34. Der Fruchtbaum.

[103] Ein König hatte einen schönen Baum in seinem Garten, der die köstlichsten Früchte trug. Nun geschah es aber von Jahr zu Jahr, daß die Früchte, sobald sie reif geworden, in einer Nacht vom Baume geholt wurden, ohne daß man des Diebes ansichtig oder habhaft werden konnte. Da gebot endlich der König seinen eigenen Söhnen, daß sie, der Reihe nach, auf die Früchte Obacht haben sollten. Der älteste, den im ersten Jahre die Reihe traf, dachte sich: Bin[103] ich doch eines Königs Sohn und habe Macht über meine Diener, daß sie statt meiner wachen! Und er berief alsbald viele Männer, versah sie mit Waffen und stellte sie jeden Abend rings um den Garten auf, daß kein Dieb ungesehen und ungestraft herannahen und den Baum berauben konnte. Aber dessen ungeachtet wurden in einer Nacht alle Früchte weggeholt, ohne daß von den Wächtern der Räuber bemerkt worden wäre. Im folgenden Jahre drauf wurde die Sorge für den Baum und seine Früchte dem zweiten Sohne des Königs übertragen. Dieser dachte bei sich: Warum soll ich mir lange Mühe geben, zu wachen, wo doch alle Gewalt umsonst wäre? List muß mit List gefangen werden. Er berief daher kunstreiche Männer und trug ihnen auf, eine künstliche Hecke von Eisen um den Baum zu machen, der Art, daß keiner hineindringen, oder, wer sie auch überstiege, nicht mehr herauskommen könnte. Die Hecke wurde zur rechten Zeit gefertigt. Aber in einer Nacht waren wiederum alle Früchte rein abgepflückt, ohne daß man hätte eine Spur des Räubers wahrnehmen können. Nun kam die Reihe an den jüngsten Sohn des Königs, der von den Leuten als ein Dummling galt. Der begab sich voll guten Willens zum Baum und schlief bei Tag, wo andere Leute wachten, und wachte bei Nacht, wo andere Leute schliefen. Als nun die entscheidende Nacht gekommen, sah er eine weiße Taube herbeifliegen, die einen Apfel nach dem andern pflückte und forttrug. Verscheuchen konnte er sie nicht, und tödten wollte er sie nicht; aber er war doch neugierig, zu sehen, wohin das Thierlein die Früchte trage. Er ging daher des Wegs, wohin die Taube ihren Flug nahm; und als sie so eben den letzten Apfel vorbei trug, stand er vor einem Berge, in dessen Ritze die Taube verschwand. Alsbald stieg er hinab; und als er tiefer in die Schlucht kam, erblickte er die weiße Taube, von Spinnengewebe umstricket, die ängstlich zappelte. Er riß sogleich die Fäden entzwei, und wie er den letzten abgelöset, siehe! da[104] stand eine schöne Jungfrau vor ihm, die eine verzauberte Königstochter gewesen, und die er nun gleichfalls erlöset hatte. Er führte sie heim und vermählte sich mit ihr. Und an den Früchten, die in der Felsritze aufgehäuft lagen und lauter kostbare Edelsteine waren, besaß er einen Schatz, wie ihn kein König auf Erden hatte, weshalb ihn auch die Brüder nicht wenig beneideten. Der Baum selbst aber im Schloßgarten blieb von jener Zeit an unfruchtbar, und ist zuletzt ganz verdorret.

Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Band 2, Leipzig [um 1878/79], S. 103-105.
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