Hugo Ball

Die junge Literatur in Deutschland

[32] Der Kampf, den die junge Literatur in Deutschland heute zu führen hat, geht um die Bildung einer oppositionellen Partei. Opposition gegen die hier wie in keinem Lande allmächtige Bourgeoisie; Opposition gegen den krassen Materialismus in Leben, Kunst, Politik, Presse; Opposition gegen die offizielle Oppositionspartei (die Sozialdemokratie): das sind die Aufgaben, die sich die junge Literatur von heute mehr und mehr zu Bewußtsein bringt.

Die Situation ist schwierig. Zunächst: Es fehlt jede Tradition. Dreierlei hat man in Deutschland noch nicht genügend begriffen: Erstens, daß die verantwortlichen Denker der letzten fünf Jahrzehnte, Bakunin und Nietzsche, den Deutschen als Typus ablehnten. Daß man sich also in einem Lande befindet, das vor Europa und vor aller Intellektualität (Radikalität) kompromittiert ist. Zweitens, daß man in Dingen politischer Intelligenz seit den Dekabristen (1825) von Rußland zu lernen hat statt von Frankreich. Drittens, daß es in Deutschland trotz hunderttausend Büchern, Zeitschriften und Bibliotheken so etwas wie ein öffentliches geistiges Leben, das heißt unmittelbare Ausprägung dessen, was man denkt und fühlt (auf dem Podium, in der Versammlung, in der Tagespresse) noch nicht gibt.

Wenn man den Deutschen vorwirft, daß sie ihren Nietzsche (und dessen vielgliedrige Kritik der Moral, der Philosophie, der Religion, des Idealismus) nicht verstanden haben, so zitieren sie den »Zarathustra« (das nutzloseste Buch, das einer geschrieben hat) und den »Willen zur Macht«, statt »Ecce-homo«, »Morgenröte« und den »Fall Wagner« (sie zitieren immer, was ihnen gerade in den Kram paßt). Wenn man sie nach Bakunin frägt, so wissen sie, daß bei Cotta in Stuttgart der Briefwechsel mit Herzen und Ogarjeff erschienen ist. Das pamphletisch-antigermanische »l'empire knoutogermanique« ist noch in keiner, selbst der schlechtesten Übersetzung zu erhalten; die Biographie Nettlaus nur in einem Abriß.

Die Bücherei »Vorwärts« ihrerseits (marxistisch wie sie ist) tut alles, um die bakunistische Theorie, und was schlimmer ist: die[32] bakunistische Praxis, ad absurdum zu führen. Eine Sozialrevolutionäre Partei aber gibt es heute in Deutschland nicht. Revolutionäre Propaganda in Deutschland ist ein Unding. Vor allem fehlt es an einem radikal kultivierenden Verlag. Es gibt keinen Verlag in Deutschland, der nur oppositionelle Literatur aufnimmt. Oppositionelle Blätter wie die »Aktion« (Herausgeber Franz Pfemfert, Wilmersdorf, Nassauische Str. 17), das Organ der Jüngsten, Stärksten, Kritischsten, behaupten sich mit Mühe und unter nahezu vollkommener Ignoranz.

Damit im Zusammenhang steht die Richtung auf das Ästhetisierende, Formale, Dekorative, von der die jüngste Literatur noch immer beherrscht ist: Sympathie und Tendenz mit und nach Frankreich. Radikale politische Lektüre muß sich der junge Deutsche mühsam zusammensuchen aus polemischen Schriften der ›Vorwärts‹-Offizin! Eigene radikale Bücher schreibt der junge Deutsche nicht, einmal, weil er keine Muster hat, kein eigentlich öffentliches Leben von Bedeutung und Widerspruch vorfindet; sodann, weil er auch keinen Verleger fände, der sich seiner Produktion annähme, und dieser Verleger wiederum kein Publikum (kurz, weil jede Voraussetzung fehlt). So neigt der junge Literat zu Frankreich; das, müde der großen Vergangenheit, mehr und mehr die Tradition von 1789 verliert; zu einem Frankreich, als dessen oppositionellen Extrakt der Verlag Diederichs in Jena die im besten Falle antiprussianische »Armee francaise« des Jaurès anbietet; zu Frankreich, dessen ästhetische Kultur ihm die notwendigere politische ersetzen muß.

Der Gewinn ist eine ästhetisch-antibourgeoise, von Flaubert her orientierte Gesinnung. Das Resultat: etwa Heinrich Manns undeutsche Romane oder die Komödien Carl Sternheims (»Die Hose«, »Bürger Schippel«, »Snob«, »1913«), entzückend geschliffene, kristallklare Komödien »aus dem bürgerlichen Heldenleben« mit viel begeistertem Spott gegen den verschollenen deutschen Raubritterheroismus, gegen veilchenblaues Banausentum. Komödien, von denen sich indessen schon das großbürgerlich-»weltpolitische« Berliner Tageblatt nicht mehr getroffen fühlt.

Drittens: hat es bis jetzt für die junge deutsche Literatur so etwas wie ein öffentliches Leben noch nicht gegeben. Es sind noch keine 10 Jahre her, daß in Berlin eine gewisse Propaganda[33] des öffentlichen Ausdrucks einsetzte (unterm Einfluß nihilistisch erzogener russischer Frauen). Man wurde, mehr und mehr, der Meinung, es komme alles darauf an, nicht nur zu denken und zu fühlen. Wichtiger als »Literatur« sei das Eingreifen, das Sich-Beteiligen an der Öffentlichkeit. Wichtiger als Verse, Aufsätze, Dramen irgendwelcher Art sei das Ausprägen etwelcher Gedanken coram publico, sei es im Vortragssaal, mit der Reitpeitsche oder in der Debatte. Man dachte an Manifeste, wo man früher Gedichtbände und Romane veröffentlichte. Man veranstaltete jetzt Abende auf eigene Faust unter Umgehung der Zeitschriften. Man trieb Polemik, Propaganda und schrieb (dies alles erst in den letzten Jahren) »Aufrufe an die Partei des deutschen Geistes«. Eine neue Art von Publizistik, sehr fanatisch und direkt, schien sich vorzubereiten. Leider noch außer Kontakt mit der proletarisch-ökonomischen Situation, aber doch tastend danach. Bezeichnend scheint mir die Tatsache zu sein, daß nach Ausbruch des Kriegs die ihrer Herkunft nach bürgerliche Intelligenz dringenden Anschluß suchte bei Gustav Landauer, dessen müde gewordener, degoutierter Kämpfernatur es nach persönlichen Erfahrungen des Unterzeichneten nur an Blick für die in ihren Überzeugungen irre gewordenen bürgerlichen Elemente fehlte. Bezeichnend scheint mir auch, daß die junge bürgerliche Intelligenz es war, von der im Februar dieses Jahres, als das Fortbestehen der Berliner »Freien Volksbühne« in Frage stand, ein Aufruf für Erhaltung des proletarischen Gründungsgedankens dieses Theaters ausging. Der Krieg hat eine Annäherung der intellektuellen Elemente zu den proletarischen eingeleitet. Die Gemeinsamkeit liegt in der Opposition gegen den Krieg, gegen den Patriotismus. Der Krieg hat darüber hinaus aber auch die ökonomische Deklassierung der Intelligenz angebahnt, eine Tatsache, von der noch manches zu erwarten ist. Der junge Literat bürgerlicher Herkunft findet heute keinen Boden und kein Publikum mehr. Irgendwie empfindet er in Lebensfragen realer, radikaler als je. Irgendwie gerät er dadurch mit der Kriminalität in Konflikt. Irgendwie fühlt er sich ohne Schutz und Subsistenz. Er vertreibt sich die Zeit mit Psychoanalyse und neigt zur Hochstapelei. Er stänkert in 20 Berufen und zieht sich zurück, um überhaupt zu verzichten.[34]

Wie die Dinge heute liegen, ist nur zu wünschen, daß die Situation sich noch verschlimmert. Denn nur so kann in Deutschland die Verbindung zwischen Proletariat und Intelligenz zustande kommen, die fehlt und nottut, wenn auf der einen Seite nicht lächerlichste Anmaßung, auf der andern ein geistig unzulängliches Führertum die Folge sein soll.[35]

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 32-37.
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