Erste Szene


[130] Freies Feld. Ein Wirtshaus im Hintergrund Leonce und Valerio, der einen Pack trägt, treten auf.


VALERIO keuchend. Auf Ehre, Prinz, die Welt ist doch ein ungeheuer weitläufiges Gebäude.

LEONCE. Nicht doch! Nicht doch! Ich wage kaum die Hände auszustrecken, wie in einem engen Spiegelzimmer, aus Furcht, überall anzustoßen, daß die schönen Figuren in Scherben auf dem Boden lägen und ich vor der kahlen nackten Wand stünde.

VALERIO. Ich bin verloren.

LEONCE. Da wird niemand einen Verlust dabei haben, als wer dich findet.

VALERIO. Ich werde mich nächstens in den Schatten meines Schattens stellen.

LEONCE. Du verflüchtigst dich ganz an der Sonne. Siehst du die schöne Wolke da oben? Sie ist wenigstens ein Viertel von dir. Sie sieht ganz wohlbehaglich auf deine gröberen materiellen Stoffe herab.

VALERIO. Die Wolke könnte Ihrem Kopf nichts schaden, wenn man sie Ihnen Tropfen für Tropfen darauf fallen ließe. – Ein köstlicher Einfall! Wir sind schon durch ein Dutzend Fürstentümer, durch ein halbes Dutzend Großherzogtümer und durch ein paar Königreiche gelaufen, und das in der größten Übereilung in einem halben Tag – und warum? Weil man König werden und eine schöne Prinzessin heiraten soll! Und Sie leben noch in einer solchen Lage? Ich begreife Ihre Resignation[130] nicht. Ich begreife nicht, daß Sie nicht Arsenik genommen, sich auf das Geländer des Kirchturms gestellt und sich eine Kugel durch den Kopf gejagt haben, um es ja nicht zu verfehlen.

LEONCE. Aber Valerio, die Ideale! Ich habe das Ideal eines Frauenzimmers in mir und muß es suchen. Sie ist unendlich schön und unendlich geistlos. Die Schönheit ist da so hülflos, so rührend wie ein neugebornes Kind. Es ist ein köstlicher Kontrast: diese himmlisch stupiden Augen, dieser göttlich einfältige Mund, dieses schafnasige griechische Profil, dieser geistige Tod in diesem geistlosen Leib.

VALERIO. Teufel! da sind wir schon wieder auf der Grenze. Das ist ein Land wie eine Zwiebel: nichts als Schalen, oder wie ineinandergesteckte Schachteln: in der größten sind nichts als Schachteln und in der kleinsten ist gar nichts. Er wirft seinen Pack zu Boden. Soll denn dieser Pack mein Grabstein werden? Sehen Sie, Prinz – ich werde philosophisch –, ein Bild des menschlichen Lebens: Ich schleppe diesen Pack mit wunden Füßen durch Frost und Sonnenbrand, weil ich abends ein reines Hemd anziehen will, und wenn endlich der Abend kommt, so ist meine Stirn gefurcht, meine Wange hohl, mein Auge dunkel, und ich habe grade noch Zeit, mein Hemd anzuziehen, als Totenhemd. Hätte ich nun nicht gescheiter getan, ich hätte mein Bündel vom Stecken gehoben und es in der ersten besten Kneipe verkauft, und hätte mich dafür betrunken und im Schatten geschlafen, bis es Abend geworden wäre, und hätte nicht geschwitzt und mir keine Leichdörner gelaufen? Und, Prinz, jetzt kommt die Anwendung und die Praxis: aus lauter Schamhaftigkeit wollen wir jetzt auch den inneren Menschen bekleiden und Rock und Hosen inwendig anziehen. Beide gehen auf das Wirtshaus los. Ei, du lieber Pack, welch ein köstlicher Duft, welche Weindüfte und Bratengerüche! Ei, ihr lieben Hosen, wie wurzelt ihr im Boden und grünt und blüht! und die langen, schweren Trauben hängen mir in den Mund, und der Most gärt unter der Kelter. Sie gehen ab.


[131] Prinzessin Lena, die Gouvernante kommen.


GOUVERNANTE. Es muß ein bezaubernder Tag sein, die Sonne geht nicht unter, und es ist so unendlich lang seit unsrer Flucht.

LENA. Nicht doch, meine Liebe, die Blumen sind ja kaum welk, die ich zum Abschied brach, als wir aus dem Garten gingen.

GOUVERNANTE. Und wo sollen wir ruhen? Wir sind noch auf gar nichts gestoßen. Ich sehe kein Kloster, keinen Eremiten, keinen Schäfer.

LENA. Wir haben alles wohl anders geträumt mit unsern Büchern hinter der Mauer unsers Gartens, zwischen unsern Myrten und Oleandern.

GOUVERNANTE. O, die Welt ist abscheulich! An einen irrenden Königssohn ist gar nicht zu denken.

LENA. O, sie ist schön und so weit, so unendlich weit! Ich möchte immer so fort gehen, Tag und Nacht. Es rührt sich nichts. Ein roter Blumenschein spielt über die Wiesen, und die fernen Berge liegen auf der Erde wie ruhende Wolken.

GOUVERNANTE. Du mein Jesus, was wird man sagen? Und doch ist es so zart und weiblich! Es ist eine Entsagung. Es ist wie die Flucht der heiligen Ottilia. Aber wir müssen ein Obdach suchen: es wird Abend!

LENA. Ja, die Pflanzen legen ihre Fiederblättchen zum Schlaf zusammen, und die Sonnenstrahlen wiegen sich an den Grashalmen wie müde Libellen.


Quelle:
Georg Büchner: Werke und Briefe. Frankfurt a.M. 131979, S. 130-132.
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