Zur zweiten Auflage.

Als ich dieser Tage, um die Korrekturen zu machen, die »gute Schule« wieder las, ist es mir seltsam ergangen. Das soll ich einmal gewesen sein? So hätte ich einst empfunden, so gesprochen? Es ist noch keine acht Jahre, daß ich sie schrieb, im Winter von 1889 auf 90, auf der Reise durch Spanien und Marokko. Und damals soll ich so gewesen sein? So ganz anders als heute, mir selber nicht mehr begreiflich nach kaum acht Jahren? Wie ist das möglich? Dies frage ich mich und weiß nicht recht, soll ich mich schämen, wie ich damals war, oder leise bedauern, daß ich es nicht mehr bin.

Damals! Wie nahe ist es mir und doch so fern! Als ob es gestern gewesen wäre, sehe ich mich noch, nach prächtigeren Schönheiten lüstern, ungeduldig südlich ziehen, in Farben schwelgen und mich an Leidenschaften berauschen; aber in den Pausen dieses seligen Erlebens sitze ich irgendwo in einer Schenke, vor einer Kirche und zeichne das erste Abenteuer meiner Seele auf. Wie reich bin ich damals gewesen! Aber die Zeit geht dahin und wir werden so gescheit. Sehne ich mich zurück? Oder bin ich froh, daß es zur Erinnerung geworden ist? Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur, daß es mir jetzt so fremd ist. Könnte ich denn das heute noch erleben?

Erleben, ja! Dieses Ringen um die Kunst und um ein Weib – das kann ich schon noch mitfühlen. Nur jene Sprache habe ich verlernt; ich würde es[1] heute anders sagen. Dieselben Empfindungen würden mir heute andere Gestalten annehmen. Es könnte mich reizen, jenes Abenteuer noch einmal zu erzählen: auf meine jetzige Art. Dann würde es freilich nicht zweihundertvierzig Seiten geben wie damals, sondern ich denke: fünfzig würden mir jetzt genügen. Mir sagen nämlich die Worte jetzt mehr wie damals, darum habe ich Respekt vor ihnen bekommen. Damals habe ich nur ihren Klang vernommen und ihren Glanz gesehen, jetzt weiß ich erst ihren Wert. Für einen ganzen Zustand ist es mir jetzt genug zu sagen: er war »heiter«. Das eine Wort nennt mir alle Elemente, die zuletzt das Resultat geben, daß man sich heiter fühlt. Damals hätte ich gemeint, sie alle aufzählen zu müssen; das bloße Wort »heiter« hätte mir nichts gesagt, ich hätte so viele Adjektive aufgewendet, als es Elemente enthält. Durch das Leben mußte ich erst zum Gefühl der Worte kommen. Ist es nur mir so gegangen? Ich sehe auch die anderen zur einfachen Rede gelangen. Wir sind inne geworden, was die Worte bedeuten; sie haben uns ihre Geheimnisse aufgethan. Nun sagen wir: Frühling, und das ist uns mehr, als wir durch alle Adjektive sagen könnten; denn wir haben gelernt, alles zu empfinden, was das eine Wort »Frühling« an Schätzen und an Herrlichkeiten bei sich hat. Aber wir wollen nicht vergessen, daß wir es nicht gelernt hätten ohne jene sonderbare Wut der Adjektive, die wir damals hatten.

Unser Unglück war, daß wir unter Worten ohne Wert aufgewachsen waren. Wir hatten lauter Worte[2] um uns, die wir noch nicht erlebt hatten. Als wir sie nun erlebten, kamen sie uns abgenützt vor und wir suchten andere, die noch neu wären. Was wir zum ersten Mal erlebten, dazu wollten wir nun auch Worte, die wir noch niemals gesagt hätten. Wir hatten immer geredet, ohne etwas zu fühlen. Nun fühlten wir zum ersten Male, da konnten wir doch nicht dieselben Worte nehmen, bei denen wir nichts gefühlt hatten. Wir hatten die Sprache vor dem Leben; nun kam das Leben, und wir mußten uns zum Leben eine andere Sprache erfinden. Bei ihr konnten wir die alte vergessen, und nachdem wir sie vergessen hatten, waren wir erst fähig geworden, sie wieder zu entdecken. Wir hatten in der Schule gelernt, tausend Dinge »schön« zu nennen, bevor wir noch empfunden hatten, daß etwas »schön« ist. Nun geschah es, daß wir das zum ersten Mal empfanden. Aber nun wollten wir es doch auch sagen. Mit welchem Wort? Mit jenem alten, abgegriffenen »Schön«, das wir tausend Mal gesagt, um gleichgültige Dinge zu nennen? Nein, das war nicht möglich. Also, weil wir kein Wort hatten, das uns teuer genug gewesen wäre, halfen wir uns anders: wir lösten die große Stimmung des »Schönen« in alle ihre kleinen Momente auf und benannten jedes mit einem Adjektiv und hofften, die Summe dieser vielen Adjektive müßte schon den Namen für unsere ganze große Empfindung geben. Aber später gewahrten wir, daß wir uns getäuscht hatten: das »Schöne« an dem »Schönen« ging verloren, wenn wir es erst, mit so vielen Adjektiven, in seine sämtlichen Elemente zerlegten. Wir hatten dann immer nur Teile und hätten doch so gern das Ganze[3] gehabt. Da blieb uns nichts anderes übrig, als daß wir umkehrten und zu jenem alten Wort zurückgingen, das wir verschmäht hatten, zu jenem geringen »Schön«, das uns nicht gut genug gewesen war. Und als wir es jetzt wiedersahen, erstaunten wir: denn seit wir wußten, wie reich es ist, so daß ihm alle Adjektive nicht nachkommen, da war es uns plötzlich groß und mächtig geworden. Man denke sich einen Menschen, der oft von Liebe gesprochen hat, ohne sie zu kennen; nun liebe er wirklich, da wird ihm zuerst das verbrauchte Wort zu gemein sein, er wird tausend neue Beteuerungen ersinnen, keine wird ihm genügen, bis er endlich das alte »Ich liebe Dich« verehren lernt: denn die Worte werden immer wieder jung, wenn es nur die Lippen sind.

Nein, wir haben es nicht zu bereuen, daß wir an ders geworden sind. Aber wir sollen uns auch nicht schämen, wie wir damals waren. Es ist doch gut gewesen: denn es ist notwendig gewesen. Wir mußten erst versuchen, uns selbst eine neue Sprache zu erfinden; dann konnten wir den ewigen Sinn jener alten erst entdecken. Heute lächeln wir freilich daß wir uns damals so abgezappelt haben. Aber hätten wir es nicht, so könnten wir heute nicht lächeln. Darum wollen wir nicht stolz werden, sondern unsere Vergangenheiten in Ehren halten.


Schliersee, August 1897.

Hermann Bahr.[4]

Quelle:
Hermann Bahr: Die gute Schule. Berlin 21898., S. 1-5.
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