II

Herzensausguß über Volkspoesie

[1651] Warum haben Apoll und seine Musen bloß auf dem Gipfel des Pindus ihr Wesen? Warum entzückt ihr Gesang bloß die Ohren der Götter, oder der wenigen, welche Atem und Kraft genug hatten, die steilen Zinnen des Olymps zu erklettern? Sollten sie nicht herunterkommen und auf Erden wandeln, wie Apoll vorzeiten unter den Hirten Arkadiens tat? Sollten sie nicht ihre Strahlengewänder, bei deren Anblick so oft das irdische Auge erblindet, droben lassen, und die Natur der Menschen anziehn?[1651] Unter den Menschenkindern, sowohl in Palästen als Hütten, ein und aus gehn, und gleich verständlich, gleich unterhaltend für das Menschengeschlecht im ganzen dichten? Das sollten sie freilich! Aber wie wenig noch haben's die deutschen Musen getan!

Unsere Nation hat den leidigen Ruhm – nicht gerade die weise – sondern die gelahrte – zu heißen. Der Ruhm möchte ganz schätzbar sein, wenn's nur nicht gar zu viel Quisquiliengelahrtheit wäre. Dieser Quisquiliengelahrtheit haben wir's gutenteils zu verdanken, daß bei uns die Poesie des allgemeinen Eingangs in Ohren und Herzen sich nicht rühmen kann, den sie bei mancher andern Nation schon fand, weil wir so hoch und tief gelahrt sind, daß wir schier aller Völker Sprachen reden können; ihre Handlungen, Sitten und Gebräuche, all ihre Weisheit und Torheit auswendig wissen; in ihren Feldern und Wäldern, Städten und Dörfern, Tempeln und Palästen, Häusern und Ställen, in ihren Küchen, Kellern, Boden und Zimmern, in Garderoben, Kisten und Kasten, und der Himmel weiß, wo alle noch sonst? bekannt und bewandert sind; so sind wir auch in unserm Dichten und Trachten, Reden und Tun, so fremd und ausländisch, daß der Ungelehrte unserer Landsleute selten klug aus uns werden kann. Das schlimmste ist, daß wir das alles lernen, bloß um es zu wissen und dadurch zünftig zu sein. Es bleibt meistens totes Kapital; und wie kann auch Münze kursieren, die oft gar keinen innerlichen Wert hat, und deren Gepräge längst aus der Mode gekommen ist?

Dies möchte meinetwegen überall so seinen alten Gang hingehn, nur nicht in der Poeterei. Die deutsche Muse sollte billig nicht auf gelehrte Reisen gehn, sondern ihren Naturkatechismus zu Haus auswendig lernen. Wo steht aber im deutschen Naturkatechismus geschrieben, daß sie fremde Phantasien und Empfindungen einholen, oder ihre eigene in fremde Mummerei hüllen solle? Wo steht's geschrieben, daß sie keine deutsche Menschensprache, sondern vel quasi eine Göttersprache stammeln soll? – Göttersprache? – Daß es dem lieben Gott erbarme! – Diese Göttersprache, die viele unserer Musensäuglinge lallen wollen, ist oft nichts anders als rauhes Löwen- und Stiergebrüll, Roßwiehern, Wolfsgeheul, Hundgebell und Gänsegeschnatter. Anstatt den Strom des Gesangs vom mählichen Abhang, mit distinkten, vernehmbaren Wohlgetön, dahinströmen zu lassen, stellt man sich auf eine schroffe Felsenspitze, wirft, unter gräßlichen Verzuckungen,[1652] den Kopf in den Nacken, verdreht die Augen, und stürzt sein Krüglein, mit unvernehmlichem, verwirrenden Geräusch hurlpurl hinab, und am Ende ist's doch wohl nicht so viel, daß eine Mücke sich daraus satt trinken kann.

Man will keine menschliche, sondern himmlische Sonnen malen; nicht wie seinesgleichen, sondern wie Völker anderer Zeiten, anderer Zonen; man will oft gar, wie der liebe Gott und die heiligen Engel empfinden. Hieran, ihr deutschen Dichter, nicht aber an dem kalten und trägen Publikum, wie ihr falsch wähnet, liegt es, daß eure Gedichte nicht durch das ganze Volk gäng und gäbe sind.

Diesem Unheil abzuhelfen, ist freilich kein kräftiger Mittel, als das so oft beschriebene und zitierte, aber so selten gelesene Buch der Natur zu empfehlen. Man lerne das Volk im ganzen kennen, man erkundige seine Phantasie und Fühlbarkeit, um jene mit gehörigen Bildern zu füllen, und für diese das rechte Kaliber zu treffen. Alsdann den Zauberstab des natürlichen Epos gezückt! Das alles in Gewimmel und Aufruhr gesetzt! Vor den Augen der Phantasie vorbeigejagt! Und die güldenen Pfeile abgeschossen! Traun! dann soll's anders gehn, als es bisher gegangen ist. Wer's dahin bringt, dem verspreche ich, daß sein Gesang den verfeinerten Weisen ebensosehr, als den rohen Bewohner des Waldes, die Dame am Putztisch, wie die Tochter der Natur hinter dem Spinnrocken und auf der Bleiche, entzücken werde. Dies sei das rechte Nonplusultra aller Poesie!

Hier deucht mir, seh ich manche Vers- und Theoreienmacher mit weiser Miene mir entgegenlächeln. Sie wollen sagen: Daß doch nicht alle Gegenstände, sonderlich die Belustigungen des Verstandes und Witzes, so allgemeinverständlich und behäglich sich behandeln ließen. Mir deucht, das liebwerteste Lehrgedicht, das Epigramm und manche andere ihres Gelichters, die in den poetischen Theoreien auch ihr Stühlchen haben, wollen soeben aufspringen und Lärmen machen. – Lieben Leute, eure Theorei irret die Theorei der Natur ganz und gar nicht. Die Natur, wenn ich nicht gewaltig irre, weiset der Poesie das Gebiet der Phantasie und Empfindung, hergegen das Reich des Verstandes und Witzes einer andern Dame, der Versmacherkunst, an. Jede soll sich vornehmlich auf ihrem angewiesenen Grund und Boden herumtummeln. Doch will sie beide keinesweges gänzlich trennen, und Hader unter ihnen stiften. Sie mögen, als verträgliche Nachbarinnen, nebeneinander hausen; mögen sich auch wohl hie und da[1653] freundnachbarlich an Hand gehn; mögen einander Schüssel, Topf, Besen und Elle borgen; mögen endlich auch einerlei Sprache, die nur gleichsam im Dialekt sich unterscheidet, reden! Im Grunde aber bleiben sie doch voneinander gesondert. Durch diese Grenzteilung soll die Versmacherkunst an ihren Ehren und Würden im geringsten nicht gekränkt sein. Sie mag eine artige Frau und ihr Reich ein schönes Reich sein. Welche von beiden aber den Vortritt habe, und zu haben verdiene? wäre unpolitisch zu entscheiden, da die Mitglieder beider Staaten bis hieher öfters, so hübsch friedlich und schiedlich hinüber und herüber zu lustwandeln pflegten. Immer bleib es auch künftig bei dieser Weise.

Mit den Angelegenheiten der Versmacherkunst hab ich hier nichts zu schaffen. Mir liegt das Wohl und Weh der Poesie am Herzen. Ihre Produkte wünscht ich insgesamt volksmäßig zu machen. Zunächst ist hier von der lyrischen und episch-lyrischen Gattung die Rede. –

Aber der Zauberstab des Epos, der den Apparatus der Phantasie und Empfindung beleben und in Aufruhr setzen soll, ist nur in wenigen Händen. Viele suchten und fanden ihn nicht, weil er wirklich nicht leicht zu finden ist, und sie ihn nicht am rechten Ort suchten. Wo er noch am ersten und leichtesten zu finden ist, das sind unsere alten Volkslieder. Seit kurzem erst sind einige echte Söhne der Natur ihm hier auf die Spur geraten.

Diese alten Volkslieder bieten dem reifenden Dichter ein sehr wichtiges Studium der natürlich poetischen, besonders der lyrischen und episch-lyrischen Kunst dar. Sie sind meist, sowohl in Phantasie, als Empfindung, wahre Ausgüsse einheimischer Natur. Freilich hat die mündliche Tradition oft manches hinzugetan und weggenommen, und dadurch viel lächerlichen Unsinn hineingebracht. Wer aber das Gold von den Schlacken zu scheiden weiß, wird wahrlich keinen verächtlichen Schatz erbeuten. – Und wär's denn wohl der Mühe nicht wert, daß ein Mann, mit hemsterhuysisch-kritischer Nase, sich darauf beflisse, den heterogenen Anflug wegzunehmen, und die alte verdunkelte, oder gar verlorne Lesart wiederherzustellen? –

In jener Absicht hat öfters mein Ohr in der Abenddämmerung dem Zauberschalle der Balladen und Gassenhauer, unter den Linden des Dorfs, auf der Bleiche, und in den Spinnstuben gelauscht. Selten ist mir ein sogenanntes Stückchen zu unsinnig und albern gewesen, daß nicht wenigstens etwas, und sollt es auch nur ein Pinselstrich des magisch rostigen Kolorits gewesen sein,[1654] poetisch mich erbauet hätte. Gar herrlich, und schier ganz allein, läßt sich hieraus der Vortrag der Ballade und Romanze, oder der lyrischen und episch-lyrischen Dichtart – denn beides ist eins! Und alles Lyrische und Episch-Lyrische sollte Ballade oder Volkslied sein! – gar herrlich, sag ich, läßt er sich hieraus erlernen.

Freilich kömmt mir hier wieder die sogenannte höhere Lyrik, die unter dieser Gattung nicht stehen will, und sich wohl recht was dünkt, quer in den Weg gelaufen. Ich kenne Werke von dieser höhern lyrischen Gattung, die bei allem dem sehr volksmäßig sind. Jene, die nicht fürs Volk ist, mag hinlaufen, wohin sie will. Mag sie doch für Götter und Göttersöhne, den erhabensten Wert haben! Für das irdische Geschlecht hat sie nicht mehr, als der letzte Fixstern, dessen Licht aus tiefer dunkler Ferne zu uns herflimmert. Dies Urteil würde ich aussprechen, wenn ich auch selbst ein solcher Göttersohn wäre, denn es ist mir hier mehr fürs liebe Menschenvolk, als für Götter und Göttersöhne zu tun. –

Durch Popularität, mein ich, soll die Poesie das wieder werden, wozu sie Gott erschaffen, und in die Seelen der Auserwählten gelegt hat. Lebendiger Odem, der über aller Menschen Herzen und Sinnen hin weht! Odem Gottes, der vom Schlaf und Tod aufweckt! Die Blinden sehend, die Tauben hörend, die Lahmen gehend und die Aussätzigen rein macht! Und das alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammertal!

Von der Muse der Romanze und Ballade ganz allein mag unser Volk noch einmal die allgemeine Lieblingsepopee aller Stände, von Pharao an, bis zum Sohn der Magd hinter der Mühle hoffen! Unbegreiflich ist mir's daher, wie einige Leute diese Muse zu einer Aftermuse, oder zur Zofe einer von den neuen Pierinnen machen, und ihr kein ander Instrument, als den Dudelsack in die Hand geben mögen; da sie doch das ganze unermeßliche Gebiet der Phantasie und Empfindung unter sich hat; da sie es doch ist, die den »Rasenden Roland«, die »Feenkönigin«, »Fingal« und »Temora« und – sollte man's glauben? – die »Ilias« und »Odyssee« gesungen hat? Wahrhaftig! Alle diese Gedichte waren denen Völkern, welchen sie gesungen wurden, nichts als Balladen, Romanzen und Volkslieder. Eben daher erhielten sie den allgemeinen Nationalbeifall, der so vielen Leutlein unbegreiflich ist. Uns Deutschen sind sie freilich nicht mehr volksmäßig; aber wir sind auch nicht die Griechen, nicht die Italiener, nicht die Briten. Deutsche sind wir! Deutsche, die[1655] nicht griechische, nicht römische, nicht Allerweltgedichte, in deutscher Zunge, sondern in deutscher Zunge deutsche Gedichte, verdaulich und nährend fürs ganze Volk, machen sollen. Ihr Dichter, die ihr ein solches nicht geleistet habt, und daher wenig, oder gar nicht gelesen werdet, klaget nicht ein kaltes und träges Publikum, sondern euch selbst an! Geb uns einer ein großes Nationalgedicht von jener Art, und wir wollen's zu unserm Taschenbuch machen. Steiget herab von Gipfeln eurer wolkigen Hochgelahrtheit, und verlanget nicht, daß wir vielen, die wir auf Erden wohnen, zu euch wenigen hinaufklimmen sollen.

Daß Volkspoesie bisher vernachlässigt, daß Ballade und Romanze schier verächtlich und poetisches Spielwerk worden, daran sind wohl hauptsächlich mit die nackigen Poetenknaben schuld, die sich einbilden, sie könnten auch wohl Balladen und Romanzen machen, und diese Dichtart gleichsam für das poetische Abc halten. Da nehmen sie das erste das beste Histörchen, ohne allen Endzweck und Interesse, leiern es in langweiligen, gottesjämmerlichen Strophen, hier und da mit alten Wörtchen und Phrasen läppisch durchspickt, auf eine drollig sein sollende Art, mit allen unerheblichen Nebenumständen des Histörchens, von Kopf bis zu Schwanz herab, und schreiben drüber »Ballade«, »Romanze«. Da regt sich kein Leben! Kein Odem! Da ist kein glücklicher Wurf! Kein kühner Sprung, sowenig der Bilder als Empfindungen! Nirgends was Aufrührendes, sowenig für den Kopf, als fürs Herz! – O ihr guten Poetenknaben, nehmt's von nun an zu Ohren und Herzen, daß Volkspoesie, eben deswegen weil sie das Nonplusultra der Kunst ist, die allerschwerste sei. Laßt uns nicht ferner durch das: ut sibi quivis speret idem verführen, um die sprödeste aller Musen zu buhlen!

Ich hemme meine Herzensergießung mit dem Wunsche, daß doch endlich ein deutscher Percy aufstehen, die Überbleibsel unserer alten Volkslieder sammlen, und dabei die Geheimnisse dieser magischen Kunst mehr, als bisher geschehn, aufdecken möge. Öfters hab ich zwar schon mündlich diesen Wunsch meinen Freunden geäußert und gesagt, er sollte weiter fortgepflanzt, und irgendwer veranlaßt werden, ihn auszuführen. Allein bisher noch vergebens! Unter unsern Bauren, Hirten, Jägern, Bergleuten, Handwerksburschen, Kesselführern, Hechelträgern, Bootsknechten, Fuhrleuten, Trutscheln, Tirolern und Tirolerinnen, kursieret wirklich eine erstaunliche Menge von Liedern, worunter nicht leicht eins sein wird, woraus der Dichter[1656] fürs Volk nicht wenigstens etwas lernen könnte. Manche davon, so ich gehört, hatten im Ganzen, viele in einzelen Stellen, wahres poetisches Verdienst; ein gleiches versprech ich mir von weit mehrern, so ich nicht gesehen habe. So eine Sammlung von einem Kunstverständigen, mit Anmerkungen versehen! – Was wollt ich nicht dafür geben! – Zur Nachahmung im ganzen und gemeinen Lektur wäre sie freilich nicht; aber für die Kunst, für die einsichtsvolle Kunst würde sie eine reiche Fundgrube sein. Nur die Poetenknaben müßten vor allen andern ihre, alles betappenden Fäuste davon lassen, oder mit dem güldnen Plektrum eins drauf haben.

Quelle:
Sturm und Drang. Band 2, München 1971, S. 1651-1657.
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