I.

[112] Von diesem schrecklichen Gefilde,

Das nie ein sterblich Aug erblickt,

Hat ein verweht und zart Gebilde

Noch diesen Morgen mich entzückt.


Der Schlaf ist reich an Wunderträumen!

Durch einer Laune fremdes Spiel

Bannt ich aus den erschauten Räumen

Der Pflanzen regellos Gewühl.


Im Bild, das stolz mein Geist sich malte,

Erfreute sich mein kühnes Herz

An ewger Öde, die erstrahlte

Von Wasser, Marmelstein und Erz.


Es war ein Babel von Arkaden,

Ein niemals endender Palast,

Reich an Bassins und an Kaskaden,

Von Schalen matten Golds gefaßt;


Und Wasserfälle, niederschießend

Gleich einem Vorhang von Kristall,

Sie hingen schwer, ihr Licht ergießend,

An steilen Mauern von Metall.


[112] Nicht Bäume sondern Kolonnaden

Umgaben schlummerstille Seen,

Wo die gigantischen Najaden

Wie Frauen sich im Spiegel sehn.


Es breiteten sich blaue Teiche

Entlang den grün und rosgen Strand,

Durch tausend nie ermeßne Reiche,

Bis an der Erde fernsten Rand.


Es waren nie erschaute Steine

Und eine magisch-fremde Flut,

Gewaltge Spiegel, hell vom Scheine

Der Wunder, die darin geruht.


Weltströme wie der Ganges flossen

Verstummt im Ruhn des Ätherblaus,

Und ihrer Urnen Schätze gossen

Sie in demantne Schlünde aus.


Ich ließ, des Feeenreichs Erbauer,

Durch eines Tunnels nächtgen Gang,

Mit edelsteingeschmückter Mauer,

Das Weltmeer gehn, das ich bezwang.


[113] Geschliffen, schillernd und geglättet

War selbst der schwärzen Farben Nacht,

Stolz prangend in die Flut gebettet,

Erleuchtet in kristallner Pracht.


Sonst keine Sterne, keine Flammen

Der Sonne, selbst am Himmelsrand,

Die Dinge all, die wundersamen,

Durchleuchtete ihr eigner Brand.


Und über dieser Welt verloren,

Lag – neuer Schrecken: endlos weit

Dem Auge alles, nichts den Ohren –

Ein Schweigen wie die Ewigkeit!

Quelle:
Baudelaire, Charles: Blumen des Bösen. Leipzig 1907, S. 112-114.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Blumen des Bösen (Auswahl)
Die Blumen des Bösen
Les Fleurs du Mal /Die Blumen des Bösen: Franz. /Dt
Die Blumen des Bösen: Französisch/Deutsch
Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen: Französisch/Deutsch
Die Blumen des Bösen

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol, ein »Hypochonder der Liebe«, diskutiert mit seinem Freund Max die Probleme mit seinen jeweiligen Liebschaften. Ist sie treu? Ist es wahre Liebe? Wer trägt Schuld an dem Scheitern? Max rät ihm zu einem Experiment unter Hypnose. »Anatols Größenwahn« ist eine später angehängte Schlußszene.

88 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon