[296] Baron Ringelstern. Unruh.
UNRUH. Befehlen Euer Gnaden sonst etwas?
BARON. Nichts, mein Freund, als den Mangel deiner Gesellschaft.[296]
UNRUH. Ich bin der neue Lohnlokai, erst heute eingestanden.
BARON. So?
UNRUH. Betrachten mich der Herr Baron doch gefälligst ein bißchen.
BARON. Nun?
UNRUH. Kennen Sie mich denn gar nicht?
BARON. Habe nicht die Ehre.
UNRUH. Habe doch so manches Merkmal von Dero hochfreiherrlichen Gunst und Ungunst erfahren.
BARON. Du?
UNRUH. Allerdings. Erinnern sich Euer Gnaden des Knaben nicht mehr, den Ihr Herr Vater studieren ließ, und der, halb gewachsen und halb studiert, davonlief?
BARON. Alle Wetter! Du bist –
UNRUH. Heinrich – Heinrich Unruh.
BARON. Mein Vater behauptete, du seist ein Genie.
UNRUH. Das fürcht' ich leider auch.
BARON. Ich hielt dich für einen Taugenichts.
UNRUH. So ein Anschmack von beiden.
BARON. Bursche, was ist aus dir geworden?
UNRUH. Ein Philosoph.
BARON. Und ein Lohnlakai?
UNRUH. Philosoph für die Welt!
BARON. Du hast Kopf. Du konntest etwas leisten.
UNRUH. Ich nütze in meinem bescheidenen Wirkungskreise. Bürstet ihm den Rock ab.
BARON. Wo triebst du dich bis jetzt herum?
UNRUH. In halb Europa.
BARON. Und was machtest du?
UNRUH. Anfangs Schulden, dann Verse.
BARON. Bravo! Du warst ein Dichter?
UNRUH. Romantiker, zu dienen. Dann ward ich Schauspieler. Aber ich zeigte kein Talent zum Rollenlernen. Hierauf bildete ich mich zum Pädagogen aus.
BARON. Du? Pädagog? Heiliger Salzmann und Pestalozzi!
UNRUH. Über das Erziehungswesen hab' ich meine eigenen Ansichten.
BARON. Das will ich glauben.
UNRUH. Sehen Sie, gnädiger Herr, ich behaupte, ein weiser Mentor ist heutzutage gar nicht nötig. Unsere Jugend wird ernsthaft und altklug geboren und ebenso erzogen. Mit sechs Jahren lernen die Buben Griechisch und die Mädchen Englisch; mit acht Jahren spielen beide Geschlechter Whist, mit zwölf Jahren lesen sie[297] die Zeitung. Wenn die Jünglinge und Mädchen zusammenkommen, sei's auch im Mondenschein, so schwärmen sie längst nicht mehr; über Werther und Lotte machen sie sich nur lustig; dagegen diskutieren sie vom Kurs, von Militär- und Zivilbeförderungen, von Politik; bekümmern sich um jeden Ministerwechsel, wissen die neunundneunzig belgischen Protokolle auswendig. Diese leidige Politik tötet das Leben und verdirbt alle Lust an dummen Streichen, die nicht politischer Natur sind. Darum behaupte ich: die Aufgabe eines Hofmeisters heutiger Zeit ist es, in seinem ernsthaften politischen Zögling den ursprünglichen Hang zur Torheit, und so die rein menschliche Natur wieder zu erwecken. So zog ich denn als Kotzebuescher Edukationsrat überall im Lande herum; aber die Welt verkannte mein edles philantropisches Bestreben, und die Behörden ließen mich einsperren.
BARON. Armer Reformator!
UNRUH. Der Trieb lag einmal in mir. Da man mir die Jugend nicht anvertraute, machte ich mich über die ganze Menschheit her. Ich redigierte ein kritisches Journal, ich rezensierte.
BARON. Ich ahne Schlimmes!
UNRUH. Zuerst wurde Goethe beim Kopf genommen. Ich bewies, daß ihm der Mittelpunkt fehle.
BARON. Was heißt das?
UNRUH. Ich weiß es selbst nicht recht, aber die Leute nahmen es gut auf. Ich sprach ferner von Goethes verknöcherter Poesie, von dem Mangel einer höchsten Idee usw. Werther hieß mir ein Narr, Egmont ein Egoist, Iphigenie und Tasso waren kalt wie Eiszapfen.
BARON. Glaubtest du denn an all' den Unsinn?
UNRUH. Ich? Kein Wort. Aber ich kannte die Schadenfreude der Menschen. Sie haben nichts lieber, als wenn man sich über ihre Lieblinge lustig macht. Meine Blätter gingen ab wie warme Semmel. Das machte mich immer kühner. Da ich das Schimpfen einmal zu meinem Metier erwählte, so blieb kein berühmter Mann von mir unverschont. Aus Mangel an Stoff mußte ich endlich an die unberühmten rühren. Das gab mir den Todesstoß. Erst regnete es Antikritiken, dann – noch etwas. Diese schmerzlichen Erfahrungen und der Verlust meiner Abonnenten gaben mir Veranlassung, mich wieder ins Privatleben zurückzuziehen. Ein vornehmer Mann trug mir an, ihn auf seinen Reisen zu begleiten. Es war ein recht freundschaftliches Verhältnis. Ich besorgte die Wirtshausrechnungen, die Pferde, machte sogar die Kleider und Stiefel meines Freundes rein –
BARON. Das heißt: du warst sein Bedienter.[298]
UNRUH. So etwas dergleichen. Aber diese beschränkte Existenz sagte meinem Geiste nicht zu. Ich fühlte mich getrieben, mehr ins große, ins allgemeine zu wirken. Ich ward Lohnlakai. Das ist ein Amt, welches Kenntnis der Welt und hohe Bildung erfordert.
BARON. Ein Lohnlakai! Das erste, was ich höre!
UNRUH. Ganz gewiß. Denn sehen Sie, gnädiger Herr, ein großes Hotel ist eine Welt im kleinen. Da kommen Deutsche und Franzosen, Engländer und Spanier, Beamte und Kaufleute, Gelehrte und Müßiggänger, kluge Leute und Narren, ehrwürdige Matronen und lustige Dämchen – reich und arm, alt und jung, schön und häßlich, schlau und dumm – da gilt es: die Nationalitäten zu studieren, die Charaktere, Geschlechts- und Standesverschiedenheiten – jedes hat Absichten, Plane, spinnt Intrigen – alle wenden sich an den Lohnlakai – er ist die Seele dieses Mikrokosmus.
BARON. Vortrefflich! Du solltest ein Buch schreiben: »Das Ganze des Lohnlakaitums«. – Aber jetzt, mein gelehrter Herr Studiosus, Romantiker, Schauspieler, Pädagog, Kritiker, Philosoph und Lohnlakai, entfernen Sie sich gefälligst, denn ich sehe dort eben den erwarteten Freund durch die Allee herbeieilen.
UNRUH. Sehr wohl, Euer hochfreiherrlichen Gnaden. Vergessen Sie nur Ihren ergebensten Unruh nicht, der sich Ihnen hiermit bestens zu allen möglichen Diensten empfiehlt. Ab.
Buchempfehlung
Der in einen Esel verwandelte Lucius erzählt von seinen Irrfahrten, die ihn in absonderliche erotische Abenteuer mit einfachen Zofen und vornehmen Mädchen stürzen. Er trifft auf grobe Sadisten und homoerotische Priester, auf Transvestiten und Flagellanten. Verfällt einer adeligen Sodomitin und landet schließlich aus Scham über die öffentliche Kopulation allein am Strand von Korinth wo ihm die Göttin Isis erscheint und seine Rückverwandlung betreibt. Der vielschichtige Roman parodiert die Homer'sche Odyssee in burlesk-komischer Art und Weise.
196 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro