615. Der Vieting im Sonnenberg bei Parchim.

[440] Vor vielen, vielen Jahren machte eine große Räuberbande den Sonnenberg bei Parchim unsicher. Ihr Hauptmann nannte sich Vieting. Zu ihrem Aufenthalte hatte sie sich eine Höhle in dem Hügel, der von ihrem Anführer noch heute den Namen ›Vieting‹ trägt, erwählt. Nicht weit von diesem Hügel führt der Stolper Weg durch den Wald. Um in ihrer Höhle hören zu können, wenn Jemand den Weg passirte, hatten sie folgende Vorrichtung getroffen. In ihrer Höhle war eine kleine Glocke befestigt. Von dieser führte ein Draht durch den Berg und von dort über den Weg. Im Wege selbst war er[440] mit Zweigen und Erde bedeckt, so daß Niemand es merken konnte, wenn er darauf trat. Ging oder fuhr Jemand über jene gefährliche Stelle, dann läutete die Glocke im Berge. Auf dieses Zeichen stürzten die Räuber aus ihrer Höhle, überfielen und tödteten die Wanderer. Lange hatten sie schon ihr Unwesen im Walde getrieben, ohne daß man sie fangen konnte. Da endlich wurde ihr Aufenthalt durch folgenden Vorfall verrathen.

Einst ertönte wieder die Glocke im Berge. Vieting eilte mit seinen Gesellen nach dem Wege. Sie fanden dort ein Mädchen, das, die Nähe der Räuberschaar nicht ahnend, sorglos durch den Wald zur Stadt ging. Die Räuber wollten sie tödten wie alle Gefangenen, die sie gemacht hatten. Vieting jedoch, durch die Schönheit und die Jugend des Mädchens zur Milde gestimmt, nahm es in seinen Schutz, verwies seine Genossen zur Ruhe und führte die Gefangene in seine Höhle. Dort mußte sie den Haushalt der Räuber besorgen. Nach einiger Zeit waren die Vorräthe der Räuber aufgezehrt. Sie selber wagten nicht nach der Stadt zu gehen. In ihrer Noth beschlossen sie, das Mädchen zur Besorgung der Einkäufe nach Parchim zu schicken. Bevor Vieting es aber entließ, mußte es ihm schwören, keinem Menschen den Aufenthalt der Räuber verrathen zu wollen. Das Mädchen begab sich zur Stadt und besorgte die Aufträge. Als es wieder aus dem Thore hinausging, blieb es bei dem Schlagbaume, den eine Schildwache öffnete und schloß, stehen und sagte:


›Slagbom, ik klag di,

Vieting, de plagt mi;

Wenn du mi hebben wist,

Denn folg mi up den Arwten na.‹


Dann setzte es seinen Weg fort und bezeichnete seine Spur durch Erbsen, die es zu diesem Zwecke eingekauft hatte. Die Schildwache hatte des Mädchens Worte gehört und theilte sie allen Vorübergehenden mit. Man folgte der Erbsenspur in den Wald. Vieting und seine Bande wurde gefangen genommen und hingerichtet. Die Höhle schüttete man zu. Nur die kraterartige Vertiefung oben auf dem Vietingshügel zeugt noch davon, daß einst eine Höhle in dem Berge war.


Stud. W. Harm; vgl. Niederh. 1, 98 f.; WS. 26a. Schwartz S. 140.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 440-441.
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