Der Verwesungsdirigent

[404] In diesem Kapitel wird angenommen, daß ein Fleischwarenhändler der letzte sein wird, den man begräbt. Späterhin stellt sich jedoch heraus, daß noch einige andere das große Sterben überdauert haben. Die Leidtragenden sind Revenants und Dreimonatsleichen. Das Begräbnis gestaltet sich zu einem Festzug ähnlich demjenigen, der bei den eleusinischen Mysterien stattfand. Zur Rechten des Schauplatzes wird eine drückend empfundene Finsternis in Kisten verpackt. Zur Linken zeigt sich ein gleichfalls überlebender Dichtklub eifrig damit beschäftigt, die Verwesung zu registrieren und die phantastische Wirklichkeit zweckmäßig abzuschwächen.


Schon waren alle sich einig, da reichte der Verwesungsdirigent sein Rücktrittsgesuch ein. Es war just an dem Tage, an dem das letzte Begräbnis stattfand. Die Abgeschiedenen hatten sich vollzählig versammelt. Sie unterdrückten notdürftig ihren Geruch, schnallten sich die Unterkiefer fest und reichten Parfum herum. Den Pferdekadaver, der die Begräbniskutsche zu ziehen hatte, hüllten sie ein in ein Meßgewand, damit seine wurmreiche Blöße nicht aufdringlich möchte zu sehen sein.

Und der Zeremonienmeister des finsteren Vorganges erhob seine Stimme und las aus dem Festprogramm:


»Gott, dem Allmächtigen,

hat es gefallen,

unsere Urahne, Großmutter, Mutter und Kind,

Herrn Gottlieb Zwischenzahn,

von der Firma Zwischenzahn, Kiefer & Co.,

Wurst- und Fleischwaren en gros,

zu sich abzuberufen.«


»Hei schied er hen, dau schied er hen«, brummte der Chor.

»Des Verblichenen Hinschied ist mustergiltig. Allzeit war er ein treuer Diener der Kirche. Ihn begleitet die Kundgebung unseres unflätigen Beileids, die tief empfundene Schmerzovation seiner[404] Verwandten und Freunde, die in richtiger Erkenntnis der windigen Situation sich vor ihm bei Zeit aus dem Staube machten. Und bleibt noch hinzuzufügen, daß unter der Leitung des Verstorbenen die Wurstfabrik, die jetzt brachliegt, ehedem wurde ins Leben gerufen.«

Da setzte der Trauerzug sich in Bewegung, und der Verwesungsdirigent stieg auf das Podium und dirigierte zum letzten Mal. Und sein Famulus machte den Donner, auf einem Kuchenblech. Und während der duftende Zug in den Straßen verschwand, vernahm man die Worte der Chorybanten:


»Der da spät im Hafen landelt,

Abgebrüht und ganz verschandelt,

Mit dem Barte, dem vielgreisen

Lederportefeuille, stets auf Reisen –

Der da Schaf und Schwein getötet,

Umeinand' geschwerenötet,

Hin und her und selbst geschoben,

Abgesetzt und aufgehoben –

Fürchtet jetzt des Gauches Seele,

Daß die Dividende fehle?

Wird sein Geist im Geist erröten?

Er ging flöten, er ging flöten.«


Und der Pfarrherr stocherte mit dem Kirchenkreuz die Überbleibsel im Sarg zurecht, während der Famulus donnerte und der Verwesungsdirigent dirigierte:


»Bringen ihn allhier getragen

Platt auf einem Leichenwagen,

Daß der Korpus, der geschäft'ge

Nahrung sauge und sich kräft'ge.

Legen ihn auf Himmelsboden

Eingewickelt ganz in Quoten.

Knüpfen ihm die Weste leichter,

Seinem Hosenbein entsteigt er.

Salben ihm die Augen linde

Mit reichsdeutscher Adlertinte.

Über seinem müden Haupte

Schweb, was er zusammenklaubte.«
[405]

Siehe, da konnte man wahrnehmen, daß sich zur Rechten versammelt hatten die Kirchendiener der unteren Himmel. Sie trugen Kutten aus tolerantem Kaschmir und hohe Kappen aus Asche und waren damit beschäftigt, alle verfügbare Sonnenfinsternis einzupacken in Kisten. Denn die Luft war überladen damit, und man bekam Kopfweh. Einige auch dieser Dienstleute der schwarzen Schicht hatten den Kopf nicht bedeckt. Ihre Blechaugen schielten. Ihr Kopfhaar aus Zündholz klapperte, wenn sich beim Bücken der Wind darin fing.

Zur Linken aber hatte der Dichtklub »Üppiger Schenkel« seine Vibrationsmaschine aufgestellt, mächtige Katapulte, mit denen die leiseste Schwingung des Seelenlebens und der Verwesung aufzufangen und zu berechnen war.

Aber sie hatten auch die Waschmaschine der Banalisierung dabei, in die man von oben die Wirklichkeit stopfte, um sie mit Zahnrad und Quirl zu entwerten. Und da die Finsternis aller Augen blendete, nahmen einige die Gelegenheit wahr, ein wüstes erotisches Treiben zu entfalten. Schlamm, Mörtel und Steine schleppten sie herbei und buken daraus eine gigantische Vulva, Geburtsteil der Göttin Ta-hu-re.

Da hob der Verwesungsdirigent die Arme um drei Stufen höher, wies auf das hitzige Treiben und sprach: »Man nenne mir Namen und Herkunft dieser Gesellen.«

Und der Famulus hob das Kuchenblech als eine schwarze Sonne und sprach: »Habet Nachsicht, Herr, es sind Idealisten. Ihr merkt's an dem glühenden Seelenleben. Sie sind aus dem Zwielicht geboren und haben vergessen zu sterben. Jetzt dichten sie um den nackten Punkt.«

Und der Verwesungsdirigent hob die Arme abermals um drei Stufen höher, schneuzte sich, spuckte zur Rechten und Linken und sprach: »Sind Dekadente darunter? Transzendente Dekadente?«

»Nein«, sagte der Famulus, »es sind Nachtbuben darunter. Sie klettern auf das Denkmal des Dichtervaters Gleim und ruinieren die Aussicht.«

Und der Verwesungsdirektor sah genauer hin und sprach: »Sie scheinen es mit der Aktivität zu tun zu haben.«

»Ja, Herr«, sagte der Famulus, »sie sind sehr geschäftig mit ihrer Spille.« Er meinte aber damit die Waschmaschine der[406] Banalisierung. In diesem Augenblick aber verließ auch schon einer der vielen Gesellen den Bannkreis, kam näher heran, hielt die Opferbüchse hin und schrie: »Menschlichkeit in Wort und Schrift! Kostenlose Menschlichkeit!« Und andere drängten hinzu, rangen die nassen Tücher aus, die sie sich um die Köpfe gebunden hatten, und rezitierten ihre soeben erfundenen Sprüche und Späße.

Der Eine: »Sternenstirne meiner Dulderkrone«, und »Lampenkönig aus Jerusalem«. Der Andere: »Ich möchte eine Bemerkung machen: schon wenn du die steile Treppe betrittst ... Tritte betreppst ... Trette betrippst ...« Der Dritte: »Tapp tapp, mein Asthma, fahre hin, du Kutsche« und: »Hinter unseren Stirnen glühen die großen Abszesse.«

»Sie übertreiben, Herr«, versetzte der Famulus. »Ist im Grunde ein harmloses Völkchen. Mußt sie nicht deines Ärgers würdigen.«

Als aber einer ganz hinten, bei den Gerüsten, die Pfeife rauchte und sein Essay vorzulesen begann: »Von der Schönheit der ungelegten Eier«, da überkam den Verwesungsmeister die Ungeduld und er rief: »Grob, ungeschlacht und herausfordernd sind sie. Es paßt ihnen nicht, daß sie schuften sollen. Sie wollen den Platz an der Sonne. Gib ihnen einen Groschen für ihre Kollekte und einen Groschen für jenen dort, der das Klagelied bläst auf der Speiseröhre. Scheuch sie heraus, Serpent, aus ihren Löchern. Es schmerzt mich, sie so sitzen zu sehen.«

Da protestierten sie. Und entmutigt sagte der Famulus: »Sie wollen hier sitzen bleiben und ihre Großgehirnrinde verzehren. Mehr wollen sie nicht. Auch haben sie keine Beinkleider mehr. Sie haben alles geopfert bis auf das Hemd.«

»Wirf ihnen Abdul Hamids braune Hose zu!« resignierte der Meister, »und laß uns weitergehen. Da ist nicht zu helfen. Wahrlich, es könnte bei einiger Überreizung ihres Gemütes der Fall eintreten, daß sie mit Drohungen kommen, die Plempe uns an den Magen zu setzen, weil wir nicht Anstalten machen, ihre Erlebnisse aufzukaufen. Bei Gott, ein verwegener Menschenschlag!«[407]

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 404-408.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Tenderenda der Phantast
Tenderenda Der Phantast
Tenderenda der Phantast: Roman

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Papinianus

Papinianus

Am Hofe des kaiserlichen Brüder Caracalla und Geta dient der angesehene Jurist Papinian als Reichshofmeister. Im Streit um die Macht tötet ein Bruder den anderen und verlangt von Papinian die Rechtfertigung seines Mordes, doch dieser beugt weder das Recht noch sich selbst und stirbt schließlich den Märtyrertod.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon