V. Die Bühnenkomposition und die Künste

[52] Im ›Blauen Reiter‹ hat Kandinsky eine Kritik des Wagnerschen ›Gesamtkunstwerks‹ geschrieben zugunsten des Monumental-Kunstwerks der Zukunft. Seine Kritik richtet sich gegen die Veräußerlichung jeder einzelnen der von Wagner zum Gesamtkunstwerk herangezogenen Künste, die nur zur Steigerung des Ausdrucks, zur Unterstreichung und Bekräftigung des Ausdrucks, zuwider den ihnen immanenten Kunstgesetzen verwandt wurden. Kandinskys Idee einer monumentalen Bühnenkomposition geht von entgegengesetzten Voraussetzungen aus. Ihm schwebt ein Gegeneinander der einzelnen Künste, eine symphonische Komposition vor, in der die einzelnen auf ihr Wesentliches zurückgeführten Künste als Elementarformen nur die Noten abgeben zu einer Konstruktion oder Komposition auf der Bühne, die jede der einzelnen Künste als selbstständiges Darstellungsmaterial gelten läßt und aus der Mischung dieses gereinigten Materials ein neues Kunstwerk das Monumentalkunstwerk der Zukunft schafft. In zwei solchen Bühnenkompositionen, dem im ›Blauen Reiter‹ gedruckten ›Gelben Klang‹ und dem noch ungedruckten ›Violetten Vorhang‹, hat Kandinsky seine Theorie praktisch erfüllt. Vielleicht nur schematisch erfüllt. Sein in dieser Form vielleicht relatives Talent besagt nichts gegen die Genialität der ideelen Konzeption, die selbst Schriftstellern von der Abgewogenheit Ibsens, Maeterlinks, Andrejews gegenüber eine starke, umstürzende Gewalt erweisen würde, wenn man sie endlich mit Liebe einmal auf die Bühne brächte.[52]

Die Bühnenkomposition nach Kandinsky soll bestehen aus:

1. musikalischer Ton und seine Bewegung,

2. körperlich-seelischer Klang und seine Bewegung, durch Menschen und Gegenstände ausgedrückt,

3. farbiger Ton und seine Bewegung (eine spezielle Bühnenmöglichkeit).

Was Kandinsky unter dem ersten und dritten Punkt versteht, ist nach allem Vorangegangenen klar. Über den körperlich-seelischen Klang und seine Bewegung durch den Menschen und Gegenstände, also über den Tanz (im weitesten Verstande), schreibt er: »Eine sehr einfache Bewegung, von welcher das Ziel unbekannt ist, wirkt schon an und für sich als eine bedeutende, geheimnisvolle, feierliche. Auf diesem Prinzip sollte und wird der ›neue Tanz‹ gebaut werden, der das einzige Mittel ist, die ganze Bedeutung, den ganzen inneren Sinn der Bewegung in Zeit und Raum auszunützen. Wir stehen vor der Notwendigkeit der Bildung des neuen Tanzes, des Tanzes der Zukunft. Dasselbe Gesetz der unbedingten Ausnützung des inneren Sinnes der Bewegung, als des Hauptelementes des Tanzes, wird auch hier wirken und zum Ziele bringen. Ebenso wie in der Musik oder in der Malerei kein ›häßlicher‹ Klang und keine äußere ›Dissonanz‹ existiert, so wird bald auch im Tanze der innere Wert jeder Bewegung gefühlt und es wird die innere Schönheit die äußere ersetzen. Den unschönen Bewegungen entströmen sofort eine ungeahnte Gewalt und lebendige Kraft. Von diesem Augenblick an beginnt der Tanz der Zukunft.«

Bei Piper hat Kandinsky eine Sammlung Gedichte erscheinen lassen, die er ›Klänge‹ nennt. Als der Erste auch in der Poesie hat Kandinsky rein spirituelle Vorgänge dargestellt. Mit den einfachsten Mitteln gestaltet er in den ›Klängen‹ Bewegung, Wachstum, Farbe und Ton, etwa in ›Fagott‹. Die Negierung der Ilusion geschieht hier noch durch Gegeneinanderstellen sich aufhebender Illusionselemete, die der konventionellen Sprache entnommen sind. Nirgendwo, auch bei den Futuristen nicht, hat man eine ähnlich kühne Purifikation der Sprache versucht. Und Kandinsky ist auch den letzten Schritt noch weitergegangen. Er hat im ›Gelben Klang‹ als Erster den abstraktesten Lautausdruck, der nur aus harmonisierten Vokalen und Konsonanten besteht, gefunden und angewandt.[53]

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 52-54.
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