644. Die Kindesmörderin von Groß-Lukow.

[460] Zu Groß-Lukow, dreiviertel Meilen von Penzlin, wurde vor Jahren ein Mädchen hingerichtet, weil sie ihr Kind gemordet hatte. Wie sie nun auf den Richtplatz geführt war und der Scharfrichter seinen Streich vollziehen will, haut er des Mädchens Schulter statt den Kopf ab. Das Mädchen gibt keinen Laut des Schmerzes von sich. Hierauf erklärt der Scharfrichter, er müsse das hohe Gericht fragen, weil jetzt drei Köpfe vor seinen Augen seien, welchen er hievon nehmen solle. Er erhält die Antwort, den in der Mitte. Und er schlägt auch den Kopf ohne weitern Fehlschlag runter. Hieraus wurde geschlossen, es müsse eine Doppelmörderin sein. Da sie nun dem weltlichen Gerichte ihren Doppelmord nicht bekannt hatte, so soll sie lange Jahre auf dem Richtplatze umhergeirrt und den Weg zwischen Groß-Lukow und Marin unsicher gemacht haben. Einst kommt der Pastor von Marin gefahren, welcher da eine Kindtaufe gehalten und sich bis nach elf Uhr aufgehalten hatte. Der Pastor, langsam fahrend, singt sein Abendlied ›Nun ruhen alle Wälder‹. Grade ist er mit seinem Gesang an der Stelle ›Wo bleibt denn Leib und Seel?‹ Dies frägt aber eine helle Frauenstimme vom Richtplatze her. Der Pastor singt nun weiter ›Nimm sie zu deiner Gnade‹. Seitdem soll die Kindesmörderin Keinem mehr begegnet sein.


Weber Grapenthien in Penzlin; vgl. Niederh. 1, 55 ff.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 460-461.
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