III

[213] Ehe sie noch das Haus erreichten, kam Arthur Hohenstein ihnen langsam entgegen. Er hatte versprochen, Charlotten draußen[213] im Gymnasium abzuholen, und entschuldigte sich nun, nachdem sie sich gegenseitig mit heller Freude begrüßt, damit, daß ein unvorhergesehenes Geschäft ihn davon abgehalten. Der Abend war wunderschön, und Arthur schlug seiner Frau vor, noch einen Spaziergang zu machen; sie willigte freundlich ein und sagte dann: »Zuvor aber mache unsrem jungen Hausgenossen Dein Compliment über die schöne Rede, welche er soeben gehalten, es ist Schade, Arthur, daß Du sie nicht gehört hast!« Arthur wandte sich zu dem jungen Manne, der verlegen niedersah: »Es freut mich dies zu hören, aber, Sie nehmen es mir nicht übel, daß ich fehlte – Actusreden – große Kinderei. Sie wissen selbst am besten, wie viel dahinter steckt. Man stellt einige schöne Redensarten zusammen, und Alles ist gerührt, der Director obenan.«

Ludwig sah ihn nun groß und voll an, er wußte, wie viel von Neid in Hohenstein's Reden lag, der es nicht leicht ertrug, wenn ein Anderer in seiner Gegenwart gelobt wurde, er antwortete ruhig: »Es ist oft so, wie Sie sagen, aber mir war es keine Kinderei; was ich sagte, meinte ich auch sehr ernstlich!«

»Wird sich schon legen, lieber junger Mann«, sagte Hohenstein sarkastisch und klopfte ihm leicht auf die Schulter. Ludwig wich wie gestochen vor ihm zurück. »Phrasenmacher mögen das denken, Herr Hohenstein«, sagte er scharf, »nur ächte Gesinnung legt sich nicht, sie wächst mit uns und trägt uns zu Dem empor, was wir erstreben.«

»Schön gesagt, brav«, fuhr Hohenstein im Tone der Ueberlegenheit fort, und Ludwig hob trotzig den Kopf wie zu einer gereizten Antwort. Aber schon hatten Mutter und Schwester ihn an den Händen gefaßt: »Komm herein, Ludwig,« sagte die Mutter, »ich habe heute Abend noch die Hände voll zu thun, bis der Vater nach Hause kommt, und Du bist gewiß hungrig und durstig. Unser Thee, den Du so sehr liebst, wird bereit stehen. Es würde mich sehr gefreut haben«, fuhr sie,[214] gegen Charlotte und ihren Mann gewendet fort, »wenn Sie mir auch das Vergnügen geschenkt hätten!«

»Danke herzlich«, antwortete Charlotte, »wir wollen den schönen Abend noch ein wenig benutzen. Ich danke Ihnen recht sehr, daß Sie mich mitgenommen, und auch Ihnen, Herr Brandeis, danke ich für den Genuß, den sie uns bereitet; Adieu, Gustchen!« Mit freundlichem Knopfnicken ging sie am Arm des Gatten weg, und Frau Brandeis trat mit ihren Kindern in das Haus, nachdem Ludwig noch einmal sich umgesehen und den Weggehenden mit einem langen Blick gefolgt war.

Die Beiden schritten schweigend bis vor das nahegelegene Thor, Eines unzufrieden mit dem Andern. Charlotten hatte des Gatten sonderbare, protegirende Art dem Jüngling gegenüber mißfallen, und er ärgerte sich über das Lob, das sie ihm so reichlich gespendet. Jedes nahm sich vor, dem Andern nichts darüber zu sagen, aber wo wäre je ein solcher Vorsatz gehalten worden? Arthur brach nach Männer-Art zuerst hervor: »Du verdirbst den Jungen mit Deinen Schmeicheleien«, sagte er etwas rauh, »er ist so schon eingebildet genug«. »Du vergissest, antwortete Charlotte sanft, »daß ich heute zum Erstenmal mit ihm sprach, und überdies sagte ich ihm keine Schmeichelei, sondern die Wahrheit«.

»Es mag drum sein, ich gestehe zu, daß er talentvoll ist, aber ich mag den Jungen nicht.«

»Warum nicht, was hat er Dir gethan?«

»Mir gethan? natürlich nichts! Was könnte dieses Kind mir thun? Aber sieh nur, wie weltverachtend er den Kopf trägt, wie er gleich aufbegehrt, wie er über Alles seine eigene Meinung hat. Ich kenne ihn etwas länger als Du!«

»Mein Lieber, Du vergissest, seine Jugend mit in Anschlag zu bringen. Daß Ihr alten Leute doch immer vergeßt, wie auch Ihr gewesen seid«, fuhr sie fort, ihn mit ihrem lieblichen Lächeln ansehend, »meinst Du, ich könne mir nicht denken, daß Du auch einmal ein recht kecker Bursche gewesen bist, dem nichts[215] recht war und der die Nase noch höher trug, als der gute Ludwig.«

»Nein, nein,« rief Arthur lebhaft, »ich war immer sehr bescheiden, sehr demüthig, viel zu demüthig.« –

»Nun, so sei es auch jetzt«, rief Charlotte lachend, »und bekenne, daß Du Unrecht hast, und sei freundlich und wohlwollend gegen Ludwig, wie es unsre Pflicht ist gegen die Jugend zu sein.«

Arthur lachte auch, sah ihr tief in die schönen Augen und drückte zärtlich ihre Hand an seine Brust.

»Wer so freundlich gegen die Jugend gesinnt ist, kann es auch gegen das Alter sein«, sagte plötzlich eine starke Stimme neben ihnen, daß Charlotte erschrocken zusammenfuhr; Beide sahen sich um und erblickten neben sich grüßend einen großen Mann, den wir schon unter seinem Spitznamen, dem des »Frosch«, kennen gelernt. Er war mit Arthur ziemlich nahe befreundet, schätzte ihn als seinen früheren Schüler noch von dem Gymnasium her und sprach sich bei ihm gerne über Manches aus, was er sonstwo nicht gut konnte.

»Schon seit einer Viertelstunde keuche ich Ihnen nach, meine Verehrteste«, sagte er zu Charlotte, »ich erkannte Sie an dem Wehen Ihres blauen Schleiers, und obgleich man eigentlich Neuvermählte bei ihren ersten Gängen durch Hain und Flur nicht stören soll, so überwog doch meine Lust, heute nicht allein spazieren zu gehen, mein Bedenken«.

Charlotte lachte und erwiederte: »Sie sind uns recht willkommen, Herr Doctor,« und Arthur fügte hinzu: »Ich kann es mir denken, daß Sie sich darnach sehnen, den heutigen Schulhypochonder wieder zu verlaufen.«

»Gehen wir in den Wald?« fragte der Hinzugekommene am Ende einer langen Allee von noch dürren Lindenbäumen, die in grader Linie von dem Thore nach einem Tannenwalde führte. »Ja«, sagte Charlotte lebhaft, »dieser Wald gefällt mir[216] bis jetzt am Besten von Allem, was ich noch hier gesehen, so nahe bei der Stadt, so bequem zu erreichen, es ist mein liebster Spaziergang.«

»Ich widerspreche nicht«, war des Doctors trockne Antwort, »im Frühling und Herbst liebe ich ihn auch, besonders am Abend, wenn die Sonne, wie jetzt, die Spitzen der dunklen, schlanken Bäume übergoldet.«

»Und hören Sie die Lerche?« fiel Charlotte frohlockend ein, »die drüben in dem Felde ihr Liedchen singt; so frisch und wohl wird mir's auch hier bei dem balsamischen Duft dieser grünen Tannen. Es ist doch recht schön, in Deiner Heimath, Arthur!« »Ach ja, wenn man's obenhin betrachtet«, erwiederte er, »aber ich bewundre Sie, Doctor, wie poetisch Sie diesen Aprilabend auffassen, der anfängt, mir etwas fröstelnd über den Rücken zu laufen. Hat Landmann Sie mit seiner Poesie angesteckt?«

»Gott Lob, nein, aber heute ist es ihm gut gegangen, lassen Sie sich erzählen« – und nun erzählte er den Auftritt in dem Gymnasium, während Charlotte mit heitrem Lachen accompagnirte.

»Es ist mir doch leid für Landmann« sagte Arthur, als er geendigt.

»Leid? warum nicht gar! ich wollte, er würde noch öfter so blamirt. Dieser Mensch, der keine Idee von der Würde und dem ernsten Beruf eines Lehrers hat. Sehen Sie, es ist schrecklich, mit einem solchen Menschen an einem Strange zu ziehen; was ich und Andre gut zu machen suchen, verdirbt er wieder.«

»Je nun, das Lehramt hat seine großen Schwierigkeiten!«

»Brauchen Sie mir nicht zu sagen; ich empfinde jeden Tag, wie wahr der weise Salomo sprach, als er sagte: ›Wer lehren will, muß leiden!‹ aber wer nicht im Stande ist, die erste Bedingung zum Lehren, die Disciplin, aufrecht zu erhalten,[217] wer nicht einmal die Ordnung in seiner Klasse handhaben kann, dem sollte man es von Rechtswegen untersagen.«

»Von Rechtswegen, was geschieht denn bei uns von Rechtswegen?«

»Nichts, Sie haben Recht, noch nie habe ich so gut begriffen, was Talleyrand sagt: O, ihr lieben Leute, ihr wißt nicht, mit wie viel Dummheit und wenig Geschick die Welt regiert wird. – Sehen Sie diesen Landmann, er ist völlig unbefähigt zu seinem Amte; er soll die deutsche Sprache und Litteratur lehren; was thut er aber? er bringt die ganze Stunde mit unnützem Gerede herum, welches nicht zu der Sache gehört; Zeitungsgeklatsch, Politik, alles Mögliche verarbeitet er für sich selbst in lauten Monologen in der Stunde, und die armen Teufel müssen zuhören, werden ungeduldig, lachen ihn aus, lernen nichts und werden schließlich noch bestraft.«

»Er wirkt aber doch anregend«, wandte Arthur ein.

»Ja, anregend zur Confusion; die Unbedeutenden werden eitel, weil er ihnen glauben macht, sie seien poetische Genies, die Bedeutenden treibt er zur Wuth durch sein Geschwätz und seine Parteilichkeit.«

»Je nun, was ist da zu machen? er ist doch nun einmal vom Staate angestellt, man kann ihn nicht todt schlagen.«

»Ja, sehen Sie, das ist der Jammer, daß man darauf studiren kann, ein Lehrer zu werden, daß man ein Examen macht über seine Kenntnisse, aber Keines über seine Fähigkeit zum Unterrichten und Erziehen. Der Mann ist angestellt, folglich muß er an seinem Posten bleiben, wie schlecht er ihn auch ausfüllt.«

»Ich wiederhole Ihnen, man kann ihn doch nicht todtschlagen. Er hat diesen Beruf erwählt, er hat seine Zeit, sein Geld darauf verwendet, der Staat muß ihn erhalten.«

»Ganz gut, aber der Staat soll ihm lieber jedes Jahr seinen Gehalt geben und ihn verzehren lassen, wo er Lust[218] hat; besser, als daß er eine Generation nach der andern verdirbt.«

»Ja, mein Bester, da müßte erst der Staat anders eingerichtet sein, da müßte nicht das Geld für andre Dinge gebraucht werden.«

»Freilich, freilich, für die Erziehung, für das heiligste Gut der Menschheit, da ist immer nichts da, da wird gespart und gezwackt. Nächstens fällt uns auch noch unser Pädagog-Gebäude über den Köpfen zusammen und schlägt uns sämmtlich todt, dann braucht Niemand mehr erzogen zu werden und Niemand mehr zu verziehen. Aber ich wette, dem Landmann ist dann auch wieder das Glück günstig, er wittert Alles, er ist dann sicherlich auf Urlaub verreist.«

Arthur und Charlotte mußten laut lachen und Letztere sagte: »Sie sind ja ganz wild, ich glaube, Ludwig Brandeis hat Sie mit seiner Rede so aufgeregt«.

»Liebe Frau«, antwortete der Doctor, »ich kann nicht anders, ich muß wild werden, wenn ich an unsere erbärmlichen, deutschen Zustände denke, wie sie sich bis in's Kleinste manifestiren. Da drüben in Frankreich hat die Julirevolution kaum erst ein bischen aufgeräumt, bei uns bleibt es eben immer beim Alten.«

»St! St!« stammelte Arthur und war wirklich erschrocken, so daß Charlotte verwundert zu ihm aufsah, »Sie sprechen sich zu laut darüber aus.«

»Nun«, lachte der Doctor, »ich denke, wir sind hier so ziemlich allein unter diesen Bäumen, Sie brauchen sich nicht zu fürchten, um so mehr, da ich ja weiß, daß Sie ganz dasselbe denken.«

»Denken, o, gewiß! Niemand weiß es besser, Niemand fühlt es schmerzlicher, in welcher elenden Welt wir leben; wir haben ja nichts, keine freie Bewegung, kein öffentliches Leben, keine freie Presse. O, wenn wir eine freie Presse hätten, wie wollte ich schreiben, wie mein Herz ergießen!«[219]

Charlotte drückte leise aber innig ihres Mannes Hand, und der Doctor sagte: »Jetzt sprechen Sie wie ich, und vorhin waren Sie ganz erschrocken!«

»Ja, man wird so ängstlich hier«, sagte Arthur wieder mit sinkender Stimme, »Herr Doctor, es bleibt doch Alles unter uns!«

»Possen«! sagte der Andre unwillig, »sollten mich doch kennen, ein alter Burschenschafter, der auf der Wartburg die sauberen Bücher mitverbrennen half, und jetzt einen Menschen verrathen? Aber, um wieder auf Ludwig Brandeis zu kommen, das ist ein Feuerkopf, liebe Frau Hohenstein, und wie der Junge spricht, so ist es ihm auch um's Herz; aus Dem kann Großes werden, wenn die Polizei nicht vorher seine Größe wittert.«

»Hat er wirklich so gut gesprochen?« sagte Arthur, »meine Frau war sehr entzückt, aber mein gutes Lottchen schwärmt gern ein wenig« – setzte er hinzu, sie zärtlich ansehend!

»Du mußt immer necken«, flüsterte Charlotte, und der Doctor sagte: »Ja, es war gut; man merkte freilich die achtzehn Jahre und die griechisch-römischen Phrasen, die unser guter Director den Jungen eingeübt, aber es war auch eignes Feuer und Verständniß dabei. Aber ich kann Euch nicht sagen, wie die Burschen mich oft dauern; da werden sie bei uns in den Gymnasien groß gezogen mit der Weisheit der Classiker, ihr Kopf brennt von den Freiheitskriegen der Griechen, und der römische Republikanismus wächst ihnen in Fleisch und Bein. Keiner unter ihnen, der sich nicht selbst in Gedanken ein kleiner Cato oder Brutus dünkt, der nicht die Falten seiner Toga um sich drapirt und sich in eine wirklich gefühlte Gluth von Bürgertugend und Bürgerstolz hineindeklamirt. Mit diesem Himmel in der Brust werden sie denn hineingestoßen in die wirkliche Welt, in unsre kleinlichen, engen Verhältnisse, in denen sich schon eine Schwalbe den Kopf einrennt, geschweige denn ein Adler. Ihre Brust glüht von Freiheitsdrang, und sie müssen[220] Sclaven werden; sie fühlen sich als Cicero und Demosthenes im Dienste der Gerechtigkeit und Vaterlandsliebe zu reden befähigt, aber wo ist die Arena für die Eloquenz, die sie einmal im Leben auf dem Redeactus des Gymnasiums frei entfalten durften? Schweigt! donnert ihnen überall die Polizei entgegen; schweigt! heißt es in den Gerichtssälen, denn was wissen wir von öffentlichen Gerichten? schweigt! heißt es selbst in den Kammern, wenn ihr nicht Vertrauen zu flöten wißt. Nur auf der Kanzel, da dürfen sie sprechen, aber wie, das wissen wir Lehrer am besten, denen schon tausendmal ein beklommenes Mutterherz zugeflüstert: Meinen Sie nicht auch, Herr Doctor, mein Sohn sollte Theologie studiren, für etwas Anderes ist er zu beschränkt!«

»Sie malen schwarz«, unterbrach Arthur des Doctors Redefluß.

»Und doch noch lange nicht schwarz genug«, fuhr Jener hastig fort, »es ist genau so, wie ich Ihnen sage. Zwischen unserer sogenannten classischen Bildung und Erziehung und unserem wirklichen Staatsleben klafft ein Abgrund, in den sich noch manche edle Jünglingsgestalt opfernd hinabstürzen wird; aber ob es ihm dadurch gelingt, das Vaterland zu retten, ist eine andere Frage. Sehen Sie England an; es fällt mir gar nicht ein, das Land über Gebühr zu preisen, aber die Jugend von Eton und Oxford findet doch wenigstens dort Spielraum für ihre Kraft. Sie mögen ungestraft im Parlament und vor der Jury ihren Horaz und Aristoteles citiren, es läuft den englischen Staatsmännern nicht gleich eine Gänsehaut über den Rücken, wenn sie über Brutus ein ehrendes Wort vernehmen, und wenn ein Nero gebrandmarkt wird. Sie haben doch noch etwas von ihrer classischen Bildung, aber bei uns, du lieber Gott, wenn nicht ganz Griechenland und Rom bei unseren Abiturienten im ersten Semester auf der Universität im Bierfaß ersäuft wird, so sind es staatsgefährliche Menschen. Fort damit,[221] sage ich, gebt den armen Teufeln Wahrheit statt der Idealität, die nur dazu dient, sie unglücklich zu machen!«

»Und was wollen Sie ihnen statt dessen geben?«

»Die Realität, in der sie sich wenigstens einigermaßen frei bewegen können. Positive Lehrgegenstände sollten zum Theil die alten Classiker ersetzen: Mathematik, Geometrie, Naturwissenschaften, modernen Sprachen müßte mehr Spielraum gelassen werden; das mühsame Erlernen der alten Sprachen bringt den Jungen nur wenig Nutzen, und der Geist, den sie daraus lernen, führt sie nur in's Verderben!«

Hohenstein lachte laut auf: »Wieder ein Fünkchen des Streites zwischen realer und classischer Pädagogik, der in jüngster Zeit ganz ernstlich zu entbrennen droht! In Ihrer Argumentation erkenne ich recht deutlich den Geographen, den gereisten Mann, der England und Amerika gesehen und sich die Nützlichkeitsbestrebungen dieser beiden Länder gemerkt hat«.

»Ach, lieber Freund«, sagte der Doctor stehen bleibend und Hohenstein seine Hand auf die Schulter legend, »gut, erkennen Sie mich daran, erkennen Sie aber auch den Mann, der es tiefer als je empfindet, wo Deutschland der Schuh drückt. Wir gingen bei unserm Gespräch von der Erziehung der männlichen Jugend aus. Gut, bleiben wir auf diesem Felde; Sie können es nicht läugnen, Sie müssen es selbst empfunden haben, welchen Katzenjammer der denkende Jüngling empfindet, wenn er anfängt, seine ihm durch die Classicität vermittelte Bildung mit Dem zu vergleichen, was er nun in der Welt leisten soll, und was sie ihm bietet«.

»Ich läugne es auch nicht«, rief Hohenstein, »ich habe Vieles innerlich durchgekämpft, bis ich mich einigermaßen in der Welt zurechtfand, aber ich glaube, daß nur Wenige so fühlen – und dann, wollen Sie, daß darum die Blüthe des griechischen und römischen Geistes, daß darum jenes himmlische Kleinod,[222] das uns diese untergegangnen Völker hinterlassen, jene Kunde, wie der Mensch zum Menschen sich bildet, entzogen werde?«

»Glauben Sie, daß ich dieses Bildungsmittel an und für sich unterschätze? Glauben Sie, ich würde es nicht als die Krone eines besseren staatlichen Zustandes betrachten? Aber unsre Zeit braucht practische Menschen, und welche Garantie gibt uns dafür unsre Jugend? entweder träumt und schwärmt sie oder sie verkommt in Mittelmäßigkeit. Den Genialen und Gedankenreichen unter ihnen droht ein unheilvoller Kampf, in dem sie und noch manche Nachgeborne untergehen werden, und die Andern, was sind sie? Lernen, wissen, erstreben sie etwas mehr, als was ihr Fach zunächst mit sich bringt? Nur im alten Schlendrian können sie mit weiter ziehen, und sonst nichts. Diesen jungen Leuten wird einst die Verwaltung der Staatsgelder anvertraut werden, haben sie eine Ahnung von Staatsökonomie? wissen sie, wie man die Industrie eines Landes hebt? haben sie ein Herz für den Schrei des Elends, der aus den untereren Volksklassen immer vernehmlicher herauftönt? Die Rechtspflege des Landes wird ihnen anvertraut sein, wissen sie, welches Recht der alte Deutsche in seinen Wäldern handhabte? wie er sich selbst das Recht sprach, frei, nach eignen Gesetzen, nicht, wie jetzt, hinter Schlössern und Riegeln, wo der Gefangene jahrelang in einer Untersuchungshaft seufzt, aus der er vielleicht schuldlos entlassen werden muß? Sehen Sie, dies sind die Stützen unsrer deutschen Staaten; Schwärmer, die Alles umzustürzen bereit sind, und Dummköpfe, eben so bornirt wie die Väter, die keinen Begriff haben von dem, was wirklich noth thut. So gehen sie aus unsren Lehranstalten hervor, dies sind die Keime, die dort in sie hineingepflanzt werden; sagen Sie nun, wo liegt die gesunde Vermittlung anders als in der Pflege der practischen Wissenschaften, damit es wenigstens materiell bei uns besser werde, da wir's politisch doch so bald nicht erreichen werden!«[223]

Charlotte hatte dem Manne mit aufmerksamer Spannung gelauscht, und das höfliche Gesicht des »Frosches« erschien ihr jetzt fast schön; als er geendet, winkte sie ihm freundlich zu und sagte lebhaft: »Ich glaube, Sie haben Recht, Herr Doctor, was Sie sagen, ist mir nicht unbekannt, ich habe es in Berlin auch schon in ähnlicher Weise aussprechen hören.« Der Doctor fuhr mit dem Tuch über die Stirne, die er sich ganz heiß geredet, und sagte: »In Berlin? ich dachte, da kümmere man sich nur um Aesthetik und Frömmigkeit?«

»Gottlob ja,« rief Hohenstein, »daß man sich dort noch nicht um die leidige Politik kümmert, dabei geht alle Poesie, aller Schwung zu Grunde! Aber kommt, wir müssen umkehren, es ist spät,« fuhr er fort, und setzte dann noch spöttisch hinzu: »ich will nicht hoffen, daß uns die heilige Hermandad unterwegs abfaßt wegen unsrer hochverrätherischen Reden!«

Sie wandelten wieder der Stadt entgegen, in der einzelne trübe Oellampen – von Gas wußte man damals noch nichts – zu schimmern begannen; Charlotte unterhielt sich lebhaft mit dem Doctor, welcher ihr von seinen Reisen erzählte, die er zu einer Zeit unternommen, wo er befürchten mußte, wegen einiger burschenschaftlichen Verbindungen, die er von der Universität her unterhalten hatte, in Untersuchung gezogen zu werden, wie es einigen seiner Freunde erging. Die Sache war ohne alle Bedeutung, aber man fürchtete sich schon damals mit vollem Recht vor dem geheimen Strafverfahren und der Demagogenriecherei.

Er zog es vor, einige Jahre in's Ausland zu gehen, und als er zurückkehrte, gelang es einigen einflußreichen Verwandten und Freunden, ihm die Stelle am Gymnasium zu verschaffen, was um so eher ging, als man es auch andrerseits wünschenswerth fand, einen Mann von seinen Kenntnissen zu gewinnen. Doch betrachtete man ihn immer noch allgemein als einen Demagogen, wie man damals die Leute nannte, welche sich zuweilen[224] erlaubte eine andere Meinung, als die Regierung, zu haben. Doch galt er nicht für gefährlich, und seine eigenthümliche Art zu sprechen, gewann ihm gewissermaßen das Recht, sich freier über Manches zu äußern, als dies sonst gebräuchlich war. Er gebrauchte außerdem die kleine Politik, immer nur erzählend auf die staatlichen Verhältnisse Englands und Amerikas hinzuweisen, seine Zuhörer mochten sich dann davon abnehmen und vergleichen, so viel ihnen gut dünkte. So war er nach und nach in einem Kreise von Lehrern, kleineren Beamten und einigen unabhängigen Leuten zur einer Art Autorität geworden, an die man sich in politischen Streitigkeiten, welche durch die Julirevolution und die Ereignisse in Polen selbst in den engsten Kreisen hervorgerufen waren, wandte. In einer Zeit, wo das Summen einer Fliege schon Furcht und Verdacht erregte, konnte dies natürlich nicht ganz ohne Anstoß bleiben, aber so beschränkt und schlecht auch damals schon die Regierungsweise war, es blieb doch einer späteren Zeit aufbehalten, die Leute ihrer bloßen Meinung wegen zu bestrafen. Man fühlte sich noch ganz sicher, und wie sehr man auch überall Verschwörung und Umsturz zu wittern suchte, um durch eclatante Bestrafung noch besser zu zeigen, wie fest und mächtig man sich wähnte, schlich doch nicht das Grauen einer wirklichen Revolution durch die Glieder der deutschen Machtinhaber. Man ließ also den Doctor ruhig »schwadroniren«, wie man sich in der Residenz ausdrückte, und konnte es um so eher, als er immer laut und heftig gegen den Unsinn von geheimen Verschwörungen declamirte.

Man redete wenig auf dem Heimweg; das vorausgegangene Gespräch war so reich an Anregungen gewesen, daß Jedes das Gesprochene noch einmal über dachte. Fast hatten sie das Thor erreicht, welches in die Stadt führte, als ihnen zugleich eine ungewöhnliche Bewegung in der Nähe desselben auffiel. »Was bedeutet dies?« rief der Doctor, »sehen Sie einmal, der Posten[225] wird doppelt besetzt, dort stehen einige Offiziere mit Schärpen als Zeichen, daß sie im Dienste sind, und eine ganze Legion von Polizeidienern scheint aus der Erde zu wachsen!«

Kaum hatte er ausgesprochen, als sich bereits zwei dieser Individuen ihnen näherten und sie scharf beaugenscheinigten.

»Wo kommen Sie her? legitimiren Sie sich«, sagte der Eine ziemlich barsch zu Hohenstein, so daß Alle drei laut lachen mußten.

»Wir kommen aus dem Walde und gehen direct zu Bette«, antwortete Hohenstein mit komischem Ernste, aber der Diener der heiligen Hermandad verstand durchaus keinen Humor. »Sie sind wohl auch so ein Krawaller?« sagte er so grob, daß beiden Männern das Blut zu Gesichte stieg, und Charlotte sich ängstlich an ihren Mann drückte. Ehe jedoch der Letztere antworten konnte, trat ihnen einer der Offiziere grüßend entgegen, er kannte die Beiden und begriff nicht, was die Polizei mit ihnen wollte.

»Nun, Hauptmann«, rief ihm der Doctor zu, »was ist? warum kann ein friedlicher Bürger nicht mehr ruhig sein Nachtquartier beziehen?«

Der Hauptmann, eine große, stattliche Figur, mit einer gewaltigen Stimme, rief laut schallend, so daß sich sogleich ein Haufe Neugieriger um sie herum gruppirte:

»Schöne Geschichten das! Haben Sie noch nichts gehört? Drüben in Frankfurt war gestern Abend Krawall. Die Studenten stürmten die Hauptwache, zogen nach dem Bundespalais, haben die Schildwachen ermordet; es war eine ganze Revolution!«

»Nun und« –? fragten die Andern gespannt.

»Nun, man hat sie zusammengehauen wie altes Eisen, die dummen Jungen, wie es ihnen gehört für ihre Kindereien. Hätte ich sie nur Alle hier, ich ließe Einen nach dem Andern durchkarwatschen«.

»Aber warum denn hier diese Anstalten, fürchtet man etwa,[226] daß sie einen Ueberfall gegen die Residenz im Schilde führen?« fragte der Doctor sarkastisch.

»Ja, sollten uns nur kommen, so etwas passirt hier nicht, kann nur drüben in dem verfluchten, republikanischen Neste geschehen; aber entwischen sollen uns doch die sauberen Vögel nicht, ganz Frankfurt steckt voll von dem Gelichter. Man wußte die Sache hier schon am Morgen, aber es ward noch ein wenig vertuscht, die Nachrichten waren zu ungenau; gegen Abend kam aber bestimmte Meldung des Vorgangs hierher und die Bitte, auf die Fliehenden zu fahnden. Viele sind noch in Frankfurt versteckt und suchen sich unter Verkleidungen durchzuschleichen.«

»Die armen, jungen Leute«! seufzte Charlotte.

»Sagen Sie lieber die Galgenvögel, schöne Frau«, rief der Hauptmann mit seiner lauten Stimme, denn er war bekannt als galanter Mann und hatte die hübsche Fremde auf den ersten Blick erkannt, »wozu brauchen sie sich in Dinge zu mischen, die sie nichts angehen! Sind sie dafür auf der Universität? Sie sollen studiren, duelliren und sich meinetwegen alle Tage betrinken, aber sich nichts um den Staat bekümmern, der ist nicht für sie da. Das sind aber die verfluchten Revolutionsideen, die ihnen von den Canaillen, von den Demagogen in die Ohren geblasen werden! Wenn die Kerle doch nur Alle einen Kopf hätten, und ich dürfte ihnen denselben abschlagen!« Diese letzten Worte begleitete er mit einem scharfen Seitenblick auf den Doctor, der dessen Sinn sehr wohl verstand. Er griff nach dem Hute und sagte trocken: »Ich danke Ihnen recht sehr, Herr Hauptmann, für Ihre Auskunft, aber wir dürfen Sie wohl Ihrer Dienstpflicht nicht länger entziehen«.

»Thut nichts, ich hoffe nur, wir machen einen rechten Fang, guten Abend, meine Herrschaften«. Er erhob mit gewandter Verbeugung die Rechte zum Rande seines Tschakos und entfernte sich mit langen Schritten.

»Welche rohe, gemeine Sprache!« rief Charlotte, als sie, die[227] auch weiter gegangen waren, nicht mehr gehört werden konnten. »Ein so trauriges und unbegreifliches Ereigniß, welches gewiß eine Menge achtbarer Familien in Trauer stürzt, mit solchen Worten abzumachen!«

»Das ist der Fanatismus der Unterthanentreue, meine liebe Frau«, sagte der Doctor, von Charlotten's warmen Worten sichtlich erwärmt, »und das ganze Ereigniß ist«, fuhr er fast wehmüthig fort, »der traurige Schlußaccord zu unserem vorhinigen Gespräch!«

»Dies ist aber nicht einmal jugendliche Schwärmerei, dies ist jugendliche Tollheit«, brach endlich Hohenstein sein Schweigen.

»Mit der Tollheit fängt die Weltgeschichte alle ihre großen Ereignisse an«, sagte der Doctor, »mir fuhr die Erzählung des Hauptmanns durch Mark und Bein; diese ersten Zuckungen des neuen jugendlichen Geistes mögen wie Krämpfe aussehen, aber sie sind in Wahrheit das erste Wetterleuchten, welches eine neue Zukunft über Deutschland heraufführen wird«.

»Doctor, Doctor, sehen Sie sich vor, sie fangen an zu schwärmen; nichts als galvanische Zuckungen sind es, Rückschläge, die der electrische Funke der französischen Julirevolution künstlich hervorruft!«

Der Doctor blieb stehen und legte seine Hand auf Hohenstein's Schulter: »O, Mensch, Gelehrter, Dichter, der Du vor mir stehst, verstehst Du so wenig das Walten des Weltgeistes? Glaubst Du wirklich, daß solche Dinge willkürlich hervorgerufen werden, daß Einzelne Revolutionen, oder nenne es mit dem verächtlichen Namen Krawalle machen? Hältst Du die Menschen wirklich für Marionetten und den Enthusiasmus, der erst zu tollen, dann zu kühnen, zuletzt zu überlegten Plänen treibt, für ein bloßes Speiteufelchen? Nein, mein Bester, jeder nach vorwärts treibenden That liegt eine Idee zum Grunde, und diese Ideen, welche ich hier leuchten sehe, wird kein Hauptmann mehr herauskarwatschen, und wenn ihre Zahl Legion wäre! Aber jetzt[228] gute Nacht, ich muß in den Clubb und Näheres über die Sache zu hören suchen – – ei, ei, germanische Jugend, steht es so mit dir, trittst du wirklich die Kinderschuhe aus, aber weißt du auch, welche Dornenkronen auf dich warten?« –

Mit diesen Worten, die der seltsame Mann zuletzt nur noch vor sich hinmurmelte, wie vergessend, daß er nicht allein war, wandte er sich rasch um und verschwand um die nächste Ecke. Beide sahen ihm einen Augenblick nach, dann hob Charlotte das Auge zu ihrem Manne empor; beim Schimmer des Sternenhimmels konnte er sehen, daß helle Thränen darin glänzten. »Wie erregt Du bist, meine Liebe,« sagte er zärtlich, »komm', lass' uns nach Hause gehen!«

»Dies war ein seltsamer Tag«, sagte Charlotte, »mir ist, als hätte ich noch nie so viel von Außen her erlebt; o, die armen, jungen Leute, wenn nur Keiner in die Hände dieses Hauptmanns fällt!«

»Es wird ihnen so schlimm nicht gehen«, tröstete ihr Mann, »die Regierungen sind human, man wird eine solche Jugendthorheit milde beurtheilen. Kümmere Dich nicht um diese unerquickliche Wirklichkeit; wir flüchten uns aus ihr in das schöne Reich der Poesie, tief hinein nach Indien, meine Gazelle, was gehen uns diese Studenten und ihre wüste Politik an?«

Quelle:
Luise Büchner: Nachgelassene belletristische und vermischte Schriften in zwei Bänden, Band 1, Frankfurt a.M. 1878, S. 213-229.
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