3. Der Name Gottes.

[43] Es traten zu einer Zeit die Weisesten des Landes zusammen, um zu berathen und zu entscheiden, mit welchem Namen Gott am meisten geehrt und am würdigsten dargestellt[43] würde. Einige meinten, man sollte ihn den Gott der Macht nennen, weil er der Bewältiger des Meeres und der Gebieter der Stürme und der Lenker der Schlachten sei. Andere sagten, er solle der Gott des Reichthums heißen, weil die Erde voll sei von seinen Schätzen, und Alles, was da lebt und webt, Leben und Gedeihen von ihm habe. Wieder Andere schlugen vor, man solle ihn den Gott der Weisheit nennen; denn Reichthum und Macht seien ja in der Hand Gottes nur darum heilsam und segenbringend, weil er sie zum Nutzen und Frommen zu gebrauchen wisse. Zuletzt, als alle übrigen ihre Aeußerung gethan, wurde noch der älteste unter ihnen, der bisher stillgeschwiegen, um seine Meinung gefragt. Dieser aber bat sich Zeit aus bis auf den folgenden Tag, um der Sache weiter nachsinnen zu können. Des andern Tags, als er wieder gefragt wurde, sprach er: Je mehr ich nachdenke, was Gott sei, und welcher Name ihm vor Allem gebühre, desto weniger kann ich es erforschen. Man verwilligte ihm noch einen Tag zu weiterem Bedenken, und der Alte unterzog sich demüthig dem Auftrage. Als nun am dritten Tage die Versammlung wieder gehalten wurde, trat der Greis mit verklärtem Angesicht unter sie, und öffnete den Mund und sprach: Vernehmet, was mir in einer heiligen Stunde veroffenbaret wurde. Indem ich die Nacht wieder der Betrachtung obliegen wollte, wie ich seit zwei Nächten gethan, kam mir der Gedanke in den Sinn, daß doch Gott nur allein wissen könne, was er sei, und der Mensch nur so weit, als es ihm Gott offenbare. Dieses bedenkend, warf ich mich auf die Kniee, und harrte in brünstigem Gebete wol drei Stunden lang. Und Gott erhörte mein Flehen. Denn es erschien mir ein Jüngling, in schneeweißem Gewande, mit Strahlen um sein Haupt, und mit einem Bildniß auf seiner Brust. Und er deutete auf das Bildniß. Erlaßt mir die Beschreibung; denn mein Mund kann nicht aussprechen, was mein Auge gesehen. Dieß Eine vernehmt: Die Gestalt[44] streckte die Rechte aus, als verheiße sie; und sie hielt die Linke dar, als erwarte sie; und wo das Herz schlägt, da war die Brust offen und frei, und aus dem milden Antlitz, welches gegen das bewegte Herz sich senkte, sprach es in einer, nur dem Herzen verständlichen Sprache: Ich verzeihe! Da ward es mir mit einem Male klar und gewiß, mit welchem Namen Gott am würdigsten genannt werden solle. Denn indem ich mein und der Menschen Leben vor den Augen meines Geistes vorübergehen ließ, gewahrte ich überall Spuren und Zeichen, wie Gott den Frommen Glück und Segen verheiße, die Sünder zur Buße und Bekehrung erwarte, und die Unbild und den Undank, den ihm die Menschen erweisen, gern verzeihe. Und darum – schloß der Greis seine Rede – ist und sei sein Name: Der Gott der Gnaden. Die Versammlung gab Beifall, und faßte den Beschluß, daß alsbald dem ganzen Volke verkündet werde: Es gäbe keinen Namen, der Gott mehr ehrte und Gottes würdiger wäre, als der Name: Gott der Gnaden!

Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Band 1, Leipzig [um 1878/79], S. 43-45.
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