269. Doppelte Gestalt.

[254] Zu Berneck hatte sich ein Mädchen heftig in einen jungen Mann verliebt, welcher ihr verheimlichte, daß er verheurathet sei. Als sie dies erfahren, wurde sie ganz schwermüthig; in dieser Stimmung ging sie einst in den Wald, und traf dort eine alte Frau, die auf einem Baumstrunk saß und sie um die Ursache ihrer Traurigkeit fragte. Anfangs wollte das Mädchen mit der Sprache nicht heraus; als ihr aber die Frau Hülfe versprochen, erzählte sie derselben alles. Hierauf sagte die Alte: »Wenn du den Mann, obgleich er verheurathet ist, doch haben willst, so laß dir jetzt, so wehe es dir auch thun wird, von mir sieben Haare vom Kopfe reißen.« Ohne Bedenken legte das Mädchen den Kopf der Frau in den Schooß und ließ sich von ihr, unter großen Schmerzen, die sieben Haare ausziehen. Nachdem die Alte die Haare in Papier gewickelt und dann noch etwas damit gemacht hatte, mußte das Mädchen dieselben unter den Kleidern auf dem Rücken tragen und[254] konnte nunmehr hexen. Dieses übte sie fleißig und zauberte oft den jungen Mann zu sich her. Auch gelang ihr, dessen Frau kennen zu lernen und mit ihr auf du und du zu kommen. Sie redete derselben öfters zu, in der Walpurgisnacht mit ihr auf den Blocksberg zu fahren, um zu sehen, wie prächtig es dort sei; die Frau widerstand lange, endlich aber ließ sie sich zur Zusage bewegen. In der erwähnten Nacht, zwischen elf und zwölf Uhr, kam das Mädchen in einer Kutsche, welche mit Schmetterlingen bespannt war, vor das Haus der Frau; allein diese wollte, dem Verbot ihres Mannes gemäß, nicht mehr mitfahren. Da sprang das Mädchen, welches den Mann in tiefen Schlaf gezaubert, aus dem Wagen, riß die Frau beim Kopfe zum Fenster heraus und warf sie, ohne mit einzusteigen, in die Kutsche, die sich sogleich in die Lüfte erhob. Während es in denselben von allen Seiten schrie und saus'te, fuhr der Wagen, schnell wie der Wind, über Berg und Thal, auf einmal verschwand er, und die Frau fiel auf die Erde hinab. Sie befand sich in Wälschland, wo sie die Sprache nicht verstand; zum Glück aber traf sie eine Herrschaft, die sie in ihre Dienste nahm. Nach sechs Jahren hatte sie von ihrem Lohn so viel erspart, daß sie die Heimreise unternehmen konnte. In der Nähe von Berneck erfuhr sie, daß niemand ihre Abwesenheit gemerkt habe, das Mädchen aber seit sechs Jahren vermißt werde. Dieses hatte nämlich, als die Frau kaum fort war, deren Gestalt und Stimme angenommen und seitdem mit dem getäuschten Mann, jedoch in stetem Unfrieden, gelebt, auch ihm im letzten Jahr ein Kind geboren. Als die Frau in ihr Haus kam, sah sie eine ihr ganz ähnliche Gestalt, den Rücken gegen sie gekehrt, am Brunnen[255] stehen und ihre beiden Kinder, die sehr groß geworden, im Hof umherlaufen. Sie ging in die Stube, wo ihr Mann finster dasaß, und ein kleines Kind in der Wiege lag. Kaum hatte sie ihn angeredet, so kam das Mädchen, ganz wie sie aussehend, zur Thüre herein, wobei der Mann voll Verwunderung ausrief: »Was ist denn das, ich glaube, ich habe zwei Frauen!« Da sprang das Mädchen zur Wiege, riß ihr Kind heraus und eilte mit ihm davon. Nach neun Tagen wurden beide todt im Wasser gefunden. Der Mann und seine Frau lebten nachher miteinander in ungestörter Liebe und Einigkeit.

Quelle:
Bernhard Baader: Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden. Band 1, Karlsruhe 1851, S. 254-256.
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