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[121] Der Verfasser weiß, so sagte ich gelegentlich des Buches von Prinzhorn, daß die Aufstellung eines neuen Normbegriffes des Menschen nötig wäre, um seiner Publikation und der neuen Kunst überhaupt ihren Rang anzuweisen. Das ist ein Satz, der nachdenklich stimmt. Von welchem Normbegriffe geht die heutige Ästhetik und gehen, nachdem wir eine merkwürdige Verwandtschaft zwischen Arzt und Künstler festgestellt haben, die Seelenärzte, die Psychiater, aus? Aus der Fülle der Publikationen greife ich eine in Aschaffenburgs ›Handbuch der Psychiatrie‹ erschienene Schrift von Kurt Schneider (›Die psychopathischen Persönlichkeiten‹, Verlag Deuticke, Leipzig 1923). Seite 8 lese ich, daß der Künstler, »in dem später festzulegenden scharfen Sinne Psychopath sein muß«. Das Überdurchschnittliche sei mit dem Abnormen identisch. Man beginne, der Abartung nach oben wieder mehr Verständnis entgegenzubringen. Diese Psychopathen seien das Salz der Erde. »Wir halten uns«, so heißt es dann weiter, »an den quantitativen Normbegriff«.[121] Wir, das heißt die Mehrzahl der zeitgenössischen Seelenärzte. Nach dem Juristen Mezger muß man »jede Abweichung vom tatsächlichen Normaltypus, jede Abnormität, naturwissenschaftlich als krankhaft, als pathologisch ansprechen«. Bei Moebius heißt Kranksein »schädlich, unerwünscht, minderwertig sein«. Für Schneider sind Psychopathen »solche abnorme Persönlichkeiten, die an ihrer Abnormität leiden, oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet« (S. 16). Welche überragende Persönlichkeit leidet aber nicht an sich selbst, und an welcher solchen Persönlichkeit ›leidet‹ nicht die Gesellschaft? Es ist die Gefahr, daß das Leiden überhaupt als abnorm, als psychopathisch empfunden wird.

Zugegeben, daß sich der Durchschnittskliniker an eine quantitative, nach der Beschaffenheit der Majorität orientierte Norm halten muß. Nur sollten Theorie und Praxis dann auf den Durchschnitt beschränkt bleiben, einzig diejenigen Fälle umfassend, die der materiellen Norm entsprechen. Es gibt aber, wie Schneider selbst erwähnt, noch einen zweiten, teleologischen, einen Wertbegriff der Norm. Kant etwa hat zwei Arten der Norm unterschieden: nämlich die ›Normalidee‹, ein Gesamtbild der Gattung, eine Mitte zwischen Maximum und Minimum der Erfahrungstypen. Und im Gegensatze dazu den Idealtypus, die ›Vernunftidee‹. Es handelt sich bei ihr nicht mehr ums Durchschnittliche, Materielle, sondern ums Vorbildliche. Abnorm ist hier, was der Zweckerfüllung widerspricht; was in der biologischen Sphäre der Lebenserhaltung und Lebensförderung widerstreitet, und in der psychologischen Sphäre der Betätigung der Vernunft. Begriffe wie wahr, schön, gut erhalten erst damit ihren Sinn. – Was bei diesem zweiten Normbegriff überrascht, ist die Gleichsetzung von Psyche und Raison. Sie entstammt einer Zeit, in der man nur eine ›Vernunftseele‹ wollte gelten lassen, die ihren Endzweck individuell in sich selbst oder kollektiv im Staate findet. Das Irrationale gilt hier als abnorm und dem Psychiater für pathologisch, gleichviel, ob es der unter- oder der überbewußten, ob es der un- oder übervernünftigen Sphäre entstammt. Man weiß, daß Kant vor dieser Konsequenz nicht zurückschreckte, indem er das Gebet eine »leichte Anwandlung von Irrsinn« nannte.

Neben der biologischen und der psychologischen Sphäre findet[122] sich indessen noch ein dritter Erfahrungsbereich, den ich den pneumatischen nennen möchte. Sein ›Zweck‹ ist die Gottesliebe; seine Phänomene gehören der heiligen Sphäre an. Es gibt drei Normen: Leib, Seele und Geist. Es gibt drei Reihen von Tatsachen, drei Lebensweisen, drei wissenschaftliche Typen, deren Bereiche, wie sehr sie einander durchdringen mögen, doch auseinandergehalten und getrennt betrachtet werden können. Die Gnostiker sprachen von Soma, Psyche und Pneuma, das Mittelalter von körperlichen, seelischen und geistigen Tatsachen. Mercier in seiner ›Psychologie‹ (deutsch bei Kösel, München 1906) nennt ›Materie, Leben und Göttlichkeit‹. Von diesen drei Reichen, denen man zu allen Zeiten und unter den verschiedensten Namen begegnet, hat jedes sein Sondergesetz, und es gibt Typen, die jeder einzelnen Normalsphäre in Reinkultur angehören. Doch läßt sich auch ein menschlicher Typus der Mitte denken, der mit gleicher Neigung und gleichen Bezügen jedem einzelnen der drei Bezirke angehört und sie in sich zusammenschließt. Dieser Typus, der Psychiker, der Künstler, könnte als die Norm des Menschen gelten; der Künstler nämlich seiner selbst, die Persönlichkeit. Es bedarf nur eines Blickes in die Literatur, um zu erkennen, daß unsere Zeit die Kantsche Gleichung von Psyche und Raison verwirft; daß sie die psychische Sphäre mit neuen Inhalten und Funktionen zu erfüllen sucht und sich dabei aller Vermengung von Seele und Geist widersetzt, freilich, ohne den Geist und die Vernunft sehr anders als nach kantischer Weise zu definieren. Bei einer Erweiterung der biologischen Welt nach der Tiefe hin stieß man auf Tatsachen, die immer dringender nach Abgrenzung verlangen. So steht man vor der Entscheidung, ob man auf die Begriffswelt ganz verzichten oder den Ausweg gehen will, sie dem Heiligen und der Kirche zuzuweisen.

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 121-123.
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Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften
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