Vierzehntes Kapitel

[276] Auf dem Balkon eines der geschmackvollen und eleganten Villen, welche das sanft aufsteigende, mit Reben bedeckte rechte Ufer der Elbe unterhalb Dresden schmücken, saß an einem milden Juniabend eine Dame von etwa acht und zwanzig Jahren, den gedankenvollen Blick auf die Zeilen eines Briefes gerichtet, den sie mit der rechten, sehr zarten und weißen Hand hielt, während die Linke nachlässig über die Balkonlehne hinabhing. Als sie das Ende des Briefes erreicht hatte, ließ sie die Hand auf den Schooß sinken.

»Es konnte nicht anders kommen« – sagte sie halblaut. – »Und doch – wer kann's wissen, ob schon alle Hoffnung verloren. Sie oder Ich – vielleicht Beide.«[276]

Sie seufzte und rief darauf, den Brief zusammenfaltend, in die offene Salonthüre hinein: »Marie!«

»Mein Gott, gnädige Frau, wie bleich sehen Sie aus! Was ist geschehen?«

»Wann ist der Brief abgegeben?« – fragte die Dame, ohne auf die Aeußerungen des jungen Mädchens Rücksicht zu nehmen.

»Schon heute Vormittag, als Sie eben fortgeritten waren.«

»So kann ich ihn jeden Augenblick erwarten« – sagte Jene vor sich hin, indem eine flüchtige Röthe ihre Wangen färbte.

Einige Minuten später öffnete ein Mann die Thüre des Gartens, auf den der Balkon hinausging und näherte sich mit langsamen Schritten dem Hause. Die Dame war aufgestanden, um den Nahenden zu bewillkommnen.

Ihr Herz schlug fast hörbar, und eine tiefe Beklommenheit schien sich in den ängstlichen Blicken und dem schnellen Auf- und Abwogen ihres Busens kund zu geben.

Endlich standen Beide einander gegenüber und betrachteten sich einige Sekunden mit großer Aufmerksamkeit.

»Du hast Dich sehr verändert, Richard« – sagte die Dame sanft.[277]

Ein bitteres Lächeln flog über die abgezehrten und bis zur Unkenntlichkeit gealterten Züge Landsfelds.

»Findest Du das? – Um so mehr freue ich mich darüber, wie gut Du Dich konservirt hast, Alice.«

Nun lud sie ihn zum Sitzen ein. Nach einer langen Pause, während welcher Beide sich ihren Betrachtungen überlassen zu haben schienen, sagte endlich Landsfeld mit bebender Stimme:

»Ich komme vom Sonnenstein –«

»Wie befindet sie sich? – ist keine Aenderung in ihrem Zustande sichtbar?«

»Keine – seit zwei Jahren, das heißt seit zwei maßlosen Ewigkeiten – keine!«

»Hat sie Dich gesehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte den Abscheu, der sie bei meinem Anblick zu ergreifen pflegt, nicht mehr ertragen. – Aber – lassen wir ruhen, was begraben ist. Ich habe unsagbar gebüßt, und muß Ruhe haben – Ruhe. – Im Sturm des Oceans, wenn die Windsbraut die Elemente in einander jagte und ihr Geheul anstimmte zu der Vermählung des Himmels mit dem Meere: da war mir auf Augenblicke wohl – aber nur auf Augenblicke. Ich habe dem Tode in's Angesicht gesehen, aber die Erlösung fand ich nicht.«[278]

Er schwieg, dann, als besänne er sich plötzlich, weshalb er gekommen sei, fragte er: »Und Du sagst mir nichts von meinem, von – ihrem Kinde.«

Stumm stand Alice auf und führte ihn, seine hand ergreifend, in das Haus hinein. Nachdem sie durch mehrere Zimmer geschritten, öffnete sie endlich durch den Druck einer verborgenen Feder eine Tapetenthür und sagte, in's Innere hineinweisend: »dort.«

Es war ein kleines, überaus lieblich geschmücktes Gemach, welches durch die buntgemalten Fenster mit einem sanften warmen Schein erfüllt wurde. Gerade der Thüre gegenüber stand eine kostbar gearbeitete Wiege, und darin lag, von einer weißseidenen Decke bis zur Brust verhüllt, ein junges, sehr zartes Kind, die kleinen Händchen über der Brust gefaltet. – Landsfeld trat näher. Eine Thräne – seit zwei langen Jahren die erste – trat in sein Auge, als er sich über die Wiege beugte, um einen Kuß auf die weiße Stirn des schlafenden Engels zu drücken. Aber als hätte er eine Natter berührt, so fuhr er zurück. Sein Haar sträubte sich, seine Augen rollten fürchterlich, als wollten sie ihre Höhlen verlassen, seine Lippen stammelten unartikulirte Laute.[279]

»Richard« – sagte Alice, ihn mit Gewalt aus dem Zimmer ziehend – »es ist Alles, was Du jetzt von Deinem Glücke hast. Sei ein Mann, und fasse Dich. – Wohl ihm, daß es gestorben ist. Was wäre sein Leben gewesen, als eine Qual?«

Sie hatte ihn bei diesen Worten in ein anderes Zimmer geführt.

Mit fahlen Zügen und zitternden Lippen, den irren Blick auf einen Punkt gerichtet, hörte er die Worte Alicens, aber keine Veränderung in seinen Mienen bewies, daß er sie verstanden. Endlich sagte er mit leiser und gebrochener Stimme, indem er die Hände verzweiflungsvoll vor das Gesicht schlug: »Todt – todt – Alles gemordet – Alles.«

Alice sah mit kummervollen Blicken auf den Verzweifelnden. Sie fühlte, daß er nie mehr glücklich werden könne, daß sein Leben ihm nur eine ewige Last sein werde.

»Lasse es mich noch einmal sehen, Alice« – sagte er endlich – »nur einmal noch, ehe ich scheide.«

Sie zauderte einen Augenblick – dann drückte sie auf's Neue an der Feder und die Thüre öffnete sich wie das erstemal.

Landsfeld kniete an der Wiege nieder und blickte[280] lange auf das todte Kind. Endlich stand er auf. Seine Züge waren ruhig, fast heiter, als er zu Alicen sprach:

»Was würdest Du an meiner Stelle thun, Alice?«

»Sterben« – sagte diese ruhig.

»Das dachte ich auch – aber darf ich hier sterben?« – Er wies auf die Wiege.

»Ja!«

Alice wandte sich zum Gehen.

»Alice« – rief er noch einmal. Er hatte ihr beide Hände entgegengestreckt. Da vermochte sie sich nicht länger zu halten. Weinend stürzte sie in seine Arme und drückte einen langen – langen Scheidekuß auf seine kalten Lippen.

Er wandte sich sanft aus ihren Armen und blickte sie flehentlich an.

Sie stürzte hinaus und schloß die Thüre, neben der sie sich auf den Boden niederkauerte.

Nach einigen Minuten erfolgte eine Explosion. Sie sprang empor und trat ein.

Landsfeld lag über der Wiege ausgestreckt. Die Kugel war ihm mitten durch das Herz gegangen. Alice stürzte sich über ihn.

»O, Richard« – stöhnte sie schluchzend. –[281] »Ich, ich habe Dich allein und wahrhaft geliebt.« –

Eine tiefe Ohnmacht lagerte sich wie ein Schleier über ihre Sinne.[282]

Quelle:
Louise Aston: Lydia, Magdeburg 1848, S. 276-283.
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