IV

[229] Indessen saß die Doctorin Brandeis mit ihren beiden ältesten Kindern, Ludwig und Gustchen, in einem kleinen Stübchen neben dem Wohnzimmer, wo die jüngeren Kinder ihre Schulaufgaben machten oder ruhig spielten. Die vielbeschäftigte, rührige Hausfrau dachte nicht daran, dies einfache Winkelchen ihr Boudoir zu nennen, wie eine Salondame es gethan hätte; das Stübchen war einfach, aber in diesem[229] Stübchen war sie glücklicher, als eine Fürstin in ihrem reichverzierten Schmollwinkel. Um diese Zeit, gegen Abend, stand oft, nicht jeden Tag fand sich dazu Zeit und Gelegenheit, neben dem niederen eisernen Ofen ein kleiner Tisch mit dem nöthigen Theegeschirr versehen, in welchem Gustchen emsig waltete und für die liebe Mutter ein feines Theebutterbrod bereitete. An dem Tischchen saßen Frau Brandeis und Ludwig, und dies war für Mutter und Kinder die schönste, gemüthlichste Zeit des Tages; da schütteten sie vor dem Auge der Mutter alle ihre kleinen Geheimnisse und ihren Herzenskummer aus. Da erzählte Ludwig mit geballter Hand und zitternder Stimme von seinen endlosen Fehden mit dem allgemeinen Schulfeinde, dem Doctor Landmann, da beschwichtigte ihn die Mutter, und da lachte ihn Gustchen aus, wenn er zwischendurch die Tanzstunde, die er auf Wunsch der Eltern besuchen mußte, verwünschte und ihre Bekanntinnen alberne Dinger nannte, mit denen sich kein vernünftiges Wort reden lasse. »Dafür sagen sie auch von Dir«, rief sie lebhaft aus, »Du wärest ein so gelehrter Herr, daß sie sich Alle fürchten, mit Dir zu tanzen, und auf's Tanzen kommt es doch am Ende allein an. Ach, Gott! wie schön ist das, so herumzuwalzen«, und damit tanzte sie, das Brod in der einen, das Wasser in der andern Hand, im Zimmer herum. Ludwig und die Mutter mußten hellauf lachen, dann sagte der Erstere: »Ja, wenn Alle so unschuldig wären, wie Du, und nur nach dem Tanzen fragten, dann ließe ich es mir noch gefallen, aber es sind eitle, verliebte Dinger, die nur die Cour gemacht haben wollen und mit uns kokettiren.«

Gustchen sah ihren Bruder erstaunt an: »Ich weiß gar nicht, was das ist: Cour machen und kokettiren, und die Andern wissen es gewiß auch nicht!«

»Darum sollst Du es auch nicht lernen«, sagte Ludwig eifrig, »und so lange ich etwas zu sagen habe, kommst Du mir gewiß nicht in die große Tanzstunde!«[230]

Gustchen seufzte: »Es muß doch gar schön dort sein, ich möchte gern«, fügte sie hinzu und blickte verstohlen nach der Mutter.

»Laßt es gut sein, Kinder«, sagte nun die Mutter beschwichtigend, »Gustchen hat Recht, daß sie ihre Freundinnen gegen Dich vertheidigt, Ludwig, und Ludwig hat Recht, Gustchen, daß er nicht wünscht, Dich in der großen Tanzstunde zu sehen. Es geschieht dort gewiß nichts Unrechtes, aber ich sehe mein Gustchen lieber unter meinen eignen Augen mit dem Brodlaib herumwalzen, als in einem fremden Raum, wo freilich nur halbe Kinder zusammen sind, aber darum auch manche Kinderei entsteht, die für das ganze übrige Leben verderblich ist. Und Du weißt, was ich Dir versprochen habe. Ehe Ludwig die Universität bezieht, lade ich alle Eure jungen Freunde und Freundinnen hierher in's Haus, und da sollst Du tanzen, Gustchen, bis an den Morgen, wenn Du nicht müde wirst«.

Gustchen hüpfte hoch auf: »Gewiß werde ich es nicht, und ich bin ja schon wieder ganz zufrieden«, rief sie munter und faßte die Mutter zärtlich um den Hals, dann fuhr sie zu Ludwig gewendet fort: »Nun, Herr Professor, Urquell der Weisheit, Hohepriester der Vernunft, hast Du nicht wieder etwas in der Tasche, dem ich andächtig lauschen muß, wenn ich kaum die Hälfte davon verstehe?«

»Du würdest es schon besser verstehen, wenn Du nicht immer Puppensachen arbeitetest«, antwortete Ludwig gleichfalls lachend, mit der Hand über ihre rothe Wange streichend, »aber es thut nichts, höre nur zu«, und damit öffnete er Tieck's Phantasus und begann mit dem warmen Interesse, der enthusiastischen Freude der Jugend Mutter und Schwester die Zaubermähren des genialen Dichters vorzulesen. Dies waren die Stunden, welche Frau Brandeis und ihre Kinder nicht mit den glänzendsten Vergnügungen vertauscht hätten, und wobei es fast fraglich war, wer sich am meisten darnach sehnte. Und[231] wie gering waren die äußeren Mittel, die sie zuerst an den kleinen Raum fesselten und dann durch die höheren Bezüge, welche ihrem Zusammensein entströmten, darin festhielten. Der warme Ofen, die gemüthliche Tasse Thee, der helle Schimmer der Lampe luden die Kinder unwiderstehlich ein, den Abend bei der Mutter zuzubringen, statt draußen andre Gesellschaft aufzusuchen. Schnell entwickelte sich daraus das geistige Zusammenleben; was Ludwig fühlte und dachte, tobte und stürmte er in diesen Abendstunden aus, und was er sagte, interessirte Gustchen tausendmal mehr, als alles Gerede ihrer Freundinnen, weckte ihr geistiges Interesse, indem er Alles, was er den Tag über gelernt und studirt, hier laut verarbeitete. An diese Ergießungen schloß sich bald die Lectüre an, er war stolz, Mutter und Schwester mit Homer vertraut zu machen, denn Erstere war eine kaum weniger naive und erstaunte Zuhörerin, als ihr Töchterchen; dann kamen die Dichter der romantischen Schule, welche damals in allen Köpfen spuckten, an die Reihe, und Gustchen ward immer roth und verlegen, wenn sie ihren Freundinnen gelegentlich erklären mußte, wer Tieck und Brentano waren und sie dann von ihnen als ein Wunder der Gelehrsamkeit angestaunt, aber auch zugleich – um der Wahrheit ganz die Ehre zu geben – im Innern ein wenig von ihnen verspottet wurde. Trotz ihrer Belesenheit war das Gustchen im Uebrigen doch gar zu dumm; sie wollte es nie begreifen, daß die Freundin Clara ganz entsetzlich in Ludwig verliebt war und dringend der Hülfe seiner Schwester bedurfte, wie sehr auch Clara das Köpfchen auf die Seite neigte, wenn sie ihr mit Ludwig begegnete und mit einem langen, schmachtenden Seitenblick seinen Gruß erwiederte. Ihr selbst war es unbegreiflich, weshalb Ludwig's kleiner Freund jeden Tag wenigstens dreimal an dem Fenster vorübertrabte, wo ihr Arbeitstischchen stand, und wenn er sie erblickte, die rothe Mütze bis auf die Erde herabzog, und ebenso wenig konnte sie sich erklären, warum ihr Vetter,[232] der neugebackene Cadett, der fast immer auf den Fußspitzen ging, um darzuthun, daß er die reglementsmäßige Länge habe, und der aus der steifen Uniformskravatte, die ihm fast den Hals zuschnürte, so roth wie ein Krebs hervorsah, noch röther ward, wenn er seine schuldige Sonntagmorgenvisite bei der Tante abstattete. An Gustchens unschuldiger Unbefangenheit glitten alle diese drohenden Anzeichen aufsteigender Leidenschaften wirkungslos ab, sie tanzte und sang, half der Mutter in der Haushaltung, disputirte mit dem Bruder, ließ sich bald von ihm unterhalten, bald abkanzeln, denn er wollte durchaus nicht, daß sein Gustchen so ein »eitles Gänschen« würde, wie die meisten ihrer Bekanntinnen, aber am liebsten war es ihr, wenn sie ein Stündchen ungestört für ihren Puppenstaat, den sie gemeinschaftlich mit ihrer Busenfreundin besaß, ein neues Kleid oder sonstigen Putz arbeiten konnte, und die Mutter ließ sie stille gewähren. Es war ihr recht, daß Gustchen Kind blieb, so lange als möglich, und die Fertigkeit, welche die kleinen Hände bei dem Verfertigen der zierlichen Puppentoilette erlangten, sollte ihnen bei wirklicher Arbeit schon zu Gute kommen. –

An dem heutigen Abend nun, wo wir das Kleeblatt in seinem kleinen Sanssouci vereinigt finden, drehte sich die Unterhaltung um ernstere Dinge, als um Tanzstunden oder romantische Märchen. Mutter und Schwester waren noch ganz erfüllt von Ludwigs Rede und dem Erfolg, welchen er damit gehabt; endlich erinnerte sich auch Frau Brandeis an das letzte Zusammentreffen mit ihren Hausgenossen:

»Ludwig«, sagte sie sanft, »es hat mir nicht gefallen, daß Du dem Doctor so hochfahrend begegnetest; Du mußt nun nicht gleich eitel werden, mein Söhnchen«, setzte sie zärtlich hinzu, dem Liebling über die gelockten Haare streichend.

»Wahrhaftig Mutter, das bin ich nicht«, rief der lebhafte Jüngling erregt, »aber ich kann den Doctor nicht leiden, weil er ein Neidhammel ist!«[233]

»Ludwig, Ludwig«, sagte die Mutter, »wie gehst Du wieder in das Extrem!« und Gustchen fügte hinzu: »Ja, wenn ich so etwas gesagt hätte, würde der Herr Bruder gleich rufen: ›Da sieht man wieder, wie die Frauenzimmer übertreiben!‹«

»Und ich sage es noch einmal«, rief Ludwig, indem er unmuthig aufstand, »warum soll man denn ewig mit der Wahrheit hinter dem Berg halten und die Dinge nicht beim rechten Namen nennen? Ich kann dies nun einmal nicht!« Damit warf er sich wieder aufgeregt auf seinen Sitz.

»Ludwig«, sagte die Mutter mit besorgter Stimme, »Du glaubst nicht, wie mich diese Heftigkeit an Dir ängstigt, und es wird schlimmer damit, statt besser, trotz Deines Versprechens, Dich mäßigen zu wollen. So willst Du nun hinaus in die Welt, selbst mit Fremden verkehren lernen, – o, wie werde ich um Dich bangen, wenn ich Dich nicht mehr unter meiner Hand und Leitung weiß.«

Ludwig faßte die Hand der Mutter, drückte sie an sich und sah ihr dann liebevoll in die Augen: »Warum erschrickst Du gleich so, wenn mein Tollkopf einmal überkocht«, sagte er weich, »Du weißt es ja von meinen Kindertagen her, wie mich jede Ungerechtigkeit empört, die ich an mir oder Anderen erfahre, wie ich nichts so tief hasse, als das Achselzucken und das höfliche Scherwenzeln, hinter dem nichts als Lüge steckt; und so einer ist der Doctor, trotz seiner vorgeblichen Dichternatur! Dabei kann er es nicht vertragen, wenn ein Anderer den kleinsten geistigen Erfolg erringt, und wenn es selbst ein armer, unbedeutender Gymnasiast ist, wie ich«.

»Ich kann nicht leugnen, daß mir vorhin sein Benehmen Dir gegenüber auch nicht gefiel«, sagte die Doctorin ruhig, »aber es ist nicht der Mühe werth, so darüber aufzubrausen«. Frau Brandeis war so vernünftig und gerecht, auch der Jugend und besonders ihren Kindern gegenüber der Wahrheit die Ehre zu geben, dadurch lenkte sie dieselben weit sicherer zur Mäßigung[234] und Besonnenheit, als wenn sie ihnen, wie Aeltere dies den Jüngeren meist nur zu gerne thun, ohne Weiteres ihre Wahrnehmung bestritten und als eingebildet hingestellt hätte. Dadurch, daß sie auf ihre Kinder einging, sie als urtheilsfähige Menschen betrachtete und mit ihnen discutirte, nicht disputirte, erwarb sie sich deren unbedingtes Vertrauen, und ließen sie sich der Mutter gegenüber vollständig gehen. Auch jetzt verfehlte ihr einfaches Zugeständniß seine Wirkung auf Ludwig nicht, und er erwiderte: »Der Doctor hatte gar nicht ganz Unrecht mit seiner Behauptung, die Actusreden seien kaum mehr als eine Spielerei, aber die Art, wie er es sagte, war widerwärtig«.

»Dafür suchte es aber seine Frau wieder gut zu machen«, fiel Gustchen feurig ein, »sie ist gar zu lieb, ich bin ganz verliebt in die junge Frau!«

»Das ist recht, sei nur ganz froh, wenn sie sich ein wenig Deiner annimmt, Gustchen, wenn ich fort bin. Der Doctor ist die prächtige Frau gar nicht werth. Wenn ich ihren blauen Schleier sehe, muß ich immer an den Kaiser Octavian denken und an die schöne Prinzessin, die mit wallendem blauem Schleier auf dem weißen Zelter durch den frischen, grünen Wald reitet«.

»Nicht wahr, Ludwig, das ist die Romantik? ja, ja, ich erinnere mich noch ganz genau, und so sieht sie wirklich aus. Ich kann zwar nicht recht begreifen, wer das eigentlich sein soll, die Romantik, aber das Märchen für sich allein ist gar zu schön.«

»Nun, so halte Dich an's Märchen, bis Du das Uebrige verstehst«, sagte Ludwig, der Mutter mit etwas wichtiger Miene zulächelnd, »und jetzt beeile Dich und spüle die Tassen und Kannen, daß nicht der Mutter alles auf dem Halse bleibt!«

»Wird schon geschehen. Herr Bruder!« antwortete etwas pikirt Gustchen, die sich nicht gerne an eine häusliche Pflicht[235] erinnern ließ, weil im Haus die Sage ging, daß sie lieber über den Büchern als in der Küche saß, und weil sie darum doppelt ehrgeizig war, ihrer Pflicht zu genügen.

»Ich werde Dich der Frau Romantik, wie Ihr die Doctorin nennt, nächstens recht warm an's Herz legen, mein Gustchen«, sagte die Doctorin, ehe diese das Zimmer mit ihren Tassen verließ, »und –«

»Mutter, der Vater ist nach Hause gekommen«, riefen plötzlich vier Stimmen auf einmal an der Thüre, indem diese hastig geöffnet wurde und zwei kleine Knaben und Mädchen einließ. »Recht Kinder, ich komme schon«, war die rasche Antwort und im nächsten Moment war die Mutter schon vor der Thüre draußen, die Kinderschaar vor sich her schiebend. Noch einmal wandte sie sich um und rief: »Ludwig! um acht Uhr wird zu Nacht gegessen, komme nicht zu spät, der Vater wird heute allerlei mit Dir sprechen wollen!«

»Ich komme, Mutter«, war die Antwort, die sie kaum mehr hörte in ihrer Eile.

»Mein Alter war heute doch einmal im Leben zufrieden mit mir«, sagte Ludwig sich langsam erhebend, »es kommt nicht oft vor!« Dann ging er einigemale in dem engen Zimmer auf und ab, trat dann an's Fenster, trommelte an den Scheiben und sagte: »Frau Romantik soll sie heißen! Das war ein guter Einfall von der Mutter.


Es wallen ihr die Locken

So dunkel um Stirn und Wangen,

Wie blauer Blumen Glocken,

Die süßen Augen prangen,

Und ihrer Stimme Klingen

Ist wie der Harfe Ton,

So hört' im Traume singen,

Ich Engelslippen schon!« –[236]


»O, ich alter Esel«, rief Ludwig, sich plötzlich selbst unterbrechend, nachdem er eine Weile träumend gestanden und die obigen Worte mit leiser Stimme vor sich hingedichtet hatte, »da stehe ich und mache Verse an die Frau Romantik, die so prosaisch war, das verkannte und nie erkannt werdende Doctorgenie zu heirathen. Wenn das die Andern gehört hätten, die sollten mich gut ausspotten, aber ich muß noch einmal zu den Jungens, ich habe es ihnen fest versprochen«. Damit ergriff er seine Mütze und stürmte so hastig hinaus, daß er beinahe das arme Gustchen, das in hausmütterlicher Geschäftigkeit mit seinen reinen Tassen wieder herein kam, umgerannt hätte!

Quelle:
Luise Büchner: Nachgelassene belletristische und vermischte Schriften in zwei Bänden, Band 1, Frankfurt a.M. 1878, S. 229-237.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Geistliche Oden und Lieder

Geistliche Oden und Lieder

Diese »Oden für das Herz« mögen erbaulich auf den Leser wirken und den »Geschmack an der Religion mehren« und die »Herzen in fromme Empfindung« versetzen, wünscht sich der Autor. Gellerts lyrisches Hauptwerk war 1757 ein beachtlicher Publikumserfolg.

88 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon