117. Die Pferde aus dem Bodenloch

[97] Zu Köln nahe dem Eingange der Kirche zu den heiligen zwölf Aposteln war ein Gemälde zu schauen, das stellte eine gar absonderliche Geschichte dar. Es war ein Bürgermeister daselbst, hieß Richmuth von Andocht, dem starb sein Eheweib und ward begraben, und da man am Grabe den Sarg nochmals öffnete, wie es sonst üblich war, und über der Leiche betete, so sahe der Totengräber, daß die Frau einen großen goldnen Ring am Finger hatte, mit Edelsteinen wohl geziert. Da wurde in dem Totengräber die Gier lebendig, zur Nacht das Grab wieder zu öffnen und der Leiche den Ring zu stehlen. Aber wie er das tat, drückte die Leiche ihm die Hand zusammen, denn sie war nicht tot, sondern lebend begraben, und wollte sich aus dem Sarge helfen. Eilend entfloh voller Schreck der Totengräber, die Begrabene aber wickelte sich aus den Grabtüchern los, trat aus dem Grabe und ging auf ihr Haus zu, klopfte und befahl dem Diener, zu öffnen, sie sei es. Der Diener vermeinte ein Gespenst zu sehen und zu hören und lief eilend zu seinem Herrn, ihm die Begebenheit zu melden, und stammelte: Ach Herr! Unsere Frau – drunten vorm Hause steht sie leibhaftig und will, daß ich ihr auftue. – Du bist[97] ein Narr, antwortete der Bürgermeister, Herr Richmuth von Andocht. Ebenso wahr könntest du sagen, meine Schimmel stünden droben auf dem Heuboden. – Kaum hatte er das Wort ausgeredet, so erhob sich von unten nach oben ein grausamer Tumult, und als der Diener nachsah, so standen schon die sechs Kutschenpferde oben, ohne die andern, die noch nachkamen. Der Bürgermeister war ganz starr vor Schreck und glaubte nun, und die Frau ward eingelassen und ihrer mit warmen Tüchern und Arzeneien wohl gepflegt, daß sie sich wieder erholte. Am andern Tage schauten zu jedermanns Verwunderung die Pferde aus den Bodenlöchern heraus, und man mußte große Gerüste und Maschinen anwenden, um sie nur wieder herunter in den Stall zu bringen. Darauf wurden einige Pferde ausgestopft, die mußten zum Andenken auch fürder oben herausschauen. Und die Frau lebte noch sieben Jahre lang und spann und webte einen schönen großen Vorhang von weißem Linnen, den sie in die Apostelkirche verehrte.

Solche Sage ist an mehr als einem Orte gangbar, unter andern auch in der vormaligen alten Reichsstadt Schweinfurt, wo die Frau des Syndikus Albert Angetraute war, die als Wöchnerin beerdigt worden, und die der Totengräber durch seine Raubsucht erweckte, doch lebte sie samt ihrem Kindlein nicht lange, und ihr Grabmal wird noch auf dem Schweinfurter Gottesacker gezeigt.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 97-98.
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