höhe, und wie es allmählich wieder still ward und ich mich ganz allein empfand. Ich ging zurück und schrieb an die Günderode; vielleicht finde ich den Brief noch unter meinen Papieren, dann will ich ihn beilegen; ich weiß, daß ich ihr die heißesten Bitten tat, mir zu antworten; ich schrieb ihr von diesen Studentenliedern, wie die gen Himmel geschallt hätten und mir das tiefste Herz aufgeregt; ja ich legte meinen Kopf auf ihre Füße und bat um Antwort und wartete mit heißer Sehnsucht acht Tage, aber nie erhielt ich eine Antwort; ich war blind, ich war taub, ich ahndete nichts. Noch zwei Monate gingen vorüber – da war ich wieder in Frankfurt; – ich lief ins Stift, machte die Tür auf: siehe da stand sie und sah mich an; kalt, wie es schien; »Günderod«, rief ich, »darf ich hereinkommen?« – Sie schwieg und wendete sich ab; »Günderod, sag nur ein Wort und ich lieg an deinem Herzen.« »Nein«, sagte sie, »komme nicht näher, kehre wieder um, wir müssen uns doch trennen.« – »Was heißt das?« – »So viel, daß wir uns ineinander geirrt haben und daß wir nicht[59] zusammengehören.« – Ach, ich wendete um! Ach, erste Verzweiflung, erster grausamer Schlag, so empfindlich für ein junges Herz! Ich, die nichts kannte wie die Unterwerfung, die Hingebung in dieser Liebe, mußte so zurückgewiesen werden. – Ich lief nach Haus zur Meline, ich bat sie mitzugehen zur Günderode, zu sehen, was ihr fehle, sie zu bewegen, mir einen Augenblick ihr Angesicht zu gönnen; ich dachte, wenn ich sie nur einmal ins Auge fassen könne, dann wolle ich sie zwingen; ich lief über die Straße, vor der Zimmertür blieb ich stehen, ich ließ die Meline allein zu ihr eintreten, ich wartete, ich zitterte und rang die Hände in dem kleinen engen Gang, der mich so oft zu ihr geführt hatte; – die Meline kam heraus mit verweinten Augen, sie zog mich schweigend mit sich fort; – einen Augenblick hatte mich der Schmerz übermannt, aber gleich stand ich wieder auf den Füßen; nun! dacht ich, wenn das Schicksal mir nicht schmeicheln will, so wollen wir Ball mit ihm spielen; ich war heiter, ich war lustig, ich war überreizt, aber Nächten weinte ich im Schlaf. – Am zweiten Tag ging ich des Wegs, wo ihre Wohnung war, da sah ich die Wohnung von Goethes Mutter, die ich nicht näher kannte und nie besucht hatte; ich trat ein. »Frau Rat«, sagte ich, »ich will Ihre Bekanntschaft machen, mir ist eine Freundin in der Stiftsdame Günderode verloren gegangen, und die sollen Sie mir ersetzen.« – »Wir wollen's versuchen«, sagte sie, und so kam ich alle Tage und setzte mich auf den Schemel und ließ mir von ihrem Sohn erzählen und schrieb's alles auf und schickte es der Günderode; – wie sie in's Rheingau ging, sendete sie mir die Papiere zurück; die Magd, die sie mir brachte, sagte, es habe der Stiftsdame heftig das Herz geklopft, da sie ihr die Papiere gegeben, und auf ihre Frage, was sie bestellen solle, habe sie geantwortet: »Nichts.« –

Es vergingen vierzehn Tage, da kam Fritz Schlosser; er bat mich um ein paar Zeilen an die Günderode, weil er ins Rheingau reisen werde und wolle gern ihre Bekanntschaft machen. Ich sagte, daß ich mit ihr brouilliert sei, ich bäte ihn aber, von mir zu sprechen und achtzugeben, was es für einen Eindruck auf sie mache. – »Wann gehen Sie hin «, sagte ich, »morgen?« – »Nein, in acht Tagen.« – »O gehen Sie morgen, sonst treffen Sie sie nicht mehr; – am Rhein ist's so melancholisch«, sagte ich scherzend, »da könnte sie sich ein Leid's antun;« – Schlosser sah mich ängstlich an. »Ja ja«, sagte ich mutwillig, »sie stürzt sich ins Wasser oder ersticht sich aus bloßer Laune.« – »Frevlen Sie nicht«, sagte Schlosser, und nun frevelte ich erst recht: »Geben Sie acht, Schlosser, Sie finden Sie nicht mehr, wenn Sie nach alter Gewohnheit zögern, und ich sage Ihnen, gehen Sie heute lieber wie morgen und retten Sie sie von unzeitiger melancholischer Laune;« – und im Scherz beschrieb ich sie, wie sie sich umbringen werde, im roten Kleid, mit aufgelöstem Schnürband, dicht unter der Brust die Wunde; das nannte man tollen Übermut von mir, es war aber bewußtloser Überreiz, indem ich die Wahrheit vollkommen genau beschrieb. – Am andern Tag kam Franz und sagte: »Mädchen, wir wollen ins Rheingau[60] gehen, da kannst Du die Günderode besuchen.« – »Wann?« fragte ich – »Morgen«, sagte er; – ach, ich packte mit Übereile ein, ich konnte kaum erwarten, daß wir gingen; alles, was mir begegnete, schob ich hastig aus dem Weg, aber es vergingen mehrere Tage und es ward die Reise immer verschoben; endlich, da war meine Lust zur Reise in tiefe Trauer verwandelt, und ich wär lieber zurückgeblieben. – Da wir in Geisenheim ankamen, wo wir übernachteten, lag ich im Fenster und sah ins mondbespiegelte Wasser; meine Schwägerin Toni saß am Fenster; die Magd, die den Tisch deckte, sagte: »Gestern hat sich auch eine junge schöne Dame, die schon sechs Wochen hier sich aufhielt, bei Winckel umgebracht; sie ging am Rhein spazieren ganz lang, dann lief sie nach Hause, holte ein Handtuch; am Abend suchte man sie vergebens; am andern Morgen fand man sie am Ufer unter Weidenbüschen, sie hatte das Handtuch voll Steine gesammelt und sich um den Hals gebunden, wahrscheinlich, weil sie sich in den Rhein versenken wollte, aber da sie sich ins Herz stach, fiel sie rückwärts, und so fand sie ein Bauer am Rhein liegen unter den Weiden an einem Ort, wo es am tiefsten ist. Er riß ihr den Dolch aus dem Herzen und schleuderte ihn voll Abscheu weit in den Rhein, die Schiffer sahen ihn fliegen, – da kamen sie herbei und trugen sie in die Stadt.« – Ich hatte im Anfang nicht zugehört, aber zuletzt hört ich's mit an und rief: »Das ist die Günderode!« Man redete mir's aus und sagte, es sei wohl eine andre, da so viel Frankfurter im Rheingau wären. Ich ließ mir's gefallen und dachte: grade, was man prophezeie, sei gewöhnlich nicht wahr. – In der Nacht träumte mir, sie käme mir auf einem mit Kränzen geschmückten Nachen entgegen, um sich mit mir zu versöhnen; ich sprang aus dem Bett in des Bruders Zimmer und rief: »Es ist alles nicht wahr, eben hat mir's lebhaft geträumt!« »Ach«, sagte der Bruder, »baue nicht auf Träume!« – Ich träumte noch einmal, ich sei eilig in einem Kahn über den Rhein gefahren, um sie zu suchen; da war das Wasser trüb und schilfig, die Luft war dunkel und es war sehr kalt; – ich landete an einem sumpfigen Ufer, da war ein Haus mit feuchten Mauern, aus dem schwebte sie hervor und sah mich ängstlich an und deutete mir, daß sie nicht sprechen könne; – ich lief wieder zum Schlafzimmer der Geschwister und rief: »Nein, es ist gewiß wahr; denn mir hat geträumt, daß ich sie gesehen habe, und ich hab gefragt: ›Günderode, warum hast Du mir dies getan?‹ Da hat sie geschwiegen, hat den Kopf gesenkt und hat sich traurig nicht verantworten können.« – Nun überlegte ich im Bett alles und besann mich, daß sie mir früher gesagt hatte, sie wolle sich erst mit mir entzweien, eh sie diesen Entschluß ausführen werde; nun war mir unsre Trennung erklärt; auch daß sie mir ein Zeichen geben werde, wenn ihr Entschluß reif sei; – das war also die Geschichte von ihrer toten Schwester, die sie mir ein halb Jahr früher mitteilte; da war der Entschluß schon gefaßt. – O ihr großen Seelen, dieses Lamm in seiner Unschuld, dieses junge zaghafte Herz, welche ungeheure Gewalt hat es bewogen, so zu handeln? – Am andern Morgen fuhren wir bei früher Zeit auf dem Rhein[61] weiter; – Franz hatte befohlen, daß das Schiff jenseits sich halten solle, um zu vermeiden, daß wir dem Platz zu nahe kämen, aber dort stand der Fritz Schlosser am Ufer, und der Bauer, der sie gefunden, zeigte ihm, wo der Kopf gelegen hatte und die Füße und daß das Gras noch niederliege, – und der Schiffer lenkte unwillkürlich dorthin, und Franz bewußtlos sprach im Schiff alles dem Bauern nach, was er in der Ferne verstehen konnte, und da mußt ich denn mit anhören die schauderhaften Bruchstücke der Erzählung vom roten Kleid, das aufgeschnürt war, und der Dolch, den ich so gut kannte, und das Tuch mit Steinen um ihren Hals, und die breite Wunde; – aber ich weinte nicht, ich schwieg. – Da kam der Bruder zu mir und sagte: »Sei stark, Mädchen.« – Wir landeten in Rüdesheim; überall erzählte man sich die Geschichte; ich lief in Windesschnelle an allen vorüber, den Ostein hinauf eine halbe Stunde bergan, ohne auszuruhen; – oben war mir der Atem vergangen, mein Kopf brannte, ich war den andern weit vorausgeeilt. – Da lag der herrliche Rhein mit seinem smaragdnen Schmuck der Inseln; da sah ich die Ströme von allen Seiten dem Rhein zufließen und die reichen friedlichen Städte an beiden Ufern und die gesegneten Gelände an beiden Seiten; da fragte ich mich, ob mich die Zeit über diesen Verlust beschwichtigen werde, und da war auch der Entschluß gefaßt, kühn mich über den Jammer hinauszuschwingen; denn es schien mir unwürdig, Jammer zu äußern, den ich einstens beherrschen könne.[62]

Quelle:
Bettina von Arnim: Werke und Briefe. Bde. 1–5, Band 2, Frechen 1959, S. 13-63.
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